Der niederländische Kriminalreporter Peter R. de Vries ist nach dem Mordanschlag auf ihn im Krankenhaus gestorben

Attentat in Amsterdam

Auf den niederländischen investigativen Kriminalreporter Peter R. de Vries wurde ein Mordanschlag verübt.

Der Mordanschlag auf den Journalisten Peter R. de Vries am Dienstagabend voriger Woche in Amsterdam hat die Niederlande tief schockiert. Das zeigte sich wohl am deutlichsten daran, dass die Tat und deren mögliche Auftraggeber sogar in der täglichen Sport-Talkshow »De Oranje Zomer« diskutiert wurden. Die vorgesehene Analyse des EM-Spiels zwischen Italien und Spanien entfiel. »Wir haben das Match zwar ­geguckt, aber eigentlich nichts gesehen«, sagte der Sportjournalist Johan Derksen, niemandem habe mehr der Sinn nach Fußball gestanden.

Rund eine Woche nach dem Anschlag ist das meiste über den mutmaßlichen Täter und den Fahrer des Fluchtfahrzeugs bekannt. Beide sitzen in Untersuchungshaft, beide haben Verbindungen zu dem mutmaßlichen Drogengroßhändler Ridouan Taghi. Der steht derzeit im sogenannten Marengo-Prozess mit 17 weiteren Männern vor Gericht. Den Kronzeugen Nabil B. berät Peter R. de Vries. Zuvor, im März 2018, waren der Bruder des Kronzeugen, Reduan B., ein erfolgreicher Unternehmer ohne Bezug zu kriminellen Milieus, sowie anderthalb Jahre später sein Anwalt Derk Wiersum erschossen worden.

Peter R. de Vries’ Sendungen waren immer kompromisslos. Zu seinen größten Erfolgen gehört, eine veritable Krise der niederländischen Monarchie ausgelöst zu haben.

Dass die landläufig so genannte »Mocro Maffia« (Mocro werden umgangssprachlich junge Menschen ­marokkanischer Abkunft genannt) hinter den Mordaufträgen steckt, ist wahrscheinlich. Die kriminellen Vorgänger der »Mocro Maffia« aber waren gebürtige Niederländer, gegen die de Vries ebenfalls kompromisslos ermittelt hat. Auch die niederländische Rechte hasst de Vries, seit er Geert Wilders öffentlich Hetze gegen marokkanischstämmige Niederländer vorwarf. Just am Tag des Anschlags auf ihn beschloss das Kabinett, 10 000 staatenlosen Flüchtlingen niederländische Pässe auszustellen – wofür sich der Journalist seit Jahren eingesetzt hatte.

In deutschen Medien wird Peter R. de Vries gern als eine Art niederländischer Eduard Zimmermann dargestellt, aber mit der betulichen Verbrechersuche aus einem Studio heraus ist die Tätigkeit des »Misdaadsjournalisten« nur unzureichend beschrieben. De Vries’ Sendungen waren immer kompromisslos. Zu seinen größten Erfolgen gehört eine veritable Krise der niederländischen Monarchie: Als im Juni 2003 die Verlobung des zweiten Sohns von Königin Beatrix und Prinz Claus, Johan Friso, mit der Politologin Mabel Wisse Smit bekanntgegeben wurde, kamen Gerüchte auf, dass sie als 20jährige kurzzeitig die Freundin von Klaas Bruinsma gewesen sei. Dieser, auch »der Pate der niederländischen Kriminalität« genannt, war Ende der Achtziger der erfolgreichste Drogenhändler Europas gewesen, seine Organisation setzte damals täglich Millionen Gulden um.

Mit einem letzten großen Deal wollte Bruinsma sich 1990 ins Privatleben zurückziehen. Der Plan war, 45 Tonnen Haschisch mit einem Straßenverkaufswert von rund 400 Millionen Gulden aus Pakistan einzuschmuggeln. In Leusden nahe Utrecht entdeckte jedoch die Polizei am 24. Februar 1990 die Ladung. Bruinsmas Leibwächter Geurt Roos sagte später, es sei kein Wunder gewesen, dass die Sache schiefging, denn »ungefähr die halben Niederlande wussten vorab davon, und die Ermittler dadurch natürlich auch«.

Am 27. Juli 1991 wurde Bruinsma von einem für die jugoslawische Mafia ­arbeitenden ehemaligen Polizisten erschossen. Ob der 37jährige, dem die Kontrolle über seinen Drogenring immer mehr entglitten war, liquidiert wurde oder lediglich ein Streit zu der Tat führte, konnte nie geklärt werden.

Peter R. de Vries, der beruflich Kontakte zu Bruinsma gepflegt hatte, beschloss, die Gerüchte über Mabel Wisse Smit aufzuklären. Er flog nach Chile, wo er einen ehemaligen Vertrauten des Gangsters, Charlie da Silva, interviewte. Noch vor der Ausstrahlung der daraus resultierenden Sendung gab Wisse Smit eine Erklärung ab, wonach sie gelogen habe und von 1989 bis 1990 Bruinsmas Freundin gewesen sei. Die Regierung verweigerte daraufhin ihre Zustimmung zur Hochzeit mit Johan Friso; um dennoch zu heiraten, mussten die beiden auf alle Thronansprüche sowie ­Titel verzichten.

