In Honduras verdienen immer mehr Menschen ihren Lebensunterhalt mit Recycling

Perspektiven aus dem Müll

Immer mehr Menschen verdienen in Honduras ihren Lebensunterhalt durch Recycling. Invema, das wohl größte Recyclingunternehmen der Region, hat 14 000 Lieferanten. In San Pedro Sula werden Metalle, Pappe und Plastik sortiert, exportiert und auch weiterverarbeitet.

Elía Antonio Zelaya hat den Scheck eingesteckt und schlendert zufrieden zu seinem Pickup-Truck auf dem Hof von Invema. Das Recyclingunternehmen in San Pedro Sula, der Industriemetropole von Honduras, ist regelmäßiger Anlaufpunkt für den 62jährigen. »Müll sammeln und trennen ist für mich und viele andere die einzige Chance, um in Honduras zu überleben«, erzählt Zelaya. »Wir liefern Wertstoffe – und ich liefere immer an Invema.«

Jeden Tag ist er mit seinem Pickup unterwegs und sammelt Blech, Alu­dosen, Papier und Plastikflaschen. Zwei- bis dreimal pro Woche fährt er mit seinem hochbepackten Pickup bei Invema vorbei, gibt ab, was er gesammelt hat, und lässt sich das Geld per Scheck auszahlen. »Barauszahlung ist mir zu riskant«, sagt der hagere Mann mit Baseballmütze. Honduras gehört zu den gefährlichsten Ländern der Region, auch in San Pedro Sula sind Raubüberfälle alles andere als selten.

Entsprechend vorsichtig sind viele der rund 14 000 recicladores, die Invema beliefern. Rund 10 000 von ihnen tun das regelmäßig, sagt Angela Fajardo. Sie ist mit ihrem Team für den Ankauf von recyceltem Material zuständig, kümmert sich inzwischen aber auch um den Verkauf von Plastikprodukten aus recyceltem Material wie Salatboxen und Folie. Der Sprung vom exportierenden Recyclingunternehmen zum verarbeitenden Recycler ist eher untypisch, so die 31jährige. Nach wie vor exportiere das Unternehmen gesammeltes Aluminium, Buntmetall und Stahl zur Weiterverarbeitung nach Brasilien, Asien oder in die USA. »Aber beim Plastik sind wir einen Schritt weiter«, sagt Fajardo. »Da läuft seit drei, vier Jahren die Ver­arbeitung hier bei uns in den Werkhallen von Invema.«

In der Nähe von Puerto Cortés, dem wichtigsten Hafen des Landes, spülen mehrere Flüsse riesige Mengen Müll in den Río Motagua. Hunderte Tonnen Abfälle ergießen sich in die Bucht von Omoa.

Von der Aludose zur plastikproduzierenden Anlage
Der Verantwortliche für den Sprung vom Lieferanten zum Produzenten, George Gatlin, sitzt im Büro über Angela Fajardo. Der 47jährige kräftige, gepflegte Mann mit der Glatze ist Gründer und Inhaber von Invema. Er ist Sohn eines US-Amerikaners, der in San Pedro Sula lebt. Als George Gatlin kurz vor dem Highschool-Abschluss stand, überraschte ihn sein Vater mit dem Verkauf des familieneigenen Holzhandels. »Damals wurde mir klar, dass ich meinen eigenen Business-Plan machen musste, und dabei gab mir ein Kommilitone den entscheidenden Tipp«, erinnert sich Gatlin. Er riet ihm, ins Re­cycling von Aludosen einzusteigen. Man könne sie in Honduras sammeln und in die USA verkaufen.

Im März 1994 kaufte Gatlin einen Lastwagen und eine Presse für die Aludosen und klapperte mit zwei, drei Mitarbeitern die Dörfer im Hinterland von San Pedro Sula ab, um die Besitzer von kleinen Supermärkten zum Sammeln der Dosen zu bewegen. »Wir boten zwei Lempira pro Pfund Aluminium (nach heutigem Wechselkurs etwa sieben Euro-Cent, Anm. d. Red.) und die Leute hielten uns für komplett verrückt«, erinnert sich Gatlin. »Diese Idioten wollen für Müll Geld bezahlen, dachten sie sich und rührten keinen Finger.« Erst als Gatlin noch einmal auftauchte, Geld auf den Tisch legte und sein Angebot erneuerte, begannen die Leute schließlich, sein Angebot ernst zu nehmen – und für ihn Material zu sammeln.

