Ein Gespräch mit der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze über die ökonomische Lage in Afghanistan

»Am besten wäre es, den Opiumanbau zu legalisieren«

Die wirtschaftliche Situation Afghanistans verschlechtert sich zusehends, es droht eine Hungersnot.
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Afghanistan steht vor einer ungewissen Zukunft. Wie ist die ökonomische Lage nach dem Ende des 20jährigen Militäreinsatzes der USA und ihrer Verbündeten?

Denkbar schlecht. Die afghanische Gesellschaft ist trotz der Entwicklungsgelder aus dem Westen und Asien bettelarm, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Jahr ist mit 500 bis 600 US-Dollar sehr gering. Geschätzt 50 Prozent der Bevölkerung leben in Armut und sind hilfsbedürftig. Es gab vor zwei Jahren eine fürchterliche Dürre, die Landwirtschaft kollabierte.

Welche Rolle spielten Hilfsgelder aus dem Ausland?

Die Gesellschaft hat sich an einen sehr großen Zufluss von Geldern aus dem Ausland gewöhnt, was in der Konsequenz zu einem sehr hohen Außenhandelsdefizit geführt hat. Jeder vierte Dollar wird für Importe ausgegeben, doch nun fallen die Hilfsgelder weg. Es könnte zu einem sogenannten sudden stop kommen, einer schlag­artigen Abkoppelung von der Weltwirtschaft. Das würde vor allem die ärmere Bevölkerung in den Städten treffen. Wir hatten es schon vor dem Abzug mit einer handfesten sozialen Krise zu tun, nun verschlimmert sich die Lage noch.

Wie verhalten sich die USA in dieser Situation?

Das US-Finanzministerium hat bereits angekündigt, alle in den USA liegenden Reserven der afghanischen Zentralbank zu blockieren, so dass die Taliban keinen Zugriff auf diese haben werden. Auch der Internationale Währungsfonds blockiert Sonderziehungsrechte Afghanistans (die Gewährung von Son­derhilfen durch den IWF; Anm. d. Red.). Wir reden mit gutem Grund über die Situation der Frauen und der Ortskräfte, aber aus materialistischer Perspektive ist die Ernährung die zentrale Frage. Es droht eine Hungersnot, besonders für Frauen ist das gefährlich: In einer Gesellschaft wie der afghanischen essen die Frauen zuletzt.

Es wird viel über die Unsummen an Geld gesprochen, die nach Afghanistan geflossen sind. Es gibt die These, dass die Hilfsgelder nicht nur wenig genützt, sondern beim Aufbau der Wirtschaft sogar geschadet haben.

Man sollte nicht übertreiben, die größten Summen sind in den Krieg geflossen, auch die großen Rüstungsunternehmen und die berüchtigten privaten Sicherheitsunternehmen haben viel Geld erhalten. An zweiter Stelle kamen die Zahlungen an die afghanische Armee und Polizei, die übrigens in den vergangenen Jahren auch die größten Verluste an Menschenleben erlitten haben. Erst an dritter Stelle kam die Entwicklungshilfe.

»Es droht eine Hungersnot, beson­ders für Frauen ist das gefährlich: In einer Gesellschaft wie der afgha­nischen essen die Frauen zuletzt.«

Man darf auch nicht in Abrede stellen, dass es eine wirtschaftliche Entwicklung gegeben hat. Vor 20 Jahren war Afghanistan noch ärmer als heutzutage. Zwischen 2000 und 2013 kam es zu einem erheblichen Wirtschaftswachstum. Auch auf dem Land, aber vor allem in den Städten zeigte sich das: Es gibt dort jetzt Hochhäuser, Bankgebäude, moderne Autos. Die Hälfte der Afghanen hat mittlerweile ein Handy, das wäre vor 20 Jahren undenkbar gewesen. Es wird auch viel mehr Strom verbraucht als vor 20 Jahren. Die Lebenserwartung ist erheblich gestiegen, Kinder- und Müttersterblichkeit sind beträchtlich gesunken.

Wie vollzog sich die wirtschaftliche Entwicklung?

Sie fand sehr ungleich statt, und hier kann man tatsächlich vermuten, dass die Gelder von außen negative Auswirkungen hatten. Der US-amerikanische Einsatz war zunächst nicht sehr teuer, kein Vergleich zum Irak, aber ab 2009 versuchte die Regierung von Präsident Barack Obama ja, den Krieg zu gewinnen, indem sie vorübergehend mehr Soldaten nach Afghanistan schickte. In dieser Zeit überstiegen die Zahlungen von außen das afghanische Bruttoinlandsprodukt, das war surreal. Solche Geldsummen können nicht verdaut werden, sie tragen zu extrem ungleicher Entwicklung und zur Verdrängung der bislang üblichen wirtschaftlichen Aktivitäten bei. Tätig­keiten, die einen höheren Preis erzielen, wie die Arbeit für die westlichen Kräfte, verdrängen solche üblichen Aktivitäten. Noch unattraktiver werden diese, wenn, wie in Afghanistan, der illegale Drogenexport profitabel ist.

