Die Kreml-Partei Einiges Russland hat nach offiziellen Angaben die Duma-Wahl gewonnen

Der dubiose Kantersieg

Nach offiziellen Angaben gewann die regierungstreue Partei Einiges Russland die russische Duma-Wahl überaus deutlich – nachdem die Opposition weitgehend ausgeschaltet worden war.

Es ist wieder einmal vollbracht. Nach offiziellen Angaben hat die Partei Einiges Russland bei der russischen Parlamentswahl am Wochenende einen haushohen Sieg davongetragen. Mit 49,8 Prozent liegt sie weit vor der zweitplatzierten Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 18,93 Prozent. Abgeschlagen erreichten die Liberaldemokraten 7,5 Prozent und die Partei Gerechtes Russland, die vor allem der KP Stimmen abjagen sollte, 7,4 Prozent. Bei der Duma-Wahl 2016 hatte Einiges Russland nach amtlichen Angaben noch 54,2 Prozent der Stimmen und einen Großteil der Direktmandate gewonnen, was ihr etwa drei Viertel der Mandate einbrachte. Weil die Partei bei den jetzigen Wahlen 198 der 225 Direktmandate für sich gewinnen konnte, hat sie erneut eine Zweidrittelmehrheit in der Duma, mit der sie Verfassungsänderungen vornehmen kann.

Auch ein Teil der Bevölkerung der Donezker und Lugansker »Volks­republiken«, die auf ukrainischem Gebiet liegen, durfte abstimmen; das führte zu starken Protesten der ukrainischen Regierung.

Dieses Ergebnis kam kaum überraschend, doch es bedeutet keineswegs, dass Einiges Russland, die Regierung oder sonstige staatliche Institutionen starken Rückhalt in der Bevölkerung besäßen. Walentina Matwijenko, die Sprecherin des Föderationsrats, des Oberhauses des Parlaments der Russischen Föderation, bezeichnete die Wahlen freilich als »demokratisch, transparent und legitim«, doch die Realität sieht anders aus. Einheimische Wahlbeobachter wie die unabhängige Organisation Golos berichteten von mehr als 4 900 Fällen von Wahlfälschung und sprechen von den »unfairsten Wahlen« der vergangenen zehn Jahre.

Man kennt von früheren Wahlen Videoaufnahmen, die zeigen, wie stapelweise Wahlzettel in Urnen gestopft werden. In den betroffenen Wahllokalen lag dann regelmäßig die der Regierung am nächsten stehende Partei an der Spitze. Solche Szenen widersprechen aber den vielen Paragraphen des Wahlgesetzes in allzu offensichtlicher Weise. Deshalb verliefen aus Sicht der Machthaber ideale Wahlen bislang anders: Die Wahlbeteiligung bleibt niedrig – das zu erreichen, ist beim allgemeinen Desinteresse an Politik nicht schwer –, die Stammwählerschaft tut brav, was von ihr verlangt wird, die anderen systemnahen und in der Duma vertretenen Parteien erhalten einen Teil der Manda­te. Aus dem liberalen und linken oppositionellen Lager wiederum bleiben viele den Wahlen fern, weil sie davon überzeugt sind, dass unter den gegebenen Umständen eine Stimmabgabe nichts bringe; andere machen ihr Kreuz bei Parteien, die an der Fünfprozenthürde scheitern. Heraus kommt am Ende eine Mehrheit für Einiges Russland.

Doch seit den Duma-Wahlen 2016 haben sich die politischen Voraussetzungen deutlich verändert. Einerseits schwin­det der Zuspruch für die Kreml-Hauspartei selbst in Umfragen regierungsnaher Meinungsforschungsinstitute, andererseits meldet die Opposition Ansprüche auf eine politische Interessenvertretung an. In vielen Großstädten erlangten seither Oppositionelle zu-
­nächst bei Wahlen auf der Bezirksebene Erfolge; oftmals handelte es sich jedoch um politisch unerfahrene lokale Aktivistinnen und Aktivisten. Das von Aleksej Nawalnyj und seinem Team entwickelte System des smart voting gab der Opposition ein neues Instrument an die Hand. Bei diesem wird wenige Tage vor der eigentlichen Stimmabgabe im Netz eine Empfehlung ausgesprochen für Direktkandidatinnen und -kandidaten mit den größten Chancen, in ihren Wahlkreisen mehr Stimmen auf sich zu vereinigen als die Konkurrenz vom Einigen Russland.

Bei den Moskauer Stadtparlamentswahlen von 2019 hatte das smart voting der Opposition zu mehreren Sitzen verholfen. Daraus hat die Präsidialadministration offenbar gelernt: Nicht nur wurden die Website für das smart voting und das Google Doc mit Wahlempfehlungen für zahlreiche Wahlkreise landesweit blockiert, Google und Apple nahmen zudem wegen der Androhung hoher Bußgelder die entsprechende App aus ihrem Sortiment.

