Die chinesische KP führt eine Kampagne des »gemeinsamen Wohlstands«

Die Partei baut auf Philanthropie

Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping hat eine Kampagne für »gemeinsamen Wohlstand« begonnen. Ob er damit die extreme soziale Ungleichheit im Land verringern wird, ist fraglich.

Die chinesische Regierung sieht die große soziale und regionale Ungleichheit im Land als Problem. Bereits Deng Xiaoping, der 1978 die Politik der »Reform und Öffnung« initiiert hatte, definierte das Ziel des »gemeinsamen Wohlstands« als Kernelement des Sozialismus. Allerdings sollte die Regierung zulassen, dass auf dem Weg dorthin »erst die einen und später die anderen« reich werden. Ungleichheit galt als Ansporn für Wettbewerb und Wachstum, die der Staat nicht durch verfrühte Umverteilung begrenzen sollte.

Der Anteil der Steuereinnahmen am Bruttoinlandsprodukt ist in China mit 28,2 Prozent geringer als in den USA.

In der Folge wurde China zu einer Gesellschaft mit extremer Einkommens- und Vermögensungleichheit. Dem Magazin Forbes zufolge gibt es dort inzwischen 626 US-Dollar-Milliardäre, nur in den USA seien es mehr. Wie der chinesische Ministerpräsident Li Keqiang im Mai vorigen Jahres sagte, leben über 600 Millionen Menschen in China von einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 1 000 Yuan, umgerechnet rund 134 Euro. Das ist bei den vielerorts horrenden Kosten für Wohnen, Gesundheit und Ausbildung der Kinder zu wenig.

Der chinesische Staatspräsident und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), Xi Jinping, nannte in seinen jüngsten Reden mehrfach das Ziel, »übermäßig hohe Einkommen« anzupassen, und forderte Reiche sowie Großunternehmen auf, mehr für das Gemeinwohl zu leisten. Die Tech-Konzerne Alibaba und Tencent erklärten sich kürzlich bereit, jeweils über 15 Milliarden US-Dollar in Programme für »gemeinsamen Wohlstand« zu investieren und zu spenden.

Es gibt unterschiedliche Aktivitäten zur Verringerung der Armut in China. Großkonzerne wie Alibaba nehmen zum Beispiel an öffentlich-privaten Partnerschaften teil, bei denen sie lokale Verwaltungseinheiten in Armutsgebieten unterstützen. Sie helfen, zehntausenden Bauern und Bäuerinnen die Vermarktung ihrer Produkte über das ­Internet beizubringen und digitalisierte Lieferketten aufzubauen. Armut verringern zu wollen, indem man die Kommerzialisierung der Landwirtschaft und Unternehmertum fördert, ist ein neoliberales Programm. Die chinesische Regierung übt großen Druck auf Reiche und Konzerne aus, solche Programme zu unterstützen.

Als 2010 die US-Milliardäre Bill Gates und Warren Buffett 50 reiche Chinesen zu einem Treffen in Peking luden, um sie von der Philanthropie zu überzeugen, reagierten die meisten von ihnen verhalten. Die paternalistische Tradi­tion des Staatssozialismus und der »wilde Kapitalismus« der frühen Jahre der »Reform und Öffnung« hatten die Neigung zu privaten Großspenden nicht gefördert. Mittlerweile propagiert die Regierung das Leitbild eines Unternehmertums, das Gewinnstreben mit Philanthropie verbindet. Im Dezember ­vorigen Jahres besuchte Xi demonstrativ das von dem Großunternehmer Zhang Jian (1853–1926) gegründete Nantong- Museum in der gleichnamigen ost­chinesischen Stadt. Zhang förderte mit seinem Vermögen den Aufbau mehrerer Universitäten.

Umverteilung durch Besteuerung spielt in China bislang keine große ­Rolle. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds beträgt der Anteil der Steuereinnahmen am Bruttoinlandsprodukt in China 28,2 Prozent, weniger als in den USA (31,8 Prozent) und im Durchschnitt der OECD-Staaten (40,3 Prozent). Einen Großteil der staat­lichen Einnahmen generiert die Regierung immer noch durch den Staatssektor und Monopole. Über eine Erbschaftssteuer wurde mehrfach diskutiert, eingeführt wurde sie bislang nicht. Nach den umfassenden Enteignungen der Mao-Ära entstand in den achtziger Jahren eine neue Kapitalistenklasse. Nicht wenige der neuen Kapitalisten waren von armen Bauern zu Millionären geworden. Mittlerweile gibt es eine sogenannte zweite reiche Generation, die ihr Vermögen von ihren Eltern geerbt hat.

In China existiert bisher auch keine einheitliche Steuer auf Eigentum an Immobilien. Die Regierung hat Shanghai und Chongqing zu Modellstädten gemacht, in denen erprobt werden soll, welche Auswirkungen die Einführung einer solchen Steuer hat. Lokale Experimente mit Modellprojekten sind in China üblich, bevor die Zentralregierung sich für eine landesweite Maßnahme entscheidet. In Shanghai wurde die Besteuerungsrate auf 0,4 bis 0,6 Prozent des letzten Verkaufspreises der Immobilie festgesetzt, was aber nur für Luxusimmobilien gilt. Allerdings gehört in China den Eigentümern nur die Immobilie, der Boden ist Staatseigentum. Für die lokale Verwaltung ist die Weiterverpachtung des Bodens eine zentrale Einnahmequelle – unwahrscheinlich, dass sie ein Interesse an einer stärkeren Regulierung des Immobiliensektors hat, obwohl sie auf staatliches Geheiß mehr Sozialwohnungen bauen soll.

