Die Beteiligung an den Parlamentswahlen in Algerien war sehr gering

Der dritte Streich

Nach der Präsidentschaftswahl und dem Referendum für eine neue Verfassung in Algerien sollten die Parlamentswahlen dem Regime neue Legitimität verschaffen. Doch die Wahlbeteiligung lag bei lediglich 23 Prozent.

Es sollte der dritte Akt der politischen Erneuerung sein, zumindest nach Darstellung der Regierenden in Algerien. Dort fand am 12. Juni eine Parlamentswahl statt. Diese sollte den institutionellen Machtwechsel nach den Massenprotesten abschließen, die im April 2019 den 20 Jahre lang amtierenden Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika zur Amtsaufgabe gezwungen hatten.

Den ersten Schritt zu politischer Erneuerung unter weitgehender Kontrolle der Herrschenden sollte die Präsidentschaftswahl vom Dezember 2019 darstellen, die der mittlerweile 75jäh­rige Abdelmadjid Tebboune gewann, womit er zum Nachfolger Bouteflikas wurde. Der zweite war die Annahme einer teilweise reformierten Verfassung per Volksentscheid im November 2020. Nun sollten diese beiden Abstimmungen, bei denen die Beteiligung bereits zu wünschen übrig ließ, durch eine dritte ergänzt werden: Das Parlament, das zuletzt im Frühjahr 2017 unter Bouteflika gewählt worden war, sollte ein Jahr vor dem Auslaufen seines Mandats neu besetzt werden.

In jüngster Zeit nähern sich die türkische und die algerische Regierung an, türkische Investitionen in Algerien fließen vor allem in die Bauindustrie und in Infrastruktur­projekte.

Doch selbst offiziellen Zahlen zu­folge kam die Beteiligung an der Parlamentswahl landesweit nicht über 23 Prozent hinaus. Das Desinteresse eines Großteils der Bevölkerung drückte wohl vor allem eine Desillusionierung über die Veränderungsbereitschaft oder auch -fähigkeit der regierenden Kreise wie auch der institutionalisierten Oppositionsparteien aus. Selbst bei der Wahl vor vier Jahren, als – anderthalb Jahre vor vor dem Ausbruch der Massenproteste – nichts die starren ­politischen Verhältnisse bewegen zu können schien, überstieg die Beteiligung noch 35 Prozent, jedenfalls nach staatlichen Angaben.

Von den algerischen Wahlberechtigten im Ausland, wo sich der fehlende Andrang in den Wahlbüros und vor den Konsulaten schlecht vor den interna­tionalen Medien verbergen lässt, nahmen diesmal gar nur 4,6 Prozent teil. Noch niedriger fiel die Beteiligung in der traditionell aufsässigen und meist wenig wahlfreudigen Berberregion Kabylei östlich der Hauptstadt Algier aus. Dort betrug sie auch nach staatlichen Angaben weniger als ein Prozent.

Zahlreiche unabhängige Kandidaten sollten die offizielle Darstellung belegen, dass sich die Dinge in einem ­geordneten Wandel befinden. Doch vielen von ihnen finanzierte die Staatsmacht den kompletten Wahlkampf. Dafür war eine gesetzliche Voraussetzung geschaffen worden: Die Bewerber mussten unter 40 Jahre alt sein, um eine vollständige Kostenübernahme beanspruchen zu können.

Das neue Parlament wird relativ zersplittert sein, da unter den 407 Abgeordneten nun 84 »Unabhängige« sind. Diese dürften keinen homogenen Block bilden und nicht alle politisch berechenbar sein. Manche sind lediglich Strohmänner der etablierten Parteien, in erster Linie des FLN (Natio­nale Befreiungsfront), andere vertreten mafiöse oder zumindest dubiose Geschäftsinteressen, eine dritte Gruppe sticht wohl vor allem durch poli­tische Unbedarftheit und Naivität hervor. Das Kalkül der Staatsführung ­bestand weniger darin, die Fraktion der »Unabhängigen« als Ersatz für die traditionell leicht auf Linie zu bringenden Parlamentariergruppen von FLN und RND (Nationale Demokratische Sammlung) aufzubauen; eher soll ein konfus wirkendes Parlament die Exekutive stärken.

Die FLN stellt nach wie vor die stärkste Fraktion mit 98 Sitzen, die RND lan­dete mit 58 Sitzen auf dem vierten Platz; zwischen den beiden bisherigen Staatsstützen liegen nun die »Unabhängigen« sowie die institutionalisierte islamistische Partei MSP/Hamas, die 65 Sitze erhielt. FLN und RND schnitten mit 6,2 Prozent respektive 4,3 Prozent auch in den amtlichen Wahlstatistiken schwach ab, der FLN verlor gegenüber 2017 nach offizi­ellen Angaben stattliche 19,75 Prozentpunkte. Doch die Aufsplitterung der Stimmen, vor allem durch die vielen »Unabhängigen«, sorgte in Verbindung mit dem Mehrheitswahlrecht dafür, dass beide Parteien zu den Wahl­gewinnern zählen. Der FLN erklärte sich, weil stärkste politische Kraft, auch offiziell zum Wahlsieger.

