Die Grünen ermöglichen in Hessen Abschiebungen nach Afghanistan

Vorrangige Abschiebung

Während die Grünen auf Bundesebene einen Abschiebestopp nach Afghanistan fordern, schicken sie als Regierungspartei in Hessen selbst Geflüchtete in das Bürgerkriegsland zurück.

In ihrem Programm zur Bundestagswahl im September versprechen die Grünen, die Abschiebungen nach Afghanistan einzustellen. »Mitten in der Covid-19-Pandemie schiebt Deutsch­land weiter Menschen nach Afghanistan ab. Das ist unverantwortlich und muss umgehend gestoppt werden«, sagte Filiz Polat, die migrationspolitische Sprecherin der Bundestagsfrak­tion der Grünen, anlässlich des bundesweiten Aktionstags gegen Abschiebungen nach Afghanistan am 5. Juni.

»In der Opposition sind die For­­derun­gen immer schöner, als wenn man dann in der Regierung ist.« Timmo Scherenberg, Hessischer Flüchtlingsrat

Für Abschiebungen sind allerdings die Ausländerbehörden der Bundesländer zuständig. Und auch Länder mit grüner Regierungsbeteiligung schieben weiterhin nach Afghanistan ab: Mitte Juni transportierte ein Flugzeug 42 abzuschiebende Personen nach Kabul, darunter fünf Männer aus Hessen. In dem Bundesland regieren die Grünen in einer Koalition mit der CDU unter Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU). Nach einer kurzzeitigen Aussetzung zu Beginn der Covid-19-Pandemie gibt es seit Dezember 2020 wieder Sammelabschiebungen in das laut Global Peace Index gefährlichste Land der Welt. An diesen beteiligte sich Hessen in den vergangenen Monaten wiederholt. So wurden im Januar drei und im Februar zwei Personen aus Hessen mit dem Flugzeug nach Kabul gebracht.

CDU und Grüne in Hessen haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, dass das Land »vorrangig Straftäterinnen und Straftäter und Gefährderinnen und Gefährder« nach Afghanistan abschiebt. Der Hessische Flüchtlingsrat (HFR) kritisiert allerdings, dass nie definiert worden sei, wer in die Kate­gorie falle. Die Formulierung lasse auch die Abschiebung von Personen zu, die kleinere oder überhaupt keine Straftaten begangen haben. »Bist du mal in der falschen Moschee gewesen oder hast mit Personen geredet, die von den ­Sicherheitsbehörden beobachtet werden, dann kannst du auch im Flieger landen, ohne dass du Straftaten begangen hast«, sagte Timmo Scherenberg vom HFR im Gespräch mit der Jungle World. Da die Beschränkung auf Straf­täter und Gefährder im Koalitionsvertrag zudem nur eine Absichtserklärung sei, sei sie nicht gerichtlich einklagbar.

Im hessischen Koalitionsvertrag bekundeten CDU und Grüne auch die ­Absicht, darauf hinzuwirken, dass diejenigen, die nicht als Straftäter oder Gefährder gelten, längerfristige Duldungen erhalten. In der Regel werden Duldungen in Hessen für maximal drei Monate ausgestellt. Geflüchtete müssen diese regelmäßig neu beantragen. Scherenberg berichtet, jede Ankündigung einer Sammelabschiebung versetze afghanische Geflüchtete in Angst und Unsicherheit. Einige von ihnen versuchten in den Wochen, in denen Abschiebungen vorgenommen werden, das Land zu verlassen, verlören so ihren Arbeitsplatz und damit die Chance auf eine langfristige Bleibeperspektive.

Anfang 2020 verkündete das hessische Innenministerium unter Peter Beuth (CDU) einen Erlass, der Ausnahmen von der Dreimonatsregelung vorsieht. Demnach können die Bezirksordnungsbehörden, die in Hessen seit 2018 für die Durchsetzung des Aufenthalts- und Asylgesetzes zuständig sind, sogenannte Globalzustimmungen erteilen. Diese ermöglichen für bestimmte Gruppen, darunter afghanische Staatsangehörige, »die nicht ­priorisiert zurückzuführen sind«, eine Verlängerung der Duldung ohne Einzelfallprüfung.

Scherenberg zufolge haben die zuständigen Behörden solche längerfristigen Duldungen bisher allerdings nicht ausgestellt: »Die Grünen sagen immer, sie hätten durchgesetzt, dass Menschen aus Afghanistan jetzt längerfristige Duldungen bekommen, und es ist zwar schön, dass das auf dem Papier existiert – in der Praxis haben wir aber noch keine davon gesehen.«

Anfang Juni veröffentlichte die Sozialwissenschaftlerin Friederike Stahlmann eine von Diakonie und Brot für die Welt herausgegebene Studie zur Gefährdungslage nach Afghanistan abgeschobener Personen. Sie dokumentiert die Erfahrungen von 113 der insgesamt 908 von Dezember 2016 bis März 2020 aus Deutschland abgeschobenen Afghaninnen und Afghanen. Über 90 Prozent der Befragten hätten nach ihrer Rückkehr Gewalt erlitten. Vor allem die Taliban verfolgten Abgeschobene, denen sie aufgrund ihrer Flucht nach Deutschland Verrat, Verwestlichung oder unmoralisches Verhalten vorwürfen. Zudem hätten viele Rückkehrer Schulden in ihrem Herkunftsland, die sie aufgenommen hätten, um ihre Flucht nach Deutschland zu finanzieren. Dadurch seien sie nun kriminellen Übergriffen, Erpressungen und Schutzgeldforderungen ausgesetzt. Die allermeisten der 113 Personen hätten Afghanistan seitdem erneut verlassen, zwei hätten nach ihrer Rückkehr Suizid begangen.

Hilfsorganisationen befürchten, dass sich die Lage in Afghanistan durch den Abzug internationaler Truppen in diesem Jahr weiter verschlechtern wird. Auch die Grünen-Bundestagsabgeordnete und flüchtlingspolitische Sprecherin ihrer Fraktion, Luise Amtsberg, wies Mitte Juni auf den Truppenabzug sowie die »verheerende Sicherheitslage« in Afghanistan hin und bekräftigte die Forderung ihrer Partei an die Innenministerinnen und Innenminister der Länder, einen bundesweiten Abschiebestopp zu beschließen.

»In der Opposition sind die Forderungen immer schöner, als wenn man dann in der Regierung ist. Das war hier in Hessen auch so«, sagte Scherenberg. Grundsätzlich begrüße der HFR es, dass die Grünen sich auf Bundesebene für ein Ende der Abschiebungen nach Afghanistan einsetzen. »Aber ob das nach der Wahl immer noch steht, wird man sehen müssen. Die Erfahrung lässt mich zumindest nicht optimistisch in die Zukunft blicken.«