In der Diskussion über Klassismus geht einiges schief

Weder Klasse noch Kampf

Der Klassenbegriff ist wieder relevant – aber nur in gewissem Sinne. Der Begriff Klassismus soll Ausgrenzungsphänomene erfassen. Doch geht es hierbei um Diskriminierung oder Ausbeutung, um Klassismus oder Klasse?

Nachdem in den vergangenen Jahren in Frankreich Autoren wie Didier Eribon und Édouard Louis das Thema wieder auf die Tagesordnung gesetzt haben, wird auch in Deutschland wieder debattiert – über Klassismus. Im Deutschlandfunk Kultur wurde dieser gar als »übersehene Diskriminierungsform« bezeichnet. Francis Seeck und Brigitte Theißl wiederum definierten in dem kürzlich von ­ihnen im Unrast-Verlag herausgegebenen Sammelband »Solidarisch gegen Klassismus – organisieren, intervenieren, umverteilen« Klassismus als »Unterdrückungsform, als Abwertung, Ausgrenzung und Marginalisierung entlang von Klasse«.

Zugleich wollen Autorinnen und Autoren wie Andreas Kemper und Heike Weinbach, die ebenfalls für Unrast eine Einführung zum Begriff geschrieben haben, Klassismus nicht bloß als kulturalistischen Begriff oder als Diskriminierung auf der »Vorurteilsebene« verstehen – es gehe um mehr als Fragen der Anerkennung, nämlich um Ausbeutung. Dieser Anspruch wird in der Debatte jedoch selten eingelöst, und es ist fraglich, ob dies überhaupt möglich ist. Denn der Klassismusbegriff selbst ist in seiner Anwendung reduktionistisch, individualistisch und paternalistisch.

Wenn Klassismuskritik in das identitätspolitische Diversitätsparadigma eingebettet wird, verliert das Sprechen über Klasse seinen Stachel. Nett zu den Armen und den aus ihren Reihen Aufgestiegenen zu sein, wird zum politischen Befreiungsakt verklärt.

Generell lassen sich in der Debatte drei Fraktionen ausmachen: Verfechter von linksliberaler Anerkennungspolitik; dann die, die das bürgerliches Aufstiegsversprechen betonen; und schließlich sozialdemokratische Umverteilungspolitiker. Am Rande geht es dann doch noch um Marx. So begreift der Autor Sebastian Friedrich Klassismus als Ideologie, die dazu diene, vorhandene Klassenverhältnisse »aufrechtzuerhalten« – übrigens eine Rarität in der Debatte, dass über die Funktion und nicht nur über die Erscheinungsform von Klassismus gesprochen wird. Vielmehr findet derzeit eine Reduktion der Klassenzugehörigkeit auf individuelle Diskriminierung statt. Klasse wird zum Diversitätsmerkmal.

»Ich kann Klassismus schon bekämpfen, indem ich meinem Paketboten auf halber Treppe entgegenkomme oder mich nicht mehr über Leute lustig mache, die Goethe mit ›ö‹ schreiben«, hieß es kürzlich im Spiegel – übrigens hinter der Bezahlschranke. Schlichte Höflichkeit wird hier als Überwindung des auf Klassismus reduzierten Klassenantagonismus verkauft. Derselbe Autor ­jedoch führte wiederum für den Deutschlandfunk aus, dass der »kategoriale Unterschied zwischen Klassismus einerseits und Sexismus, Homophobie oder Rassismus andererseits« darin bestehe, dass es nicht um die Anerkennung der eigenen Identität, sondern um das Ende der Armut gehe.

Gegen den Vorwurf, dass sich das Beklagen von Klassismus auf Anerkennungspolitik reduziert, gibt es allerdings auch Widerspruch. Tanja Abou, Mitgründerin des Instituts für Klassismusforschung, reagierte im Deutschlandfunk wie folgt: »Bei der Frage nach Umverteilung versus Anerkennung bin ich immer etwas irritiert, dass das zurzeit so gegeneinander diskutiert wird. Ich habe den Eindruck, dass da auch viel an den Kämpfen, die bisher geleistet wurden, lächerlich gemacht wird. Für mich schließen sich die Umverteilungs- und die Anerkennungsfrage überhaupt nicht aus.«

Es ist aber nicht nur die Reduktion des Klassengegensatzes auf eine Diskriminierungsform, die den Klassismusbegriff unbrauchbar macht. Der zweite Schwerpunkt nämlich liegt auf den Aufsteigern. Die am weitesten gehenden Forderungen in der Debatte haben meist höhere Durchlässigkeit des Bildungssystems zum Inhalt, bisweilen verlangt man auch die Umverteilung von Vermögen. Selbst wenn es leichter würde, »es zu schaffen«, machte diese Argumentation dennoch eine grundlegende Kritik an der Einrichtung der Gesellschaft unmöglich. Denn an der Ausbeutung selbst und damit auch an Armut ändern Bildungs- und Umverteilungsmaßnahmen wenig bis nichts.

