Kein Konsens über die geplanten Wahlen in Libyen

Nur die Instabilität ist stabil

In den von der Uno geleiteten Gesprächen wurde kein Konsens über die Abhaltung von Wahlen in Libyen erzielt. Kurz zuvor war die Forderung der Zweiten Berliner Libyen-Konferenz nach dem Abzug ausländischer Truppen ohne Konsequenzen geblieben.

Als der neue UN-Sondergesandte für Libyen, Ján Kubiš, am Montag vergan­gener Woche die eiligst zusammengerufenen Delegierten des Libyschen ­Forums für politischen Dialog (LPDF) nahe Genf ansprach, wählte er für ­einen Diplomaten einen ungewöhnlich scharfen Ton: Es habe bisher kaum vorzeigbare Ergebnisse gegeben, die Zeit dränge. Diejenigen, die den politischen Übergang nun sabotierten, müssten zur Verantwortung gezogen werden. Die Libyer erwarteten Ergebnisse.

Die harschen Worte waren angesichts der schwierigen Umstände nur konsequent. Der Friedensplan der Vereinten Nationen für Libyen sieht ausdrücklich Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Dezember vor, doch bedarf es dafür einer gesetzlichen Grundlage, die alle Seiten akzeptieren. Das Parlament, das sich mittlerweile aus den zuvor rivalisierenden Parlamenten in Tripolis und Tobruk zusammensetzt, ist jedoch durch die faktische Teilung des Landes in eine westliche und eine östliche Einflusssphäre mit jeweils eigenem Militär und eigenen ausländischen Unterstützern nahezu vollständig blockiert.
Die UN hatten daher auf Drängen zahlreicher ausländischer Regierungen ersatzweise das LPDF einberufen, um doch noch eine Einigung über diesen strittigen Punkt zu erzielen. Dem Friedensplan zufolge hätte eine Rechtsgrundlage für die Wahlen bis zum 1. Juli verabschiedet werden müssen. Die LPDF-Konferenz in Genf begann wenige Tage vor Ablauf dieser Frist.

Der Waffenstillstand in Libyen, der am 23. Oktober unterzeichnet wurde, beruht auf dem militärischen Gleich­gewicht des Schreckens, das sich durch die Interventionen Russlands und der Türkei herausgebildet hat.

Dieses so wichtige Treffen endete jedoch in einem Desaster. Die Delegierten ließen nicht nur die Frist verstreichen, auch die Verlängerung der Kon­ferenz um einen Tag und das Machtwort Kubiš’, die Delegierten dürften nicht gehen, bevor sie ein Ergebnis erzielt hätten, führten zu nichts. Stattdessen endete die Konferenz mit Vorwürfen von Drohungen und Bestechung im Chaos. Kubiš selbst war nicht einmal anwesend, weil er – wie auch einige andere Mitglieder des Forums – wegen einer ­Covid-19-Erkrankung in Quarantäne saß. Um überhaupt zu einem Ergebnis zu kommen, wich Kubiš gar von seinem UN-Mandat ab und ließ widerrechtlich Anträge zur Abstimmung zu, die die Übergangs­regierung länger im Amt belassen würden, als der UN-Friedensplan vorsieht. Er sieht sich nun Vorwürfen ausgesetzt, dass ihm die Kontrolle über das Treffen entglitten sei.

Der ganze Friedensplan mitsamt Waffenstillstand, dessen Kernpunkt Neuwahlen am 24. Dezember sind, steht somit in Frage. Zahlreiche westliche Regierungen und die UN sowie viele libysche Bürger bestehen weiterhin auf der Einhaltung des UN-Friedensplans und der Abhaltung von Wahlen. Doch deren Einfluss in Libyen ist sehr begrenzt.

Die dubiosen Vorgänge in Genf gehen vor allem auf einen Mann zurück: Abdul Hamid Dbeiba, den Ministerpräsidenten Libyens, dessen Wahl im Februar ebenfalls von Bestechungsvorwürfen überschattet wurde. Da er kein dauerhaftes Mandat hat, sondern er lediglich die Wahlen im Dezember vor­bereiten soll und bei diesen Wahlen auch nicht zugelassen wäre, hat niemand ein so großes Interesse wie er, sie zu verhindern. Finden die Wahlen nicht statt, bliebe er auf unbestimmte Zeit im Amt.

Bereits jetzt festigt Dbeiba seine Macht: Er übernahm die persönliche Kontrolle über die Antikorruptions­behörde Larmo, die gegen ihn und seinen Bruder Ali ermittelt hatte, wegen Veruntreuung staatlicher Gelder noch während der Ära Muammar al-Gaddafis. Ihren Reichtum nutzen er und sein Bruder, um ein weitreichendes Klientelnetzwerk aufzubauen. Dieses reicht bis ins libysche Parlament hinein, viele Abgeordnete ließen sich von Dbeiba mit lukrativen Ministerposten bestechen und haben nun deshalb ebenfalls kein Interesse an Neuwahlen.

