Die Slowcore-Band Low und ihr neues Album »Hey What«

Mit voller Kraft auf die Bremse

Auf »Hey What« verdeutlicht die aus Minnesota stammende Indie-Band Low einmal mehr, wie nah sich Stille und Lärm sein können.

Low waren noch nie eine Band, die es irgendjemandem leicht gemacht hat – nicht einmal Alan Sparhawk selbst, der die Band 1993 mit Mimi Parker gegründet hat. Als ihn das Online-Magazin Vice vor drei Jahren darum bat, die bis dahin erschienenen Alben seiner Band in eine Rangfolge zu bringen, vom schlechtesten zum besten, sah er sich dazu außerstande. Stattdessen entschied er sich für ein anderes, vielsagendes Kriterium: »Lass uns die Alben danach bewerten, wie sehr wir vorwärts gedacht und welche Fortschritte wir dabei gemacht haben, uns zu erweitern oder das, was wir tun.« Denn Low scheuen nichts mehr als den Stillstand. Was bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, dass Stille und Langsamkeit die zentralen Merkmale der Musik sind, die die Band seit 1993 macht.

In einer Ära hemmungsloser Beschleunigung traten Low mit voller Kraft auf die Bremse und weigerten sich hartnäckig, den Fuß auch nur ein wenig vom Pedal zu nehmen. Das Gebot der Stunde lautete, aus sich herauszugehen, doch sie gingen so weit in sich hinein, wie sie nur konnten. Von Anfang waren sie eine Band der Extreme: Sie spielten ex­trem langsame, extrem introvertierte Songs, die sie dazu extrem spärlich arrangierten. Mimi Parker spielte ein Schlagzeug, das nur aus einer Snare-Drum und einem Becken bestand, erst später fügte sie noch ein Standtom hinzu. Ausschmückungen ihrer Songs über das Nötigste hinaus verweigerte die Band. Waren sie als Vorband gebucht, konnten sie sich darauf verlassen, dass einige Zuschauer den Saal verlassen würden, weil ihnen schlicht die nötige Geduld für ihre Musik fehlte. Im Prinzip hatten Low den provokativen Geist des Punkrock verinnerlicht, in der musikalischen Praxis gingen sie in die dem Punk entgegengesetzte Richtung. Kritiker hatten bald die passende Schublade für diesen Sound gefunden: Slowcore.

Es ist unmöglich, das Album »Hey What« zu beschreiben, ohne den Begriff »noise« zu benutzen.

Fast 30 Jahre später ist nun mit »Hey What« das 13. Studioalbum von Low erschienen. Oberflächlich betrachtet könnte man hier erneut davon sprechen, dass die Band sich ins Gegenteil verkehrt hätte: Es ist unmöglich, diese Platte zu beschreiben, ohne den Begriff Noise zu benutzen. Nur ist es eben nicht die Oberfläche, an der man dem Wesen dieser Musik erkennen kann. Unter Fluten von Lärm liegen immer noch dieselben Ängste wie 1994 auf dem Debütalbum »I Could Live in Hope«: vor Isolation und Entfremdung, vor Machtlosigkeit und davor, unterzugehen.

In »Disappearing«, der zweiten Single aus »Hey What«, singen Sparhawk und Parker über stets heftiger verzerrten Gitarrenspuren, die immer wieder zusammenbrechen: »Somewhere out the ocean across the waves, the rise and fall/Deep beyond imagination some kind of madness I don’t know«. Eine exemplarische Textzeile, weil sie in ihrer Vagheit umso bedrohlicher wirkt.

Das fast achtminütige »Hey« beschreibt die herrschende Depression am US-amerikanischen Beispiel mit den Worten »We didn’t get past Michigan and Lake/Before we found ourselves beneath the weight«. Im Outro muss Mimi Parkers Stimme gegen die in der Lautstärke schwankenden, übereinandergeschichteten Gitarren- und Synthesizerklänge ankommen, unter deren Gewicht sie ebenfalls unterzugehen droht. »Hey!«, stößt sie immer wieder aus, eingeengt und vor den Kopf gestoßen. Am Schluss fügt sie noch ein ungläubiges »What?« hinzu, worin sich der Albumtitel als Ausruf frustrierter Ungläubigkeit im Anblick allgegen­wärtiger Absurdität offenbart.

Den Weg, der sie hierhin führte, schlugen Low 2015 ein, als sie sich für das Album »Ones and Sixes« mit dem Produzenten BJ Burton zusammentaten, mit dem sie begannen, ihre Songs zum Erzittern zu bringen. Auf »Ones and Sixes« bleiben Parkers und Sparhawks Songs noch intakt, doch der Boden bebt bereits: eine übersteuerte Bassdrum hier, eine unerwartete Verzerrung da. Man hatte Grund, sich verunsichert umzublicken.

