Die Rezeption von Robert Walser

Wildes Schreiben

Zu Lebzeiten haderte Robert Walser mit dem Literaturbetrieb – sein Roman »Der Räuber« legt davon Zeugnis ab. Heute beschäftigen sich Literaturwissenschaftler aus der ganzen Welt mit dem Schweizer Schriftsteller.

Oscar Wilde zufolge imitiert das Leben die Kunst, und es sei hinzugefügt, dass dies manchmal auch passiert, ohne dass es gewollt wäre. Am ersten Weihnachtsfeiertag 1956 fand man den leblosen Körper des 78jährigen Robert Walser im Schnee. Er hatte nach dem Mittagessen in der Heilanstalt von Herisau (Schweiz), in der er seit 1933 wegen psychischer Probleme lebte, wie üblich einen Spaziergang zur Verdauung angetreten, war infolge eines Herzschlags zusammengesunken und tot liegengeblieben.

Die Umstände seines Todes erinnern in frappierender Weise an die einer Nebenfigur aus seinem ersten Roman, »Geschwister Tanner«. Der junge Protagonist Simon Tanner – als verträumter Bohemien von Walser unverkennbar nach dem Vorbild der eigenen Person gezeichnet – entdeckt auf einer seiner Wanderungen mitten auf dem Weg die Leiche seines Bekannten Sebastian. Wie später Walser liegt der Erfrorene auf dem Rücken im Schnee, das Gesicht gen Himmel gerichtet.

Das Motiv von Herrschaft und Unterwerfung kehrt im »Räuber«-Roman wieder als Unterwerfung unter das eigene Selbst.

In der Rückschau bleibt das nicht die einzige Parallele zwischen Walser und der Figur Sebastian, auch ihre Lebenswege ähnelten sich. Sebastian war ein junger Dichter, als Heranwachsender geistig frühreif. Mit 16 riss er von zu Hause aus, kehrte seiner Schweizer Heimat den Rücken und verbrachte mehrere Jahre in Paris, die ihn offenbar ausbrennen ließen. Von denen, die ihn zuvor bewundert hatten, wurde er nach seiner Rückkehr nur noch wohlwollend belächelt. Schließlich stirbt er unerwartet. Simon Tanner zieht dem Toten ein Heft mit von ihm verfassten Gedichten aus der Tasche und trägt es in die nächste Redaktion, damit sein Name der Welt erhalten bleiben möge.

Freilich war Walser selbst bei seinen ersten Erfolgen und den Schwierigkeiten, an sie anzuknüpfen, nicht mehr ganz so jung wie seine tragische Figur. Doch erwarb er sich vergleichsweise früh, in seinen Zwanzigern, mit seiner Erzählsammlung »Fritz Kochers Aufsätze« (1904) und den drei Romanen »Geschwister Tanner« (1907), »Der Gehülfe« (1908) und »­Jakob von Gunten« (1909) Respekt in der Literaturszene und einen Ruf als vielversprechender junger Autor. Zu einer lukrativen Literaturkar­riere kam es aber nicht. Aus Geldmangel kehrte er 1913 aus Berlin, wo er acht Jahre verbracht hatte, in die Schweiz zurück. Zwar schrieb Walser unermüdlich und brachte viele seiner Prosastücke und Glossen in Zeitungen und Zeitschriften unter, musste jedoch auch immer wieder Absagen von Verlagen und Feuilletonredaktionen einstecken. Die Zahl seiner Veröffentlichungen und sein Erfolg blieben Schwankungen unterworfen. Vor allem aber gelang es ihm nicht mehr, seine Gedanken umfassend zu bündeln und erneut einen Roman zu schreiben.

1925 entstand schließlich ein längerer Text, den er aber liegen ließ, ohne sich um eine Veröffentlichung bemüht zu haben. Von dem damals 47jährigen Walser als Konvolut von mikroskopisch klein beschriebenen Zetteln hinterlassen, wurde der Text erst posthum von Literaturwissenschaftlern entziffert, zusammengefügt und 1972 unter dem Titel »Der Räuber« publiziert. Man kann das Geschriebene als Roman bezeichnen oder auch nicht: Es handelt sich um ein assoziationsgesteuertes, atem- und oft zusammenhangloses Geplauder, der Erzähler betrachtet die verschiedensten Gegenstände – um sich stets schon im nächsten Moment wieder von ihnen abzuwenden. Ein Lesegenuss ist das zunächst nicht – im Gegenteil. Nur mit Mühe kann der Leser einer übergreifenden Handlung folgen, immer wieder wird sie von Reflexionen und Abschweifungen des Erzählers unterbrochen.