Zur Erreichung des »gemeinsamen Wohlstandes« hat die Zentralregierung die Provinz Zhejiang zum Modell gemacht. In der Provinz leben über 57 Millionen Menschen, sie gehört zu den entwickelten Gebieten des Landes. In der Provinzhauptstadt Hangzhou hat Alibaba seinen Sitz. Nach dem offiziellen Plan soll die Provinz bis 2025 das Niveau des Bruttoinlandsprodukts eines moderat entwickelten Staats erreicht haben, zehn Jahre vor dem gesamten Land. Die Zahl der Menschen mit mitt­leren Einkommen soll vermehrt werden. Dem Plan zufolge sollen in der Provinz durch private und öffentliche Investitionen Millionen Start-up-Unternehmen und innovative Wirtschaftseinheiten sowie fünf Millionen neue Arbeitsplätze in Städten geschaffen werden. Angestrebt werden auch die Erhöhung der Urbanisierungsquote und die Kommerzialisierung der Landwirtschaft, um den Gegensatz von Stadt und Land abzuschwächen. In dieser Zukunftsversion ist kein Platz mehr für den sich selbst versorgenden Kleinbauern.

Ein anderes Element der Strategie ist die Förderung von Bildung. In der Provinz sollen 70 Prozent eines Jahrgangs im Studienalter eine Hochschule ­besuchen, deutlich mehr als derzeit in Deutschland. Das durch hohe Immo­bilienpreise verursachte Problem der Unerschwinglichkeit von Wohnungen soll unter anderem der Bau von 210 000 subventionierten Mietwohnungen lösen. Der Plan macht deutlich, dass die Regierung weiterhin Wirtschaftswachstum und Investitionen in die In­frastruktur als Weg zum »gemeinsamen Wohlstand« sieht, aber keine weitgehende soziale Umverteilung plant.

Seit Jack Ma, ehemals Vorstandsvorsitzender von Alibaba, Ende vorigen Jahres für einige Monate aus der Öffentlichkeit verschwand und die Regierung ansetzte, mehrere Branchen stärker zu regulieren, wird im In- und Ausland spekuliert, dass die Regierung unter dem Label des »gemeinsamen Wohlstands« gegen die Superreichen vorgehen wolle oder sogar Enteignungen plane. Die Website der offiziellen Chinesischen Volkszeitung versuchte Ende August zu beruhigen: Die Partei habe nicht vor, »die Reichen zu töten, um den Armen zu helfen«. Tatsache ist, dass die KPCh und die Staatsmedien erst dazu beigetragen hatten, dass Milliardäre wie Jack Ma in China zu Helden­figuren wurden.

Mit Alibaba ist ein monopolartiger Konzern entstanden, der den digitalen Handel dominiert. Zudem benutzen 70 Prozent der Bevölkerung die konzern­eigene App Alipay zum Bezahlen. Die Tochtergesellschaft Ant Group hat über 20 Millionen Kleinunternehmen und etwa einer halben Milliarde Einzelpersonen Kredite gewährt, zum Großteil gedeckt durch Staatsbanken.

Inzwischen scheint die Regierung die Wirtschaftsmacht des Konzerns beschneiden zu wollen. Im April verhängten die Behörden eine Kartellstrafe von umgerechnet 2,8 Milliarden US-Dollar gegen Alibaba. Kürzlich wurde ­bekannt, dass die chinesische Internet­aufsichtsbehörde neue Regeln gegen Manipulation von Algorithmen, Rankings und Kundenbewertungen bei Online-Verkäufen sowie eine Aufwertung des Datenschutzes der Nutzer plant. Die Regierung hatte bisher wenig dafür getan, dass in der Bevölkerung überhaupt ein Bewusstsein für Datenschutz entsteht.

Diese Maßnahmen haben allerdings, anders als manche meinen, wenig mit einem »Red New Deal« oder gar einer Rückkehr zu Maos Sozialismus zu tun. Wie viele entwickelte kapitalis­tische Staaten sieht sich auch China genötigt, die wirtschaftliche Macht der Tech-Konzerne nicht ins Uferlose wachsen zu lassen.
Maßnahmen mit dem Ziel des »gemeinsamen Wohlstands« zu begründen, ist allerdings nicht neu. Bereits die Regierung unter Staatsprä­sident Hu Jintao (2003–2013) schrieb sich das Motto auf die Fahnen. Sie ­änderte das ­Arbeitsrecht leicht zugunsten der Beschäftigten, förderte den Wiederaufbau einer ländlichen allgemeinen Krankenversicherung und ­investierte in Infrastruktur im Rahmen der Kampagne für das »neue sozialistische Dorf«. Gegen Ende von Hus Amtszeit war die soziale Ungleichheit allerdings weiter gewachsen.