Rezension von Nastassja Martins Roman »An das Wilde glauben«

Into the Wild

Platte Buch Von

Eine Klinik auf der Halbinsel Kam­tschatka ganz im Osten Russlands. Fixiert am Krankenbett. Ein Loch im Unterkiefer, das Jochbein gebrochen, Luftröhrenschnitt, Magensonde. Die französische Anthropologin Nastassja Martin wurde im August 2015 auf einer Forschungsreise von einem Bären angegriffen; die Folgen der Begegnung von Mensch und Tier schildert sie in ihrem Essay »An das Wilde glauben«.

Kamtschatkas raue Landschaft zeigt zwei Gesichter: lichte Waldtundra auf der einen, vulkanisches Hochgebirge auf der anderen Seite. Die Region ist für ihre riesigen Braunbären bekannt. Martin hatte sich, in der akademischen Tradition eines Claude Lévi-Strauss, in der Nähe des Dorfes Kljutschi den Ewenen angeschlossen, deren Riten und Mythen sie erforscht. Das russische Militär testet in diesem Gebiet die Reichweite von Raketen. In einer Gegend, die von der Forstwirtschaft genutzt würde, hätten die nomadischen Jäger kaum mehr eine Chance zu überleben. Am Ende einer Bergtour passierte es: Ein Bär zerbiss der für ihre Forschungen zum Animismus gefeierten Wissenschaftlerin das Gesicht.

Danach hielt eine Titanplatte ihren Unterkiefer zusammen, um ihr Gesicht wieder vervollständigen zu können. Martins wurde von der Regionalhauptstadt Petropawlowsk in ein Krankenhaus in Paris gebracht, dann nach Grenoble. Sie war den Chirurgen ausgeliefert, die miteinander um die geeignete Therapie rangelten – Rivalitäten zwischen Osten und Westen, Metropole und Provinz.

Martin beschreibt die Sekunden des Kampfes mit dem Bären und vor allem den inneren Kampf, der diesem folgte. Nüchtern und genau schildert die in ihrem Selbstverständnis versehrte Frau ihre Auseinandersetzung mit dem animistischen Denken. Über die gelegentlichen akademischen Überspanntheiten gegen Ende des Buches liest man geflissentlich hinweg. So kann man sich einlassen auf Martins Alpträume, für die ihre ewenischen Freunde beängstigende Deutungen anbieten.

Nastassja Martin: An das Wilde glauben. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Matthes & Seitz, Berlin 2021, 139 Seiten, 18 Euro