Ulrike Edschmid führt in ihrem Roman »Levys Testament« durch das London der Siebziger

Zärtlicher Abstand

Auch in ihrem neuen Roman »Levys Testament« taucht Ulrike Edschmid in die linksradikale Szene ein – dieses Mal im London der siebziger Jahre.

Eine Studentin fliegt von Berlin nach London. Dort verbringt sie ihre Zeit in einem Backsteinhaus im Stadtteil Holloway. Es ist unklar, wer dort wohnt und wer nur zu den dort stattfindenden Redaktionssitzungen der linksradikalen Islington Gutter Press kommt. Es ist der Winter 1972, und weil sie der angespannten Lage in Berlin eigentlich entkommen wollte, fragt sie sich, ob sie nicht vom Regen in die Traufe gekommen ist. Doch in London trifft sie einen Mann: »Die Haare schwarz und lang. Gelbe runde Brille. Mein Sohn hielt ihn für einen Chinesen. Er hätte alles sein können, Inder, Mexikaner, Mongole. Nur kein Engländer.«

Die Stärke des Buchs liegt gerade darin, dass es eben kein sich aufdrängender Thesenroman über die großen Fragen der Zeit ist, wie es derzeit bei autofiktionalen Werken häufig vorkommt.

Und doch nennt die namenlose Ich-Erzählerin ihn in »Levys Testament« immer nur so: der Engländer. Zusammen mit anderen nehmen sie als Unterstützer der Angeklagten an Gerichtsprozessen gegen Anarchisten teil. Über Jahrzehnte wird sie sein Leben begleiten, denn aus Liebe wird innige Freundschaft, zahlreiche Besuche und Telefonate halten die Beziehung am Leben. Aus dieser Perspektive, geprägt von zärtlichem Abstand, erzählt Ulrike Edschmid die Geschichte eines Mannes, der rastlos durch Welt und Leben eilt, scheinbar auf der Suche nach etwas, ohne zu wissen, wonach.

Des Engländers Vorfahren sind polnische Juden, doch seine Eltern, die verarmt im Londoner Distrikt Kingsbury leben, schweigen sich über ­Details der Familiengeschichte aus. Was als Liebesgeschichte in der linken Subkultur der Siebziger in Westeuropa beginnt, entwickelt sich zu ­einer Familien- und Zeitchronik, bei der von Beginn an klar ist, dass etwas nicht stimmt. Geschickt verwebt die Autorin Berichte im Stil von Tagebuchnotizen mit Verweisen auf historische Gegebenheiten, Passagen, die wie Beschreibungen verblichener Fotografien wirken, mit drängend erzählten Abfolgen von Straßennamen, die dem Erzählen eine topographische Ebene verleihen. Selbst einen Ortsunkundigen beschleicht das verwirrende Gefühl, durch ein verblichenes Farbfoto des Londons der siebziger Jahre zu eilen, in der U-Bahn stets mit einem mulmigen Gefühl wegen der Anschläge der IRA.

Diese Zeit, deren Zeugin die 1940 geborene Edschmid ist, hat sie bereits in früheren Büchern in den Mittelpunkt gestellt. So erzählte sie 1996 in »Frau mit Waffe: Zwei Geschichten aus terroristischen Zeiten« die Lebensgeschichten zweier Frauen, die der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit dereinst als Terroristinnen galten. Auch in dem preisgekrönten Buch »Das Verschwinden des Philip S.« von 2013 geht es um die Politisierung junger Leute in Deutschland, die eine Kette von Ereignissen mit mitunter tödlichen Folgen nach sich zieht. Die dort genannten Orte kehren wie die entsprechenden Anspielungen auch in »Levys Testament« wieder: die Kindheit der Ich-Erzählerin in der Rhön, eine Fabriketage in Berlin, in der sie in den Siebzigern wohnte und die Gegenstand einer polizeilichen Durchsuchung wird, oder ihr untergetauchte Lebensgefährte.

Den Engländer führt sein Weg von London auf das europäische Festland. Die Erzählerin macht keinen Hehl daraus, wie sehr es sie wundert, dass dieser Nachfahre osteuropäischer Juden scheinbar ohne Probleme beginnt, bei Degussa zu arbeiten. Doch die Geschichte des Unternehmens, das an der Entwicklung und Herstellung von Zyklon B beteiligt war, scheint ihm weniger wichtig zu sein als die Agitation der Arbeiter, die er unter der Hand voranzutreiben versucht. Die Gründung einer Theatergruppe in Italien führt schließlich dazu, dass der Engländer zum renommierten Regisseur avanciert.