De Vries’ Karriere als Kriminalreporter hatte damit begonnen, dass er in der auflagenstarken Tageszeitung De Telegraaf über die Entführung von Freddy Heineken, dem Vorstandsvorsitzenden des gleichnamigen Bierkonzerns, berichtete. Die Tat hatten Willem Holleeder, Cor van Hout – der damals mit Holleeders Schwester Sonja liiert war – und zwei weitere Amsterdamer Kriminelle geplant. Am 30. November 1983, zwei Tage nach der Zahlung des Lösegelds in Höhe von 35 Millionen Gulden, gelang es der Polizei, Heineken und seinen mit ihm entführten Fahrer zu befreien. Die Namen der Täter waren verraten worden – doch van Hout, Holleeder und einem Komplizen gelang die Flucht nach Frankreich. Dort kam ihnen zugute, dass Entführungen in den damaligen Auslieferungsverträgen zwischen beiden Ländern nicht vorkamen.

Damals zog de Vries nach Paris und berichtete täglich über die neuesten Entwicklungen, einschließlich mehrerer erfolgloser Versuche, die Entführer abzuschieben, zum Beispiel über Zwischenstationen wie die karibische ­Insel Saint-Barthélemy. Er baute gute Kontakte zu Holleeder und vor allem zu van Hout auf. Und in den Niederlanden wandelte sich das Bild der Entführer, so dass Holleeder schließlich eine Art Knuffel-Krimineller wurde. Nach seiner Auslieferung 1986 und dem Absitzen einer fünfjährigen Haftstrafe schrieb er eine eigene Kolumne und trat auf sogenannten College-Touren als charismatischer Redner auf.

In Willem Holleeders Umgebung jedoch häuften sich Morde an Kompagnons und Konkurrenten, im Januar 2003 wurde schließlich auch Cor van Hout erschossen. Dessen Witwe Sonja Holleeder und ihrer Schwester Astrid wurde klar, dass ihr Bruder Willem die Taten in Auftrag gegeben haben musste. Nachdem er auch sie bedroht hatte, entschlossen sich die beiden Frauen sowie die Witwe eines weiteren Opfers, mit den Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten. Sie baten de Vries um Hilfe, und der stellte Kontakt zum Openbaar Ministerie (OM) her. Dieses ist kein Ministerium, sondern die dem Justizministerium unterstellte mehrgliedrige Anklagebehörde, die anhand von der Polizei vorgelegten Beweismaterialien eigenständig entscheidet, ob Strafprozesse eröffnet werden.

Wenn es nun in den Berichten über den Mordanschlag auf de Vries heißt, dieser habe ausdrücklich auf Personenschutz verzichtet, dürfte das vor allem daran liegen, dass er als Vertrauter der Holleeder-Schwestern erlebt hatte, wie Polizei und Justiz mit den Kronzeuginnen umgingen. Obwohl der mit ihrer Hilfe zu lebenslanger Haft verurteilte Willem Holleeder sich damit rühmte, exzellente Kontakte in höhere Ermittlerkreise zu pflegen, und bekannt war, dass er ein Kopfgeld auf die Schwestern und de Vries ausgesetzt hatte, gab es keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen wie Verstecke oder Tarniden­titäten für die Frauen. Dadurch waren sie gezwungen, die Holleeder bekannten Wohnungen und Arbeitsplätze beizubehalten. Astrid Holleeder berichtet in ihrem Buch »Dagboek van een getuige« (Tagebuch einer Zeugin), dass sie eines Tages eine SMS der Polizei erhielten, wonach die nach zahlreichen Eingaben zur Verfügung gestellten Notfallknöpfe wieder funktionierten. Dass diese kaputt gewesen waren, hatten die Frauen nicht erfahren.

Den Behörden eigentlich bekannt gewesen sein, dass Zeugen gegen Willem Holleeder gefährlich lebten. Unter anderem war der Anwalt Bram Zeegers, eine Woche nachdem er 2007 in einem Prozess wegen Auftragsmorden umfassend über Aktivitäten des nicht angeklagten Holleeder ausgesagt hatte, unter mysteriösen Umständen gestorben. Gelernt hat man daraus offenkundig nichts: Zurzeit wird der Kronzeuge Peter La S. vermisst. Weder dessen ­Anwalt noch das OM haben Kontakt zu dem Mann, der eigentlich im Herbst in Holleeders Berufungsverfahren aussagen soll.

Die Familie des Kronzeugen gegen Ridouan Taghi gab nach dem Anschlag auf de Vries eine Solidaritätserklärung heraus. Falls Einschüchterung das Ziel war, hat sie offenkundig nicht funk­tioniert. Taghi wird höchstwahrscheinlich verurteilt werden, aber Zeitungsberichten zufolge alles daran setzen, nicht im Gefängnis bleiben zu müssen. Es heißt, er habe zu diesem Zweck einen millionenschweren Fonds aufgesetzt – zu Taghis Ideen habe unter ­anderem gehört, in den Niederlanden akkreditierte ausländische Diplomaten zu entführen und so seine Freilassung zu erpressen.