Seitdem hat sich einiges geändert. Recycling ist in Honduras zum Geschäft geworden, Zehntausende verdienen durch das Sammeln von Wertstoffen ihren Lebensunterhalt – so wie Elía An­tonio Zelaya oder dessen Kollege Marco Julio Rompero. Beide verkaufen nur an Invema, weil sie mit den angebotenen Preisen, den Zahlungsmodalitäten und dem Umgang zufrieden sind. »Hier gelten die Ankaufpreise für alle, es wird nicht zwischen großen und kleinen Lieferanten unterschieden und gemauschelt. Das ist fair«, meint Zelaya. Ihm gefällt auch, wie sich Invema entwickelt hat. In den vergangenen Jahren wurden neue Betriebshallen gebaut und die Belegschaft wächst, erzählen die beiden.

Der Eindruck trügt nicht, meint George Gatlin. Von seinem Büro aus sieht man die lange Schlange von Pickups, die sich hochbeladen mit Säcken voller Dosen und Flaschen, Papp­stapeln und Altmetall dem Betriebsgelände nähern. »Am Anfang haben wir alle zwei Monate einem Container mit Aludosen in die USA verschifft, heutzutage bringen wir im Monat rund 500 auf den Weg nach Brasilien, nach Asien oder in die USA, wo sie in der Stahl- oder Aluminiumproduktion enden«, erzählt er. 445 Frauen und Männer arbeiten mittlerweile hier, Invema gehört längst zu den großen Unternehmen in der Recyclingbranche der Region. Aus der Karibik, aus El Salvador, Guatemala, aber auch dem Süden Mexikos wird Müll herangekarrt, der bei Invema sortiert oder direkt weiterverarbeitet wird, wie etwa PET-Flaschen.

Ein geschlossener Recyclingkreislauf
Kleine Margen war Gatlin von Beginn an gewöhnt. Die größte Herausforderung sei es, zum richtigen Zeitpunkt zu investieren. So wie 2015, als die ersten Solarpanels auf den Hallendächern installiert wurden. »Heute funkeln mehr als 5 000 Panels auf unseren komplett ausgelasteten Dächern, und das hat viele Vorteile«, sagt er und weist den Weg aus dem Büro über den Hof zu den Produktionshallen. Die monatliche Stromrechnung von zuvor rund 90 000 US-Dollar sei um knapp ein Drittel gesunken, und obendrein komme das Regenwasser dank der Panels deutlich sauberer in den Tanks unter den Hallen an.

In der Produktionshalle bleibt er vor einer modernen Anlage mit dem Logo des Maschinenbauers Herbold stehen. »Sie kann geschredderte Partikel von­einander separieren.« Zum Beweis greift Gatlin sich eine Hand mit Papierschnipseln und lässt sie durch die Finger gleiten: das waren mal Flaschen­etiketten. Daneben hängt ein Sack mit bunten Hartplastikflocken, den ehemaligen Deckeln, und darunter ein deutlich größerer Sack mit gräulich-transparenten PET-Flocken.

»Das ist unser derzeit wichtigster Rohstoff. Aus gewaschenen und geschredderten PET-Flaschen stellen wir Plastikfolien, aber auch Kunststoffgefäße für Lebensmittel her«, sagt er stolz. Einen geschlossenen Recyclingkreislauf inklusive Unbedenklichkeitszertifikat für Lebensmittelverpackungen kann außer Invema kaum ein Unternehmen aus der Region vorweisen. Beinahe hätte Gatlin auch den Liefervertrag mit Coca-Cola bekommen. »Doch dann war die neu produzierte PET-Flasche aus China billiger als unsere aus recyceltem ­Material«, ärgert er sich.

Gatlin wünscht sich staatliche Vorgaben, die plastikproduzierende Unternehmen verpflichten, einen bestimmten Anteil Altplastik zu verarbeiten, so wie in Frankreich: »Zehn, 20 Prozent wären phantastisch. Doch in Mittelamerika ist das noch Zukunftsmusik.« Er verkauft seine zertifizierten Folien und Plastikschüsseln für Lebensmittel in Honduras und in die USA. Die Maschinen, die unterschiedliche Plastiksorten trennen, aber eben auch neue Folien und Kunststoffschalen ausspucken oder auf dicke Spulen ziehen, stammen aus Deutschland und Österreich.