Doch die Ruhelosigkeit lässt nicht nach. Aus den Londoner Unterstützern der angeklagten Anarchisten werden Journalisten und Lehrer, aus den Frankfurter Freunden vom Fußball Minister und Europaabgeordnete – unschwer zu erkennen, auf welches linke Milieu Edschmid hier anspielt, doch enthält sie sich jeder Wertung, jeder Klage über den ­Opportunismus genauso wie jeden Spotts über die jugendliche Revo­lutionsvorfreude. Glaubhaft gibt sie die Beobachterin, beeindruckt, aber nicht imprägniert von den Ereignissen.

Dabei gelingt es der Autorin, mit ihrem Stil knapper Sätze eine Eindringlichkeit herzustellen, die ihresgleichen sucht. Direkte Rede sucht man hier nahezu vergeblich, der immer wiederkehrende Wechsel von Präsens und Präteritum verleiht dem Text eine zeitliche Verdichtung, die einen starken narrativen Sog erzeugt. Selbst als Ortsunkundiger fühlt man sich, als führe man mit dem Finger einen Stadtplan von London entlang (der sich auf dem Buch­cover findet), wenn die Erzählerin die Wege beschreibt, die sie und der Engländer nehmen: zum Beispiel von dem Haus in Holloway, wo sie zunächst unterkommen, zum Old Bailey, dem berühmten Gerichtshof in London, wo sie den Prozess gegen Anarchisten verfolgen, denen lange Haftstrafen drohen. Sie begleiten den Prozess, beziehungsweise der Prozess begleitet sie »und mit ihm eine Grundstimmung aus Trauer, Ohnmacht und Protest«. Denn: »Was die Menschen tief unter uns auf der Anklagebank sagen, würden auch wir sagen. Was sie denken, denken auch wir.«

Das Old Bailey ist ein historischer Ort und Edschmid fädelt dessen historisches Gewicht geschickt in die Erzählung ein, wenn sich die Erzäh­lerin zum Beispiel erinnert, wie »im Sommer 1955 das Urteil ›Tod durch den Strang‹ gegen eine junge Frau mit dem Namen Ruth Ellis aus dem ­Gerichtssaal des Old Bailey bis in einen einsamen Landstrich der ­hessischen Rhön vordrang, wo meine Mutter, mein Bruder und ich am ­Radio saßen.«

Der Gerichtssaal wird so zum heimlichen Protagonisten in »Levys Testament«, denn der rastlose Engländer findet heraus, dass auch seine Vorfahren einmal angeklagt wurden, auch in einen Gerichtssaal des Old Bailey, im Jahr 1924. Beschuldigte waren sein Großvater und dessen Vater Levy, dessen Testament, als es auftaucht, des Engländers Leben auf den Kopf zu stellen scheint, letztlich jedoch mehr Fragen aufwirft, als es beantworten kann. Und auch hier erweist sich Edschmid als geschickte Erzählerin, die Zeitgeschichte und Fiktion übereinanderschichtet: »Wenn der Engländer versucht, sich seinen Großvater im Gefängnis vorzustellen, kommt ihm Oscar Wilde in die Quere.« Auch Wilde wurde im Old Bailey verurteilt, wegen »homosexueller Unzucht« zu zwei Jahren Gefängnis und harter Zwangsarbeit. Danach lebte er nur noch drei Jahre.

Gerichtsurteile sind Wendepunkte im Leben des Einzelnen und können mitunter auch nachfolgende Generationen verdammen. Das ist es, was der Engländer am eigenen Leib erfährt, als er seine Familiengeschichte entdeckt. Das ist es, was Edschmid so gut kann: Wendepunkte erzählen, mit Wucht, aber ohne Pathos, empathisch unaufdringlich.

Vielleicht verbirgt sich hinter dieser Geschichte Justizkritik, eine ­Anklage des bürgerlichen Rechtssystems, eine Genealogie britischer Justizgeschichte. Vielleicht. Doch die Stärke des Buchs liegt gerade darin, dass es eben kein sich aufdrängender Thesenroman über die großen Fragen der Zeit ist, wie es derzeit bei autofiktionalen Werken häufig vorkommt. Edschmid scheint zwar auch aus eigener Erfahrung und Biographie zu schöpfen, das deutet auch ein Hinweis am Ende des Buchs an. Doch man hat beim Lesen gar nicht das Bedürfnis zu wissen, ob die ­Erzählerin nun Edschmid selbst ist und wer dieser Engländer sein mag. Denn vor allem ist es ein berührender Roman, der tut, was er tun soll: eine Geschichte erzählen, die dank ästhetischer Kraft über sich selbst hinausweist.

Ulrike Edschmid: Levys Testament. Suhrkamp, Berlin 2021, 144 Seiten, 20 Euro