Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur häuslichen 24-Stunden-Pflege

Ausländisches Pflegeprekariat

Häusliche Altenpflege beruht in Deutschland oft auf der Ausbeutung von Arbeitsmigrantinnen aus Osteuropa. Arbeitsschutzgesetze werden systematisch umgangen. Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts stellt dieses Geschäftsmodell jetzt in Frage.

Bis zu eine halbe Million Pflegekräfte leben dem Sozialverband VdK zufolge in deutschen Haushalten und betreuen dort alte Menschen. Vor allem Frauen aus Osteuropa werden über Agenturen an deutsche Familien vermittelt. Doch ein Urteilsspruch des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in Erfurt Ende Juni stellt dieses Modell der häuslichen 24-Stunden-Pflege jetzt in Frage.

Die Klägerin, eine Pflegerin aus Bulgarien, musste ihrer über 90jährigen Klientin nach eigener Aussage rund um die Uhr zur Verfügung stehen, obwohl ihr Arbeitsvertrag nur eine Arbeitszeit von 30 Wochenstunden vorsah. Planbare Freizeit oder gar bezahlten Urlaub habe es nicht gegeben. Nachts habe ihre Zimmertür geöffnet bleiben müssen, damit die Klientin leichter über sie verfügen konnte. Mit Unterstützung der Gewerkschaft Verdi und Faire Mobilität, einer gewerkschaftlichen Beratungsstelle für befristet beschäftigte Arbeitsmigrantinnen, die auch in ­deren Muttersprachen berät, hat sie vor drei Jahren die Gerichte angerufen.

Osteuropäische Pflegekräfte werden mit falschen Versprechungen wie einer umfassenden sozialen Absicherung, geregelten ­Arbeitszeiten und guten Löhnen nach Deutschland gelockt.

Sie hatte auf Bezahlung der unbezahlten Arbeitsstunden und des Bereitschaftsdiensts nach dem gesetzlichen Mindestlohn geklagt. Das BAG gab ihr recht: Auch in einen Privathaushalt entsandte ausländische Betreuungskräfte hätten Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für geleisteten Arbeitsstunden. »Dazu gehört auch Bereitschaftsdienst. Ein solcher kann darin bestehen, dass die Betreuungskraft im Haushalt der zu betreuenden Person wohnen muss und grundsätzlich verpflichtet ist, zu allen Tag- und Nachtstunden bei Bedarf Arbeit zu leisten«, heißt es im Urteil des BAG.

Das Geschäftsmodell der häuslichen Pflege ist damit in Frage gestellt. Denn dieses beruht auf der Ausbeutung weitgehend entrechteter Arbeitsmigrantinnen aus Osteuropa, die für niedrige Gehälter bei älteren Deutschen leben und diese betreuen. Die Pflegekräfte werden dazu von osteuropäischen Vermittlungsagenturen rekrutiert und entsandt, die als offizielle Arbeitgeber fungieren und mit Agenturen in Deutschland zusammenarbeiten. Diesen wiederum kommt die Aufgabe zu, den Kontakt zwischen den Pflegekräften und den Haushalten in Deutschland herzustellen.

Zur Rekrutierung der Frauen in den Herkunftsländern werden Zeitungs­inserate, Kino- oder Internetwerbung ebenso eingesetzt wie Werber vor Bahnhöfen und Arbeitsämtern. Gelockt werden die Pflegekräfte mit falschen Versprechungen wie einer umfassenden sozialen Absicherung, ge­regelten Arbeitszeiten und guten Löhnen. Tatsächlich sind die Beschäftigten jedoch nicht in Deutschland, sondern in ihren Herkunftsländern sozialversicherungspflichtig, und auch die Arbeitsbedingungen richten sich weitgehend nach den arbeitsrechtlichen ­Regeln der Entsendeländer, deren Standards deutlich niedriger sind als hierzulande.

Der Arbeitseinsatz dieser modernen Wanderarbeiterinnen erfolgt meist im Rotationsprinzip. Sie bleiben drei Monate in Deutschland und werden dann von einer Kollegin abgelöst, bis sie wieder nach Deutschland zurückkehren. Die meisten arbeiten als sogenannte Live-ins in der 24-Stunden-Pflege. Das heißt, sie betreuen ihre Klienten rund um die Uhr und leben mit diesen in ­einem Haushalt.

Dabei erledigen sie alleine Aufgaben, für die eigentlich drei ausgebildete Pflegekräfte benötigt würden: Sie sind verpflichtet, rund um die Uhr für sozi­ale Aufgaben, Hilfestellung beim Essen und bei der Körperpflege zur Verfügung zu stehen und sogar »gemeinsame Interessen zu verfolgen«, wie es in zahlreichen Anstellungsverträgen heißt. Spaziergänge und Fernsehabende mit Pflegebedürftigen gehören ebenso dazu wie Einkaufen, Bügeln, Kochen und die Gabe von Medikamenten. Häufig müssen sie auch medizinische Auf­gaben wie die Verabreichung von Spritzen übernehmen, für die sie nicht ausgebildet sind.

Die 24stündige Dienstbereitschaft der Pflegehelferinnen geht einher mit der Aufgabe ihrer Privatsphäre und dem kompletten Fehlen von Freizeit. Sie ­leben und schlafen in derselben Wohnung, teils im selben Zimmer wie ihre Patienten. Bezahlt werden sie für die ständige Arbeitsbereitschaft unter ­katastrophalen Bedingungen mit Armutslöhnen, die meist zwischen 800 und 1 200 Euro liegen.

