Der Entwicklungsforscher Malte Lierl im Gespräch über Staatsversagen und Jihadismus im Sahel

»Sie wollen die Bevölkerung einschüchtern«

Interview Von

Am vorvergangenen Wochenende wurden in Burkina Faso bei einem Angriff mindestens 160 Zivilisten getötet. Wer waren die Angreifer und was bezwecken sie mit einem solchen Angriff?
Das Massaker im Dorf Solhan am 5. Juni war das bislang verheerendste dieser Art in Burkina Faso. Es hat sich noch keine Organisation dazu bekannt. Die al-Qaida nahestehende Gruppe für die Unterstützung des Islams und der Muslime (GSIM) hat sich distanziert, die mit dem »Islamischen Staat« (IS) verbundenen Gruppen haben das nicht getan. Aber Ziele und Vorgehensweisen der jihadistischen Gruppen sind ähnlich: Sie wollen mit möglichst geringen eigenen Verlusten die Bevölkerung einschüchtern, die fragile soziale Ordnung erschüttern und Autorität und Legitimität des Staates untergraben.

»Der Druck und die Bedrohung, die auf den betroffenen Dorfge­mein­schaften lasten, sind enorm.«

Warum wächst die jihadistische Gewalt in der Region?
Gewalttätige salafi-jihadistische Gruppen wie die GSIM, der »Islamische Staat« in der Großen Sahara (ISGS) und Boko Haram florieren in Gegenden, in denen sie unbehelligt von staatlichen Institutionen agieren können. Zuletzt hat die Grenzregion von Mali, Burkina Faso und Niger als Operationsgebiet an Bedeutung gewonnen. Das lag unter anderem an erhöhtem Druck durch die internationale Militärpräsenz in Norden Malis und der Offensive gegen Boko Haram in der Region um den Tschadsee, aber auch am Machtvakuum nach dem Militärputsch in Burkina Faso 2015. Seit sich diese Gruppen in Zentralmali, Burkina Faso und der Region Tillabry im Westen Nigers festgesetzt haben, fordern sie die staatlichen Strukturen he­raus und versuchen, durch die Eskalation bestehender lokaler Konflikte den staatsfreien Raum zu erweitern. Dabei steht die große Mehrheit der Bevölkerung den Extremisten ablehnend gegen­über. Die Ideologie der Salafisten steht im Konflikt mit dem traditionellen Islam der Sahelregion, und es sind wohl in den seltensten Fällen rein ideologische Motive, die Menschen dazu bewegen, sich ihnen anzuschließen.

 

Malte Lierl

Malte Lierl arbeitet am Leibniz-Institut für Globale
und Regionale Studien in Hamburg.
Als
experimenteller politischer Ökonom
forscht er unter anderem zu Entwicklungspolitik
mit einem Schwer­punkt auf der Sahelregion.

 

Was bedeutet es, sich als Organisation im Sahel »Islamischer Staat« zu nennen? Sind Vorgehen und Ziele ähnlich denen des arabischen IS? Gibt es direkte Verbindungen?
Die Gruppen, die ihre Zugehörigkeit zum »Islamischen Staat« erklärt haben, sind relative kleine Organisationen, die autonom handeln und deren Vorgehensweise und Motive von lokalen Gegebenheiten beeinflusst sind. Innerhalb des Netzwerks des IS bestehen jedoch Verbindungen, zum Beispiel zwischen der aus Boko Haram hervorgegangenen Gruppe »Islamischer Staat in der Provinz Westafrika« (ISWAP) und dem ISGS, aber auch zu Gruppen, die dem IS nicht die Treue geschworen haben.

Wie finanzieren sich jihadistische Gruppen in der Region?
Sie haben sich Einnahmequellen erschlossen, durch die sich ohne dauerhafte Investitionen Gewinne erbeuten lassen, zum Beispiel die Kontrolle von Goldminen und Schmuggelrouten, zudem plündern sie und erpressen Lösegeld. Teils stellen sie sich auch propagandistisch als Alternative zum Staat dar. Das schließt bei einigen Gruppen auch in sehr selektivem Umfang die Bereitstellung öffentlicher Sicherheit und anderer quasistaatlicher Dienstleistungen mit ein. Unter dem Vorwand des Zakat, also der religiös vorgeschriebenen Almosen im Islam, erpressen einige Gruppen auch Abgaben von der Bevölkerung.