Heftige Debatten lösten einige der Empfehlungen zugunsten von für die KPRF kandidierenden Personen aus; dadurch sah sich die nicht in der Duma vertretene liberale Partei Jabloko benachteiligt. Für Streit in der ohnehin sehr zerstrittenen Opposition sorgte auch, dass das smart voting weder die Feministin Aljona Popowa noch die Menschenrechtlerin Marina Litwinowitsch unterstützte, die beide in Moskauer Wahlkreisen antraten. Im einem Fall sprach sich Nawalnyjs Team für eine parteiunabhängige Kandidatin, im anderen Fall für einen Kommunisten aus.

Aus dem Gefängnis heraus kann Nawalnyj selbst nicht mehr eingreifen. Sein »Fonds zur Korruptionsbekämpfung« wurde als »extremistisch« eingestuft und praktisch zerschlagen. Sein durch die faktische Illegalisierung geschwächtes Team konnte den in der gesamten Opposition angesehenen Nawalnyj nicht ersetzen, einige seiner Mitstreiter sind ohnehin im Exil.

Zudem hat die russische Führung mittlerweile das elektronische Abstimmungsverfahren entwickelt, das bereits 2019 in einigen Moskauer Wahlkreisen zum Einsatz gekommen war. Nun waren Wahlberechtigte in sieben Regionen aufgefordert, ihre Stimme über das Online-Portal Gosuslugi abzugeben, darunter die Hauptstadt und das Gebiet Rostow. Dort durfte auch ein Teil der Bevölkerung der benachbarten »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk in der Ukraine abstimmen. In diesen verfügen inzwischen Hunderttausende über einen russischen Pass; das führte zu starken Protesten der ukrainischen Regierung. Wer zu Hause bleiben wollte, konnte im vereinfachten Verfahren eine Sozialversicherungsnummer beantragen, die zur Online-Abstimmung berechtigte; für die, die sich auf den Weg nach Russland machten, wurden die Grenzkontrollen während der drei Wahltage vereinfacht.

Transparent ist die digitale Stimmabgabe in erster Linie für die staatliche Wahlkommission. Wahlbeobachtung, die schon in vielen Wahllokalen eine Herausforderung darstellt, ist online praktisch unmöglich. An Datenschutz und Wahrung der Privatsphäre glauben viele Menschen in Russland ohnehin nicht. Hinzu kommt, dass staatliche Betriebe Druck auf Beschäftigte ausüben, ihre Stimme abzugeben: Vorgesetzte fordern nicht selten sogar Passwörter an oder es wird gleich über den Computer am Arbeitsplatz abgestimmt. Allein in Moskau waren über zwei Millionen von insgesamt etwa 7,5 Millionen Wahlberechtigten für das Online-Verfahren gemeldet, von denen 93 Prozent abgestimmt haben.

Die Vorteile dieses Wahlsystems machen sich auch im Ergebnis bemerkbar, beziehungsweise in der eklatanten Differenz zwischen den digitalen Werten und den Resultaten aus den Wahllokalen. In acht von 15 Moskauer Wahlkreisen haben die vom smart voting empfohlenen Kandidatinnen und Kandidaten gewonnen – allerdings nur nach dem klassischen, nicht dem digitalen Verfahren. Michail Lobanow, der als Parteiloser für die KPRF antrat, lag in seinem Wahlkreis weit vor dem Fernsehmoderator Jewgenij Popow von Einiges Russland, bis etliche Stunden später die Zahlen der Moskauer Online-Abstimmung Popow den Sieg verschafften. Mit der Veröffentlichung der Moskauer Ergebnisse ließ sich die Wahl-­
kommission fast einen vollen Tag Zeit; die Angaben aus den anderen an dem Projekt beteiligten sechs Regionen wurden kurz nach Schließung der Wahllokale bekannt. Das weckt weitere Zweifel an den offiziellen Wahlergebnissen.

Auch wenn sich die manuellen Auszählungsergebnisse im Laufe des Montags nach jeder Aktualisierung auffallend weiter zugunsten des Einigen Russland verschoben, darf sich die KPRF mit knapp unter 20 Prozent zu den Siegern zählen. In Jakutien liegt sie sogar an erster Stelle. Das russische Wahlsystem, das viele Bewerber von vornherein ausschließt, hat der KPRF Stimmengewinne beschert; als Parlamentspar­tei kann sie nun versuchen, sich zu profilieren. Wie viel Eigenständigkeit sich die bislang der Regierung gegenüber stets gesprächsbereite Führung der KPRF tatsächlich herausnimmt, bleibt abzuwarten. Mit den »Neuen Leuten«, die auf 5,32 Prozent kamen, zieht außerdem noch eine neue Partei ins Parlament.