Als Anfang März 2020 die ersten Covid-19-Infektionen gemeldet wurden und in Honduras wie im Rest der Welt die Nachfrage nach Mund-Nasen-Schutz stieg, kam Gatlin auf die Idee, face shields zu produzieren. Die Gesichtsvisiere aus Kunststoff können in seiner Hightech-Anlage hergestellt werden. Die ersten paar Tausend spendete Invema an Krankenhäuser und soziale Einrichtungen, bis die ersten Ministerien Bestellungen aufgaben. »Für uns war das ein Glücksfall, denn weil wir Schutzvisiere produzierten, mussten wir während des Lockdowns nicht schließen. Entlassungen gab es bei uns daher nur sehr wenige«, berichtet Gatlin.

Das Betriebsklima bei Invema ist offenbar nicht das schlechteste. »Statt den Mindestlohn von umgerechnet 300 US-Dollar erhalten die einfachen Arbeiter bei Invema einen Einstiegslohn von 400 US-Dollar«, sagt Moinar Pérez, ein Arbeiter in der Altmetallsammlung. Auch er hat vor drei Jahren mit dem Invema-Einstiegslohn angefangen, verdient inzwischen aber deutlich mehr. Er ist zufrieden mit dem ­Arbeitsklima sowie dem Lohn und angetan vom sozialen Engagement des Unternehmens. »Hier soll ein eigener Kindergarten entstehen und auch mit den Schulen in der Nachbarschaft wird kooperiert. Bei Invema tauchen ganze Schulklassen mit Mülltüten voller Flaschen und Dosen auf. Ihr Engagement wird schon mal mit Pizza für alle honoriert«, lobt Pérez.

Die Müllfluten des Río Motagua
Gatlin sieht das auch als Beitrag zur Umwelterziehung. »Die steht in Honduras nicht gerade prominent auf dem Lehrplan«, meint er. Mehr Engagement wünscht er sich, weiß aber nur zu gut, dass Umweltschutz und Nachhaltigkeit in Tegucigalpa, der Hauptstadt von Honduras, kaum eine Lobby haben. Ganz ähnlich sieht es in umliegenden Ländern wie Guatemala, El Salvador oder Nicaragua aus. Dort ist Gatlin immer mal wieder unterwegs, weil er PET-Flaschen, Aludosen und anderes von dort importiert.

Vorigen November war er in Guatemala, um mit Nichtregierungsorganisationen über die Lösung eines wiederkehrenden Problems zu diskutieren: Immer im Herbst, zum Ende der Regenzeit, wiederholt sich ein Umweltde­saster an der honduranischen Küste. In der Nähe von Omoa und Puerto Cortés, dem wichtigsten Hafen des Landes, spülen mehrere kleine Flüsse riesige Mengen Müll in den Río Motagua. Hunderte Tonnen Plastik-, Krankenhaus- und Industrieabfälle ergießen sich schließlich in die Bucht von Omoa. Die umliegenden Küsten werden mit Müll überschwemmt. Eigentlich sollten Stauwehre die Fluten eindämmen, doch diese haben sich als ungeeignet erwiesen, klagen Umweltspezialisten wie Sandra Cárdenas, eine Meeresbiologin aus Honduras. Sie hofft auf zwischenstaatliche Lösungen, denn rund 80 Prozent des Mülls sollen aus dem benachbarten Guatemala stammen.

Doch bislang haben beide Regierungen wenig getan. Deshalb engagiert sich die holländische Nichtregierungsorganisation Ocean Cleanup. Sie will den Plastikmüll in den Fluss­läufen und an der Küste aufsammeln. An diesem Punkt könnte Invema ins Spiel kommen. »Wir überlegen, den Plastikmüll in unserer Anlage zu verwerten. Erste Versuche laufen, aber ­bisher ist noch nichts spruchreif«, so George Gatlin. Unklar ist vor allem, wie sich das Projekt finanzieren lässt, von der beide Länder und vor allem die Bewohner von Omoa und Puerto Cortés profitieren würden. Eine andere Herausforderung ist die Frage, ob sich die Plastikreste überhaupt so ohne weiteres in der Invema-Anlage recyceln ließen.

Fragen, die derzeit geklärt werden, so Gatlin. Er wäre mit Invema gern dabei und hofft, dass die Verträge im Juni unterschriftsreif sein werden. Nicht nur wegen der positiven Presse, die allen Beteiligten sicher wäre, sondern auch, um auf die Möglichkeiten von Recycling in der gesamten Region hinzuweisen. Genau das sei nötig, um endlich über staatliche Vorgaben zu diskutieren, wie beispielsweise zur Beimengung von Altplastik bei der Produktion von Neuplastik, meint Gatlin.