Wie sichern sie ihre Macht?
Die Macht dieser Gruppen besteht da­rin, dass sie die lokale Bevölkerung einschüchtern und an der Kooperation mit staatlichen Sicherheitskräften hindern. Trotz ihrer geringen Mitgliederzahl konnten sie die Gesellschaften der Region so an den Rand des Zusammenbruchs bringen.

Welche Folgen hat das für die Gesellschaften?
Wo Menschen in den betroffenen Regionen noch nicht geflohen sind, hat sie der Konflikt weiter isoliert, mit schlimmen wirtschaftlichen und sozialen Folgen. In Burkina Faso etwa haben sich etwa mit Beginn der Angriffe vielerorts staatliche Institutionen wie Schulen oder Lokalverwaltungen aufgelöst, weil Staatsbeamte um ihr Leben fürchten. Der Druck und die Bedrohung, die auf den betroffenen Dorfgemeinschaften lasten, sind enorm.
Schon vor Jahren haben sich vermehrt Selbstverteidigungsmilizen gebildet. Doch das vergrößerte auch das Risiko von Selbstjustiz und trug zur Eskalation bestehender Konflikte bei. Die Jihadisten wissen um die Verletzlichkeit des sozialen Zusammenhalts und die Schwächen des staatlichen Sicherheitsapparats. Sie arbeiten durch gezielte Angriffe und Propaganda darauf hin, das Vertrauen zwischen Staat und Gesellschaft weiter zu zerstören.

Gibt es auch Übergriffe seitens der Sicherheitskräfte?
Die Sicherheitskräfte reagierten auf Angriffe der Jihadisten oft mit Repression und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, Massenhinrichtungen von Terrorverdächtigen eingeschlossen. Speziell in Mali ist das Militär in einem gefährlichen Zustand: von Korruption durchsetzt, unfähig und unwillig, die Zivilbevölkerung zu schützen, und, wie die vergangenen Monate deutlich gezeigt haben, keiner politischen Kontrolle unterworfen. In Burkina Faso genoss das Militär zunächst hohe Legitimität in der Bevölkerung, war aber auf den asymmetrischen Konflikt nicht vorbereitet. Dem burkinischen wie auch dem nigrischen Militär fehlt nach wie vor die Fähigkeit, effektiv mit der lokalen Bevölkerung zusammenzuarbeiten und sie zu schützen. Das ist wichtig, denn ein militärisches Vorgehen gegen die Extremisten ist von Informationen und Unterstützung der lokalen Bevölkerung abhängig. Stattdessen gibt es teils den Reflex, Fehler und Menschenrechtsverletzungen zu kaschieren.

Wie nutzen Jihadisten das für ihre Zwecke?

Es spielt ihnen in die Hände, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel die Fulani, überproportional von Übergriffen der Sicherheitskräfte betroffen sind. Das wird propagandistisch ausgenutzt, um dem Konflikt teils eine ethnische Dimension zu geben. Oft stilisieren die Jihadisten ihre Angriffe als Vergeltungsschläge, zum Beispiel in Mali. Erlittenes Unrecht durch die Sicherheitskräfte motiviert einige Menschen, sich den Extremisten anzuschließen. Kaum zu unterschätzen ist auch, dass sich die Bevölkerung durch die staatlichen Sicherheitskräfte nicht ausreichend geschützt fühlt.

Warum sind die Sahel-Staaten kaum in der Lage, ihre Bevölkerung zu schützen?
Jahrzehntelang ist die Grenzregion von Mali, Bur­kina Faso und Niger von den Regierungen vernachlässigt worden. Es existiert kaum Infrastruktur, und die ohnehin nur rudimentären öffentlichen Dienstleistungen sind durch den Konflikt zum Erliegen gekommen. Auch ein staatliches Gewaltmonopol hat es hier noch nie gegeben. Über Generationen hinweg ist der Staat nur einer von mehreren organisierten Gewaltakteuren gewesen, der sich in die lokalen Verhältnisse eingemischt hat, ohne langfristig Legitimität und Vertrauen aufzubauen. Dazu gab es auch keine wirtschaftlichen oder politischen Anreize. Das erklärt teils die geringe Bereitschaft der lokalen Bevölkerung, mit staatlichen Institutionen zu kooperieren.