2018 folgte mit »Double Negative« das Erdbeben, das »Ones and Sixes« angekündigt hatte. Leise, von melancholischem Weltschmerz geprägte Songs geraten immer wieder in einen Trümmerhagel aus elektronischem Noise. Wie »Hey What« ist auch »Double Negative« so konzipiert, dass man es in einem Rutsch hören sollte, statt einzelne Favoriten herauszu­picken, weil jeder Track direkt in den nächsten übergeht und der Spannungsbogen für die Platte essentiell ist. Es gibt Momente der Besinnung, in denen die frühere Stille zurückkehrt, die nun aber, mit den rabiaten Erschütterungen der Noise-Experimente konfrontiert, verstörender wirkt als je zuvor.

»Double Negative« und jetzt auch »Hey What« weisen in ihrer Dekon­struktion des bandeigenen Sounds unerwartete Parallelen mit dem Frühwerk der Band auf, so stark sie sich auch im Klang von ihm unterscheiden. Auch »I Could Live in Hope« nahm sich etablierter Strukturen an und zerlegte sie in ihre Einzelteile: Die an Grunge erinnernde Dynamik von leisen und lauten Passagen, aus introvertierter Verzweiflung und aggressivem Ausdruck derselben, wurde auf den introvertierten Aspekt reduziert. So stark Low sich von jeglichem Anflug von Aggressivität auch distanzierten, so war Kurt Cobain, wie er auf Nirvanas 1993 erschienenem Album »In Utero« zu hören war, doch auch ihr Seelenverwandter. Inzwischen ist Aggression für Low sicher kein Fremdwort mehr, doch wo Cobains Verzweiflung in Wut mündete, die zutiefst per­sönlich war, sind es auf Lows jüngstem Alben die äußeren Umstände, die wild um sich zu schlagen ­scheinen.

»Hey What« unterscheidet sich von seinem Vorgänger vor allem in drei Aspekten: Trotz Experimentierfreude und den nicht gerade traditionell verwendeten Gitarren ist es im Kern ein Rockalbum. Außerdem bleibt der Gesang weitgehend von den Neuerungen unberührt, zumindest im Vergleich zur restlichen Klang­kulisse. Der zwischen zärtlicher Intimität und verstörter Trance pendelnde Harmoniegesang der Eheleute Sparhawk und Parker wird so klar herausgestellt, wie es bei all den zusammenbrechenden Klängen des Vorgängers wenig Sinn gemacht hätte. Beides dient dem dritten bedeutenden Unterschied zwischen beiden Alben: »Hey What« ist selbstbewusster und gibt sich kämpferisch.

»More« beispielsweise ist ein zweiminütiger Klangausbruch, in dem ein Ausdruck von Reue (»I gave more than what I should’ve lost«) in eine verhaltene, aber deutliche Drohung übergeht (»I learned more than what they ever taught«). Die erste Single »Days Like These« beginnt nur mit Sparhawks und Parkers zweistimmigem Gesang. »When you think you’ve seen everything / You find we’re living in days like these«, singen sie in einer gospelartigen Harmonie. Nach einem kurzen Ambient-Zwischenspiel setzt der Gesang wieder ein, wird nun aber von ohrenbetäubendem Lärm erschüttert, als wollte eine unkontrollierbare Kraft verhindern, dass die Gegenwartsanalyse der Band gehört wird: »Everybody just chased by dreams / That’s why we’re living in days like these / Again«. Für die restlichen drei Minuten wird nur noch das letzte Wort dieser Zeilen zu einlullender Elektronik wiederholt: »Again«. Sisyphos lässt grüßen.

In der vom Lärm verschont gebliebenen Ballade »Don’t Walk Away« geht ihnen dementsprechend auch die Kraft aus. »I cannot take any more«, singt Sparhawk. Parkers Stimme setzt mit ein und die Ehepartner teilen sich die traurigen Worte »I have slept beside you now for what seems a thousand years«. Es ist die ausgesprochene Angst vor dem Verlust von Intimität, die hier für einen Moment der Ruhe sorgt.

In den Worten, die im Eröffnungstrack den ersten Lärmausbruch der Platte einleiten, lässt sich der Kern von »Hey What« finden: »White ­horses takes us home«. Die Doppeldeutigkeit dieser Metapher – das weiße Pferd steht einerseits für heldenhaften Triumph, in der christlichen Mythologie jedoch für nahendes Unheil – findet ein Echo im letzten Track. »The Price You Pay« endet damit, wie Parker und Sparhawk – wieder vereint – die Worte »It must be wearing off« aus immer vollerem Herzen singen, während das Getöse um sie herum zunimmt, bis es plötzlich verstummt. Am Ende kann man nur raten, was es war, dessen Nachlassen zur endgültigen Ruhe führte: der Schmerz oder das Schmerzmittel? Bedeutet die Stille das Ende des Leids oder lediglich das des Leidenden? Die white horses reiten dem white noise entgegen und hinterlassen beim Hörer nur die ­Gewissheit eines nahenden Endes. Ob es ein glückliches ist oder ein tragisches, weiß in der Absurdität einer sich vor Lärm überschlagenden Welt niemand so wirklich.

Low: Hey What (Sub Pop)