Für die Gewerkschaften ist der Erfolg der Klage ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die prekäre Beschäftigung in deutschen Privathaushalten. »Das Urteil ist ein Paukenschlag für entsandte Beschäftigte in der häuslichen Altenpflege«, sagte Anja Piel, Mitglied des DGB-Bundesvorstands. Es zeige »einmal mehr die Bedeutung muttersprachlicher Beratungsstrukturen wie Faire Mobilität als Anlaufstelle für ausländische Beschäftigte«. Für Sylvia Bühler, Mitglied im Verdi-Bundesvorstand, sind nun die politisch Verantwortlichen gefragt, Konsequenzen aus der Entscheidung des BAG zu ziehen. »Das Modell der sogenannten 24-Stunden-Pflege basiert auf systematischem ­Gesetzesbruch. Damit muss Schluss sein«, sagte Bühler.

In vielen deutschen Medien wurde das Urteil dagegen mit Bestürzung aufgenommen. Von »einer Klatsche für Pflegebedürftige und Angehörige« (Deutschlandfunk), einem »Preisschock in der Pflege« (FAZ) und dem »Aus für die 24-Stunden-Pflege in den ­eigenen Wänden« (Die Zeit) war die Rede. Nicht die katastrophalen Arbeitsbedingungen und der Lohnbetrug standen im Mittelpunkt der Berichterstattung, sondern dessen Auswirkungen auf die Pflegekosten.

Zwar stärkt das Urteil des BAG die Rechte migrantischer Wanderarbeiterinnen in Deutschland, das Ende der prekären Arbeit in der häuslichen Pflege bedeutet es jedoch noch nicht. Denn die Entsendung ist nur eine Variante der Ausbeutung in deutschen Haushalten. Immer größere Verbreitung findet die Beschäftigung von osteuropäischen Pflegekräften als Soloselbständige. Die Pflegekräfte sind dann nicht in ihrem Herkunftsland angestellt, sondern schließen einen Auftragsvertrag. Als Selbständige haben sie keinen Anspruch auf den Mindestlohn und fallen nicht in den Geltungsbereich der Schutzvorschriften für Arbeitnehmer.

Zwar dürfte es sich bei den meisten dieser Vertragsverhältnisse um Formen von Scheinselbständigkeit handeln, das muss allerdings erst nachgewiesen werden. Das ist aber beinahe unmöglich, da Privathaushalte im Gegensatz zu anderen Arbeitsstätten dem besonderen Schutz des Grundgesetzes unterliegen und daher behördliche Kontrollen nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich sind.

Wie bei der Entsendung profitieren auch von diesem Modell vor allem die beteiligten Vermittlungsagenturen. Die Angehörigen zahlen monatlich zwischen 2 000 und 2 500 Euro, nur etwa die Hälfte davon landet bei den Pflegekräften. Die Geschäftsgrundlage der Agenturen sind falsche Versprechungen, die Ausnutzung rechtlicher Grauzonen und Drohungen. Immer neue Vertragskonstruktionen zur Entsendung von Beschäftigten dienen der Umgehung von Mindestlöhnen und Sozialabgaben.
Die Umsätze der Branche und auch die Zahl der Vermittler sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Bereits 2018 boten in Deutschland mehr als 400 Unternehmen häusliche Pflegeversorgung an, teile die Bundes­regierung Anfang März auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Linkspartei mit. Sie schlagen Profit aus der systematischen Unterfinanzierung des deutschen Pflegesystems. Die in Deutschland vielfach propagierte Pflege in den eigenen vier Wänden dient vor allem dazu, die staatlichen Pflege­ausgaben niedrig zu halten.

Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt, der in Deutschland für Pflege ausgegeben wird, ist deutlich niedriger als in vergleichbaren Ländern Europas. Die Pflegeversicherung reicht oft nicht aus, um die Kosten für die stationäre Pflege in einem Heim zu decken. Auch deshalb werden rund 70 Prozent der Pflegebedürftigen in Deutschland zu Hause betreut, ergab 2017 eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung.

Die politisch Verantwortlichen bauen auch auf die kostenlose Arbeitsleistung der Angehörigen. Mit der Belastung, die die Pflege mit sich bringt, werden diese allerdings alleingelassen. Die Familien sind kaum in der Lage, sämtliche Pflegeaufgaben selbst zu stemmen. Eine legale ambulante Pflege, die eine an­gemessene Vollversorgung garantieren würde, ist für viele ebenso unbezahlbar wie eine Heimunterbringung.

Die Leidtragenden dieser Politik sind zuvorderst die migrantischen Pflegekräfte, die unter unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen Tag und Nacht in deutschen Privathaushalten schuften. Nicht nur die immer neuen Methoden zur Umgehung arbeitsrechtlicher Standards machen es unwahrscheinlich, dass die Ausbeutung dieser Pflegekräfte mit dem Urteil des BAG endet, auch die Möglichkeiten der im Haushalt lebenden Pflegekräfte, sich zur Wehr zu setzen, sind begrenzt. Um beispielsweise ihre Ansprüche auf den Mindestlohn geltend zu machen, müssen sie diese individuell vor ­Gericht einklagen. Ein Schritt, zu dem sich nur die wenigsten in der Lage ­sehen dürften, müssen sie doch fürchten, nie wieder vermittelt zu werden.

Das zeigt auch der vor dem BAG verhandelte Fall, bei dem es erstmals ­einer Pflegekraft gelang, sich juristisch gegen die Umgehung des Mindestlohngesetzes zur Wehr zu setzen: Die Klägerin ist inzwischen im Ruhestand und daher nicht mehr auf Vermittlung angewiesen. So konnte sie das Risiko der Klage eingehen.