Seit die USA begannen, ihr Engagement einzuschränken, stagnierte oder fiel das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, zumal die demographische Entwicklung sehr dynamisch ist und ein erhebliches Wirtschaftswachstum nötig wäre, damit die Menschen ihren Lebensstandard halten können.

Gibt es so etwas wie ein Bürgertum, das eigene Interessen gegenüber den Taliban formulieren und durchsetzen kann?

Das ist aus materialistischer Sicht die Frage, die man stellen sollte. Ich bin kein Experte für afghanische Ethnologie oder Religion, aber aus sozioöko­nomischer Perspektive können wirtschaftliche Statistiken etwas erzählen: Man sieht Umrisse eines Modernisierungsschubs, es wurden tatsächlich neue Fakten geschaffen. Das sagen ja auch viele vor Ort, dass die Taliban lernen müssen, mit einer Gesellschaft umzugehen, die besonders in den Städten vollkommen anders ist als vor 20 Jahren, als sie das letzte Mal an der Macht waren.

Die demographische Dynamik in ­Afghanistan kann man sich in einer alternden westlichen Gesellschaft gar nicht vorstellen: Die meisten Afghanen sind sehr jung, der überwiegende Teil hat gar keine Erinnerung an die neunziger Jahre. Es wird eine ganz andere Herausforderung sein, eine reaktionäre Geschlechterpolitik durchzusetzen, wenn Hunderttausende Frauen eine universitäre Ausbildung haben und in großen Teilen des gesellschaftlichen Lebens präsent sind.

Wie funktioniert die Ökonomie der Taliban, und was haben sie den Leuten zu bieten, die sie unterstützen?

Als sie das letzte Mal an der Macht waren, haben sie so gut wie keine nationale Wirtschaftspolitik betrieben. Heutzutage kann es anders kommen: In Anbetracht der Stärke der Taliban ist es möglich, dass im Hintergrund andere die Fäden ziehen, etwa die Pakistanis und deren Geheimdienst, und dass es zu einer wirtschaftlichen Stabilisierung kommt.

Wie haben die Taliban sich während der 20 Jahre des internationalen Militäreinsatzes finanziert?

Was die Taliban in ihrem 20jährigen Kampf wirtschaftlich am Leben gehalten hat, war ihre Fähigkeit, in ländlichen Gegenden sehr effektiv Steuern zu erheben, und sie waren bekanntermaßen dabei ehrlicher als andere Milizen. Sie haben Quittungen gegeben, die dann auch galten. Die neuesten Erkenntnisse, etwa was die Wirtschaft im Grenzgebiet zum Iran angeht, zeigen, dass das Vorurteil, die Taliban seien eine Terrororganisation, die vor allem vom illegalen Drogenhandel lebt, überzogen ist. Sie beziehen gewisse Einkünfte aus dem Opiumhandel, aber eine Fallstudie hat den Anteil an den Gesamteinnahmen auf zehn Prozent geschätzt, der Rest kommt aus der gewöhnlichen Steuererhebung auf Importe an der Grenze. Afghanistan ist sehr abhängig von Importen von etwa Lebensmitteln und Benzin – für deren Einfuhr Geld zu verlangen, ist die finanzielle Grundlage der Taliban.

Die Taliban könnten sich international als Partner im Kampf gegen den Drogenhandel anbieten.

Ja, es entspricht bereits seit den neunziger Jahren ihrem Ruf, ein gewisses Ethos zu haben. Ihr puritanischer Kodex kann auch dazu dienen, den Opium­anbau zu unterdrücken, sie haben hier bereits eine systematische Kampagne angekündigt. Aber man muss den Leuten auf dem Land eine Alternative anbieten. Am besten wäre es, den Opiumanbau zu legalisieren und für legale Opiate zu nutzen; hier hat die afghanische Landwirtschaft viel zu bieten und es gibt eine große globale Nachfrage.

 

 

Adam Tooze

Adam Tooze ist Wirtschaftshistoriker und lehrt als Professor für Geschichte an der Columbia University in New York City. Über die Plattform »Sub­stack« kann sein Newsletter »Chartbook« bezogen werden, in dem er gegenwärtige wirtschaftliche Entwicklungen analysiert.