Inwiefern erschweren die wirtschaftlichen Verhältnisse den Aufbau von stabiler Staatlichkeit?
Die Region ist durch große Armut und fehlende wirtschaftliche Perspektiven geprägt. Die Geburtenrate ist hoch, doch die meisten Familien sind von Bildungsmöglichkeiten, Lohnarbeit und Marktzugang abgeschnitten. Für Landwirtschaft und Viehzucht wird das Land knapper und durch den Klimawandel auch weniger ertragreich. Hinzu kommt, dass die bei weitem lukrativsten Wirtschaftszweige – Schmuggel, Banditentum und der Abbau von Gold – nicht nur keine langfristigen Investitionen erfordern, sondern gerade auch von der Abwesenheit des Staates abhängen. Somit fehlen nicht nur Investitionsanreize und eine Finanzierungsgrundlage für den Aufbau stabiler Staatsstrukturen, sondern es gibt auch erhebliches Konfliktpotential.

Was sind die Ziele der internationalen Militärmissionen in der Region?
Die UN-Mission Minusma besteht aus rund 13000 Blauhelmsoldaten und versucht, durch Patrouillen und andere Aktivitäten die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu verbessern und die Umsetzung des Friedensabkommens zwischen Regierung und Rebellengruppen in Norden Malis zu unterstützen. Die EU hat sich, ohne durchschlagenden Erfolg, vor allem bei der Militärausbildung in Mali und in der Zusammenarbeit mit Polizeikräften in der gesamten Region engagiert. Die französische Militärmission wiederum, zusammen mit der G5-Sahel-Eingreiftruppe der Staaten Mali, Niger, Mauretanien, Tschad und Burkina Faso, konzentriert sich auf die Terrorbekämpfung.

Schützt die internationale Militärpräsenz die Bevölkerung?
Die Sicherheit der Zivilbevölkerung ist nicht das erklärte Ziel der französischen Militärpräsenz, sondern der Kampf gegen die Jihadisten und die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. Wenn die Sicherheit der lokalen Zivilbevölkerung oder die Legitimität der Staaten im Vordergrund stünde, dann müsste man die Militärmissionen entsprechenden politischen Zielen unterordnen, zur Unterstützung ziviler Programme nutzen, und alles daran setzen, durch Zusammenarbeit mit verschiedenen politischen Kräften den Sicherheitssektor der Sahel-Staaten von Grund auf zu reformieren. Bislang standen jedoch vor allem überregionale ­sicherheitspolitische Ziele im Vordergrund. Dafür wurden viele politische Warnzeichen ignoriert, insbesondere im Hinblick auf die Tragfähigkeit und Legitimität von Regierungen und Militärapparat. Das vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron angekündigte Ende der französischen Militärmission deutet vielleicht darauf hin, dass hier ein Umdenken stattfinden wird.

Warum war die EU-Unterstützung des malischen Militärs und der Polizeikräfte in der Region ohne durchschlagenden Erfolg? Welche Probleme konnte sie nicht lösen?
Die Mandate und politischen Zielsetzungen der EU-Missionen greifen zu kurz. Sie basieren nicht im ausreichenden Maße auf einer Gesamtanalyse der Krise im Sahel, sondern konzentrierten sich auf bestimmte Teilprobleme, zum Beispiel Fähigkeiten zur Bekämpfung von Menschenschmuggel und organisierter Kriminalität, oder defensive Fähigkeiten gegen Angriffe von Jihadisten. Aus einer umfassenden Betrachtungsweise würden sich vermutlich andere Prioritäten ergeben, zum Beispiel die Verhinderung von Übergriffen der Sicherheitskräfte auf die Zivilbevölkerung, eine effektive zi­vile Kontrolle des Sicherheitsapparats und Korruptionsbekämpfung.
Hinzu kommt, dass die Staaten und Regierungen der Region, also die Partner in dieser Zusammenarbeit, Teil des Problems sind. Dies in sehr unterschiedlichem Maße, aber insbesondere in Mali ist der Militärapparat keiner effektiven zivilen Kontrolle unterworfen und die poli­tische Klasse ist selbst zu großen Teilen moralisch bankrott. Man sollte also nicht so tun, als kooperiere man dort mit legitimen Repräsentanten gesellschaftlicher Interessen.