Die Türkei protestierte nur leise ­gegen die Entmachtung der islamistischen Partei al-Nahda

Geschäft geht vor

Die tunesische Partei al-Nahda galt lange als Verbündeter der türkischen AKP. Doch trotz ihrer Entmachtung hält sich der türkische Präsident Erdoğan mit Kritik auffällig zurück.

Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan war es keine gute Nachricht, als der tunesische Präsident Kaïs Saïed Ende Juli das Parlament suspendierte und den Ministerpräsidenten sowie einige Minister absetzte. Die entmachtete tunesische Regierung war von der Partei Harakat al-Nahda dominiert worden, der islamistischen »Bewegung der Wiedergeburt«, die manche als eine Schwesterpartei von Erdoğans »Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt« (AKP) bezeichnen. Ähnlich wie die AKP in der Türkei steht al-Nahda in Tunesien im Konflikt mit laizistischen Kräften. Und ähnlich wie Erdoğan steht auch al-Nahda der internationalen Bewegung der Muslimbrüder nahe.

Ähnlich wie Erdoğan steht auch die tunesische islamistische Partei al-Nahda der internationalen Bewegung der Muslimbrüder nahe.

Vor bald zehn Jahren sah es so aus, als könnten die Muslimbrüder die Früchte des »Arabischen Frühlings« ernten. Als sie in Ländern wie Ägypten an die Macht kamen, versuchte Erdoğan, sich als ihr Ratgeber und später, nachdem die Muslimbrüder in Ägypten gewaltsam entmachtet worden waren, als ihr Beschützer zu profilieren. Immer wieder hob der türkische Präsident in den vergangenen Jahren öffentlich vier gestreckte Finger zur Rabia-Geste, die vor allem Anhänger der Muslimbrüder in Ägypten verwenden.

Das Rabia-Zeichen erinnert an ein Massaker an Unterstützern des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi, die gegen dessen Absetzung durch das Militär protestiert hatten. Dabei wurden auf dem Platz vor der Rabi’a-al-Adawiya-Moschee in Kairo am 14. August 2013 mindestens 377 Menschen getötet. Der Name Rabi’a hat die gleiche Wurzel wie das arabische Zahlwort arba’a, »vier«. Am selben Tag starben bei der Räumung des al-Nahda-Platzes in Giza 90 Menschen. Die Namensgleichheit mit der tunesischen Partei ist Zufall.

Erdoğans Vorliebe für die Muslimbrüder war eine der wichtigsten Ursachen dafür, dass sich das Verhältnisses zu Saudi-Arabien verschlechterte. Das saudische Königshaus hatte die Muslimbrüder jahrzehntelang unterstützt, doch schon die Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien nach dem Ersten Golfkrieg führte zu Spannungen. Als später die Muslimbrüder im Rahmen des »Arabischen Frühlings« auf Veränderungen drängten, führte das zum Bruch, denn nichts fürchtet das saudische Herrscherhaus mehr, als wenn seine autokratische Macht in Frage gestellt wird.

Gleichermaßen verfolgt in Ägypten und Saudi-Arabien, fanden viele Muslimbrüder Unterschlupf bei Erdoğan und beim Emir von Katar, Tamim bin Hamad al-Thani. Mit diesem ist Erdoğan ein dauerhaftes Bündnis eingegangen, das für beide Seiten wichtig ist. Die Türkei hat 2015 einen militärischen Stützpunkt in Katar eingerichtet, der Emir investiert in der Türkei unter anderem in Erdo­ğan freundlich gesinnte Medien.

So wurde die Entmachtung von al-Nahda in Tunesien auch als Schlag ­gegen das türkisch-katarische Bündnis wahrgenommen. In einigen Golfstaaten sah man das mit Genugtuung, große Medien in Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und auch in Ägypten lobten das Vorgehen Saïeds. Der Sprecher der AKP, Ömer Çelik, verurteilte den »Putsch« hingegen und warnte: »Diejenigen, die unseren Brüdern und Schwestern, dem Volk Tunesiens, Übles antun, schaden ihrem eigenen Land.« Die regierungsfreundliche türkische Nachrichten-Website En Son Haber nannte gleich mal die Schuldigen: »Es hat sich herausgestellt, dass Frankreich und die Vereinigten Arabischen Emirate hinter den Ereignissen in Tunesien stehen.« Auch der türkische Justizminister verurteilte den Putsch.