Dieser schwankt in seiner Selbstdarstellung zwischen Unterwürfigkeit und Hybris. Er will es dem Leser recht machen und stört doch immer wieder den Lesefluss, um spontane Einfälle zum Besten zu geben. »Imponiert Ihnen dieser schöne Satz?« fragt er sein Publikum gefallsüchtig. Wie viel Sarkasmus dabei im Spiel ist, kann man nur erahnen. Nicht wenige Erzählfäden brechen abrupt ab und werden erst nach vielen Seiten oder gar nicht wieder aufgenommen. Die zahlreichen Exkur­sionen und die Verschachtelung des Texts erklärt der Erzähler paradoxerweise mit Konventionen, an die er sich anpassen müsse: »Die Umschweife, die ich hier mache, haben den Zweck, Zeit auszufüllen, denn ich muß zu einem Buch von einigem Umfang kommen, da ich sonst noch tiefer verachtet werde, als ich bereits bin. Es kann unmöglich so weiter­gehen. Hiesige Lebeherren nennen mich einen Torebuben, weil mir keine Romane aus den Taschen herausfallen.«

Beispielhaft zeigt diese Stelle Walsers gespaltenes Verhältnis zum Literaturbetrieb, den er verspottet und auf dessen Urteil er doch aus ökonomischen Gründen angewiesen ist. Das Motiv von Herrschaft und Unterwerfung, das Walser schon in seinen vorangegangenen Romanen und Prosastücken immer wieder auf verschiedene Weise bearbeitet hatte, kehrt im »Räuber«-Roman wieder als Unterwerfung unter das eigene Selbst: Um an Geld zu kommen, muss der Erzähler einen Roman schreiben und sich bei diesem Unterfangen ständig maßregeln und antreiben. Er bringt schließlich den Roman – mehr schlecht als recht – zustande, urteilt am Ende jedoch verächtlich: »Das Ganze kommt mir übrigens vor wie eine große Glosse, lächerlich und abgründig.« Vielleicht deshalb zog Walser, der seinem Erzähler zweifellos sehr nahe steht, den Text dann auch nicht für eine Veröffentlichung in Betracht.

Vier Jahre nach Entstehung des »Räuber«-Romans wurde Walser nach einer psychischen Krise in die Stadtberner Heilanstalt Waldau gebracht, dort wurde Schizophrenie diagnostiziert. In Waldau bemühte er sich zunächst noch um Veröffentlichungen und setzte seine literarische Arbeit eingeschränkt fort. Nachdem er jedoch 1933 gegen seinen Willen in die etwa 180 Kilometer entfernte Heilanstalt in Herisau in seinem offiziellen Heimatkanton Appenzell Ausserrhoden verlegt worden war, gab er das Schreiben gänzlich auf. In den 23 Jahren bis zu seinem Tod brachte er keine Zeile mehr zu Papier. Dem Journalisten und Schriftsteller Carl Seelig, der Walser 1936 das erste Mal besucht hatte und später sein Freund, Förderer und Vormund wurde, sagte Walser auf einem ihrer vielen Spaziergänge: »Es ist ein Unsinn und eine Roheit, an mich den Anspruch zu stellen, auch in der Anstalt zu schriftstellern. Der einzige Boden, auf dem ein Dichter produzieren kann, ist die Freiheit.«

Es entbehrt nicht der Ironie, dass gerade der »Räuber«-Roman, in dem der Erzähler als Schriftsteller mit dem Literaturbetrieb hadert und beständig über angemessene Formen des Schreibens sinniert, heutzutage sowohl von der Literaturforschung als auch unter Schriftstellern überaus geschätzt wird. So sagt der Schweizer Literaturwissenschaftler Reto Sorg im Gespräch mit der Jungle World: »Es gibt bis heute kaum etwas Vergleichbares. ›Der Räuber‹ gewinnt seine Größe gerade dadurch, dass er sich dem Leser entzieht, sich nicht aufdrängt, sich gerade nicht verkaufen will. Wilder kann man eigentlich gar nicht schreiben.«

Sorg leitet das Robert-Walser-Zentrum in Bern, das Walsers (und Seeligs) Nachlass verwahrt, die Walser-Forschung dokumentiert, Publikationen zu Walser initiiert und herausgibt sowie regelmäßig Veranstaltungen, Tagungen und Ausstellungen organisiert. Zuletzt hat er den Sammelband »Spazieren muss ich un­bedingt« mitherausgegeben. Er versammelt Beiträge, die Robert Walsers Hang zum exzessiven Spazieren­gehen und Wandern sowie dessen schriftliche Reflexion poetologisch untersuchen.
Das Interesse an dem Schriftsteller sei gerade vielleicht so hoch wie nie zuvor, berichtet er. »Zurzeit wird sehr intensiv geforscht, viele junge Leute sind nachgerückt. Das beschränkt sich nicht auf den deutschsprachigen Raum, sondern auch in China, Japan oder Italien gibt es Literaturwissenschaftler, die sich mit Walsers Werk beschäftigen.« Die Forschungslage sei, für den deutschsprachigen Raum gesprochen, sehr gut. Dennoch harrten von den über 1 000 erhaltenen Prosastücken Walsers noch einige der ersten wissenschaftlichen Begutachtung.

Die sehr verschiedenen Perspek­tiven der gegenwärtigen Forschung – es gebe etwa text- und editionsphilologische, biographische oder psychoanalytische Ansätze – repräsentierten in ihrer Breite auch die gesamte Leserschaft Walsers, so Sorg. Zwar sei Walser kein Autor für das breite Publikum, aber an den Besuchern des Robert-Walser-Zentrums zeige sich, dass sich Menschen mit den unterschiedlichsten Interessen und Hintergründen aus mannig­faltigen Gründen für ihn begeistern könnten. Eine so heterogene Leserschaft habe sonst kaum jemand. Dar­an, dass der Name Robert Walsers der Welt auch weiter erhalten ­bleiben wird, besteht also kaum ein Zweifel.