Ende voriger Woche bildete sich eine faktische Allparteienkoalition als künftiges Regierungsbündnis. An ihr nehmen FLN, »Unabhängige« und RND ebenso teil wie die nationalistische Zukunftsfront (Front al-Mous­takbal) und die islamistisch orientierte Aufbaubewegung (al-Binaa). Lediglich die drittstärkste Kraft, der historisch den Muslimbrüdern nahestehende, in der Vergangenheit als mehr oder minder stiller Juniorpartner an mehreren Regierungen unter Bouteflika ­beteiligte islamistische MSP (Bewegung für eine Gesellschaft des Friedens), schlug das Angebot nach einigem Zögern aus.

Der türkischen staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge halte der MSP zwar eine »konstruktive Regierungsbeteiligung« für einen »Teil ihrer Identität«, rechne jedoch nicht mit ausreichendem Einfluss und halte die Übernahme der Oppositionsrolle für ­einen Beitrag zur Demokratie. Präsident Tebboune sagte an die Partei ­gerichtet, ihr politischer Islam bereite ihm »keinerlei Probleme, wenn sie wie in der Türkei und in Tunesien nicht die Entwicklung beeinträchtigt und sich nicht über die Gesetze der ­Republik stellt«. Das bedeutet, dass sie – im Unterschied zur 1992 verbotenen Islamischen Rettungsfront FIS, die eine andere, konfrontative Strategie verfolgte – den gegebenen staatlichen Rahmen akzeptiert und den Wirtschaftsoligarchen ihre Pfründe nicht wegnehmen, sondern an ihnen teilhaben will.

Ansonsten favorisiert der MSP – stärker noch als das tunesische Modell mit der dort mitregierenden islamistischen Partei al-Nahda – vor allem das türkische Modell der dortigen Regierungspartei AKP. Darin geht sie auch mit derzeitigen Interessen des algerischen Staats konform. In jüngster Zeit nähern sich die türkische und die algerische Regierung an; türkische Investi­tionen fließen vor allem in die Bau­industrie und in Infrastrukturprojekte, wo sie die bislang sehr präsenten ­chinesischen Investoren zu verdrängen beginnen. Zudem zieht das Marmarameer eine wachsende Zahl algerischer Touristen an. Tebboune sagte vor diesem Hintergrund dem französischen Wochenmagazin Le Point: »Der Konflikt zwischen bestimmten arabischen Ländern und der Türkei« – ­gemeint sind Ägypten und mehrere Golfstaaten mit Ausnahme Katars – »hängt mit der Geschichte der Muslimbrüder zusammen, aber wir haben ausgezeichnete Beziehungen zu den Türken.«

Eher als ideologische hat das geostrategische und regionalpolitische Motive. 2019 hatte die algerische Regierung die mögliche Einnahme der westlibyschen Hauptstadt Tripolis durch die ostlibyschen Truppen des Generals Khalifa Haftar als »Überschreiten ­einer roten Linie« bezeichnet. Haftar wird von Ägypten, Saudi-Arabien, Russland und Frankreich unterstützt, die westlibysche Regierung hingegen von der Türkei und Katar (siehe Nur die Instabilität ist stabil).

Weniger Akzeptanz als bei den staatskonformen Islamisten findet die bestehende Ordnung bei immer größeren Teilen der Bevölkerung. Im Laufe des Mai wurde der wiederaufflammende Protest der Bewegung Hirak durch harte Repression eingedämmt. An zwei Protesttagen wurden je um die 1 000 Menschen festgenommen. Algerien zählt derzeit 300 allein wegen Meinungsdelikten ­einsitzende politische Gefangene. 19 von ihnen begnadigte Tebboune am Montag, zum algerischen Unabhängigkeitstag.

Auch zu sozialen Konflikten kommt es derzeit vermehrt. Nachdem ein ­Präsidialdekret den gesetzlichen Mindestlohn auf 20 000 Dinar (umgerechnet 125 Euro) neu festgesetzt hatte, kam es bei der Staatsbahn SNTF am 27. Juni zu einem unangekündigten Streik, der den Vorortverkehr im ­Gebiet um die Metropole Algier und dadurch das Arbeitsleben stark be­einträchtigte.

Am 30. Juni wurde der Technokrat Aïmen Benabderrahmane, ein vormaliger Leiter der Zentralbank und seit Juni 2020 Finanzminister, zum Ministerpräsidenten ernannt. Er ist bemüht, Algerien für Investoren attraktiv zu machen. Am 1. Juli sagten Vertreter Algeriens auf einer jährlich stattfindenden Pariser Konferenz von Investoren in Afrika, ihr Land gebe bisherige Hindernisse für ausländische Direkt­investitionen auf, zum Beispiel die ­Regel, dass bei Joint Ventures algerische Unternehmen mindestens 51 Prozent der Anteile halten müssen. Mit Ausnahme des strategischen Erdöl- und Erdgassektors sowie der Arzneimittelproduktion stünden Investoren alle Bereiche ohne Einschränkungen offen. Das dürfte weitere soziale Konflikte nach sich ziehen.