Ein weiteres Problem besteht im falsch verstandenen Verhältnis von Klassismus und Klassenzugehörigkeit, das immer stärker kulturell verstanden wird. So behandelt auch in »Solidarisch gegen Klassismus« ein Beitrag die »Abwertung und Exklusion von Menschen ohne akademischen Hintergrund«. Indem die Begriffe Schicht, Milieu und Klasse schlicht gleichgesetzt werden, wird das aka­demische Prekariat, dass sich im Mittelbau von befristeter Stelle zu befristeter Stelle hangelt, aus der unterdrückten Klasse herausdefiniert. ­Dabei ist die Kritik des Texts, die auf den im linken Milieu verbreiteten bildungsbürgerlichen Habitus zielt, gar nicht falsch. Nur ist das akademische Prekariat eben nicht der Klassenfeind.

Ähnlich problematisch ist das Schisma zwischen den wenigen, die auf den Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit pochen, und denjenigen, die wie Francis Seeck ­bemängeln, dass in der Debatte über Klassismus männliche Arbeiter sehr stark ins Zentrum gerückt würden, »obwohl viele Menschen, die von Klassismus betroffen sind, da gar nicht mitgedacht werden. Gerade auch Frauen, die z. B. im Niedriglohnsektor arbeiten, die in Sorgeberufen arbeiten, sollten da ganz stark im Zentrum stehen.« In »Solidarisch gegen Klassismus« wird unter anderem mit Bezug auf Eribon und Louis als Leerstelle der jetzigen Debatte ausgemacht, dass die mediale Aufmerksamkeit meist auf den »›Aufstiegsgeschichten‹ weißer cis Männer, die sich mit der Klassengeschichte ihres ­Vaters auseinandersetzen«, liege. Dass eher die Aufgestiegenen als die Liegengebliebenen zu Wort kommen, ist tatsächlich ein Punkt, an dem die Debatte ihren Anspruch auf »Selbst­ermächtigung« untergräbt.

Natürlich ist nicht alles schlecht. Immerhin wird auch in »Solidarisch gegen Klassismus« die Verteilungsfrage gestellt. Doch indem Klassismuskritik vielfach eingebettet wird in das Repertoire des am Ende doch bürgerlichen Aufstiegsfetischs oder in das identitätspolitische Diversitätsparadigma, verliert das Sprechen über Klasse seinen Stachel. Nett zu den Armen und den aus ihren Reihen Aufgestiegenen zu sein, wird zum politischen Befreiungsakt verklärt.

Welche Forderung wird aus der Kritik abgeleitet? Wie geht man Probleme an, die aus dem Klassenverhältnis entspringen, ohne die Systemfrage zu stellen? Arno Frank möchte Umverteilung und Chancengleichheit, der Soziologe Klaus Dörre spricht von einem »klassenspezifischen Verteilungskonflikt«, Francis Seeck kritisiert »verinnerlichte Vorurteile«, bei denen bereits Selbstreflexion helfe. Um die Aufhebung der falschen Verhältnisse aber geht es in der derzeitigen Diskussion nicht, sondern zum einen um individuelle Aufstiegskämpfe, die in diese Verhältnisse eingebettet sind, und zum anderen um identitätspolitische Kämpfe. Doch wofür? Armut ist schließlich keine Identität, die es zu beschützen gilt.

Die momentan dominante Klassismuskritik zielt nicht auf das Ende der Klassengesellschaft, sondern auf eine Scheinversöhnung des Klassenantagonismus: Die Aufgestiegenen sollen von den Alteingesessenen bereitwilliger aufgenommen werden, und gemeinsam sollen sie dann immer schön freundlich zu Kell­nerinnen und Postboten sein. Wenn Letztere sich anstrengen, sollen sie dann auch aufsteigen dürfen. Klassismuskritik hilft jedenfalls dem Klassenkampf nicht auf die Sprünge, denn alle Forderungen bleiben systemimmanent. Eine bessere Welt sei »am besten in kleinen Schritten« zu erreichen, schreiben Maria Barankow und Christian Baron in ihrem ebenfalls kürzlich erschienenen Band »Klasse und Kampf«, in dem dann darüber lamentiert wird, dass in den »Macht- und Entscheidungspositionen« zu wenig vermögenslose Menschen säßen. Ob diese wie die anderen Argumente tatsächlich einem neuem Klassenbewusstsein dienlich sind, bleibt äußerst fraglich.

Christian Baron, Maria Barankow (Hg.): Klasse und Kampf. Ullstein, Berlin 2021, 224 Seiten, 20 Euro

Francis Seeck, Brigitte Theißl (Hg.): Solidarisch gegen Klassismus – organisieren, ­intervenieren, umverteilen. Unrast-Verlag, Münster 2021, 280 Seiten, 16 Euro

Andreas Kemper, Heike Weinbach: Klassismus. Eine Einführung. Unrast-Verlag, Münster 2021, 192 Seiten, 13 Euro