Doch das alles fiel deutliche zurückhaltender aus als die heftige Kritik, die türkische Regierungsmitglieder an der Absetzung Mursis 2013 geäußert hatten. Erdoğan selbst hielt sich dieses Mal zurück und auch sein Außenminister schickte seine Beamten vor. Erst am 2. August telefonierte Erdoğan mit dem tunesischen Präsidenten und sagte diesem, es sei von »großer Bedeutung« für die tunesische Demokratie, dass das Parlament seine Arbeit wiederaufnehmen könne.

Tatsächlich passt lautstarke Unterstützung von al-Nahda derzeit nicht ins Konzept von Erdoğans Außenpolitik. Zwar hält er am Bündnis mit Katar fest, gleichzeitig versucht er aber, die Isola­tion, in die die Türkei in der Region geraten ist, durch eine Wiederannäherung an Ägypten zu lockern. Das erfordert Fingerspitzengefühl und machte es unter anderem nötig, dass Erdoğan den Muslimbrüdern, die von Istanbul aus gegen das ägyptische Regime unter Präsident Abd al-Fattah al-Sisi agieren, einen Maulkorb verpasste. Im Mai reiste zudem der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu nach Saudi-Arabien, um nach Jahren der Spannungen die Beziehungen wieder zu verbessern. Ein lautstarkes Engagement für al-Nahda würde in der Türkei, in Saudi-Arabien und in Ägypten sofort die Erinnerung an Erdoğans Einsatz für die Muslimbrüder wecken.

Erdoğan mag auch bilanziert haben, was ihm sein Einsatz für die Muslimbrüder überhaupt gebracht hat. Von einer Rückkehr zur Macht in Ägypten sind sie weit entfernt. Die Freundschaft zu al-Nahda konnte nicht verhindern, dass der tunesische Präsident Kaïs Saïed im Jahr 2019 Erdoğans Bitte um einen Luftwaffenstützpunkt für die türkische Intervention in Libyen abschlug. Al-Nahda versuchte gar nicht erst, sich zu Erdoğans Gunsten einzusetzen.

Erdoğan hat seither die türkische Außenpolitik noch stärker militärisch ausgerichtet. Mit Kampfdrohnen und syrischen Söldnern konnte er auch ohne die Hilfe Tunesiens in Libyen eingreifen. Mit den gleichen Mitteln verhalf er auch Aserbaidschan zum Sieg in Bergkarabach. Nun bot er an, den Flughafen von Kabul nach dem Abzug der US-Truppen militärisch zu sichern, ­wovon er sich Gegenleistungen der USA erhofft.

Die Zeit, in der Erdoğan als selbsternannter Wortführer des politischen ­Islam auftrat, mag nicht für immer vorbei sein, aber im Moment ist er eher Anbieter militärischer Dienstleistungen, die andere Länder nicht anbieten können oder wollen. Besonders im Maghreb versucht die Türkei als Wirtschaftspartner und Waffenlieferant nicht ohne Erfolg, Frankreich den Einfluss streitig zu machen. Handel und Investitionen in Algerien und Ägypten wachsen, mit Libyen will die Türkei Kooperationen im Öl- und Gasgeschäft ausbauen.

Gleichzeitig versucht die Türkei, sich als führender Waffenhändler in Afrika zu etablieren. Auch mit Tunesien unterzeichnete sie im Dezember 2020 einen ersten Waffendeal im Wert von 150 Millionen US-Dollar. Seitdem liefert die Türkei unter anderem Drohnen und gepanzerte Wagen. Da wäre es nicht hilfreich, die nordafrikanischen Regierungen durch Unterstützung isla­mistischer Bewegungen gegen sich aufzubringen, worauf außer Tunesien und Ägypten auch Algerien empfindlich reagieren würde. Die Geschäfte macht man heute eben mit denen, die aus den Machtkämpfen des »Arabischen Frühlings« als Sieger hervorgegangen sind.