Dbeiba dürfte auf Zeit spielen und darauf hoffen, dass die sogenannte internationale Staatengemeinschaft ihn im Amt belässt. Denn seine Übergangs­regierung ist neben dem Waffenstillstand das Einzige, was die internatio­nale Krisendiplomatie bislang vorzuweisen hat.

Die vom deutschen Außenminister Heiko Maas ausgerichtete Zweite Berliner Libyen-Konferenz, die am 23. Juni stattfand, hat kaum etwas bewirkt; an ihr waren 16 Länder und vier internati­onale Organisationen (UN, EU, Afrikanische Union und Arabische Liga) beteiligt. Ihr Abschlusskommuniqué erging sich abermals vor allem in hohlen Phrasen und Selbstverpflichtungen, an die sich bislang niemand gebunden fühlte. Gefordert wurde wie bei der ersten Konferenz im Januar 2020, das Waffenembargo einzuhalten. Dominant wie nie zuvor war die Forderung, »alle ausländischen Truppen und Söldner« sollten sich umgehend aus dem Land zurückziehen.

Doch hat bislang kein einziges Land seine Truppen abgezogen. Russische Söldner der Gruppe Wagner und syrische prorussische Söldner sichern weiterhin das Einflussgebiet von Marschall Khalifa Haftar im Osten Libyens, und die Türkei macht gleichfalls keine Anstalten, ihre Soldaten oder die syrischen protürkischen Söldner im westlichen Tripolitanien abzuziehen. Die türkische Regierung äußerte in Berlin als einzige sogar einen Vorbehalt gegen die Forderung nach dem Abzug ausländischer Truppen. Die offizielle Begründung: Die türkischen Truppen seien aufgrund eines Abkommens mit der vorherigen, international anerkannten Regierung in Tripolis unter Ministerpräsident Fayez al-Sarraj im Land. Die militärische Spaltung des Landes in zwei von Milizen mit ausländischen Unterstützermächten beherrschte ­Blöcke bleibt also erst einmal bestehen.

Einer Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik zufolge hat die libysche Übergangsregierung wenig Inter­esse daran, diese Spaltung zu überwinden und die Forderung des Berliner Abschlussdokuments nach Abzug ausländischer Truppen durchzusetzen. Anders als sein Vorgänger Fayez al-Sarraj unterhalte Ministerpräsident Dbeiba gute Beziehungen zu den ausländischen Unterstützermächten beider Parteien. Er und seine Parteigänger seien vor allem an der Verwaltung des Status quo interessiert, insbesondere an der Ausbeutung des Ölreichtums des Landes, dessen Geldströme wegen des Bürgerkriegs mehrfach versiegten. Dafür spreche auch, dass Dbeiba noch immer keinen Verteidigungsminister ernannt hat, dem die Vereinigung der Milizen in eine Armee sowie die Durchsetzung des Abzugs der ausländischen Truppen obliegen würde. Je länger dieser Zustand jedoch andauere, so die Studie, desto mehr Kritik werde die Verwaltung dieses Status quo hervorrufen und desto mehr steige auch die Gefahr einer erneuten militärischen Auseinandersetzung.

Bereits jetzt regt sich Protest auf der Straße gegen die Missachtung des UN-Friedensplans. Viele Bürger und Kandidaten sehen sich um ihre Wahlmöglichkeiten betrogen und kritisieren vor allem das dubiose Geschehen in Genf. Haftar, der immer noch auf die vollständige Eroberung des Landes hofft, drohte bereits mit einem erneuten Aufflammen des Kriegs, sollten die für Dezember geplanten Wahlen nicht stattfinden. Und auch die ausländischen Mächte bereiten sich auf den Fall vor, dass die Übergangsregierung die Interessen jener Mächte sowie die ihrer lokalen Stellvertreter nicht respektiert.

Doch wie realistisch und sinnvoll ist der UN-Friedensplan? Der Waffenstillstand im Land, der am 23. Oktober unterzeichnet wurde, beruht auf dem militärischen Kräftegleichgewicht, das sich durch die Interventionen Russlands und der Türkei herausgebildet hat. Türkische Truppen spielten eine große Rolle bei der Beendigung der Belagerung von Tripolis im Juni 2020, als es al-Sarraj gelang, Haftars sogenannte Libysche Nati­onale Armee gen Osten zurückzudrängen. Dementsprechend gibt es für beide Seiten kaum Anreize, dieses Machtgleichgewicht durch den Abzug aller ausländischen Truppen zu beenden.

Angesichts der militärischen Spaltung des Landes in zwei rivalisierende Machtgebiete sind Neuwahlen nicht sonderlich realistisch. Es ist unklar, wie trotz Milizenherrschaft und ausländischer Militärinterventionen ­innerhalb weniger Monate einigermaßen freie und faire Wahlen in allen Landesteilen ermöglicht werden sollen. Das Scheitern der Verhandlungen in Genf belegt dies eindrücklich. So einigte man sich auf den kleinsten gemein­samen Nenner: die Verwaltung des instabilen Status quo.