In Rumänien ist die Covid-19-­Pandemie ­außer Kontrolle geraten

Jeden Tag stirbt ein Dorf

In Rumänien ist die Pandemie außer Kontrolle geraten. Gezielte Desinformation, Korruption und eine Regierungskrise haben daran großen Anteil.

»Katastrophe«, »Zusammenbruch«, »Apokalypse«, »jeden Tag stirbt ein ganzes Dorf« – die Worte, mit denen Ärzte und Journalisten die grassierende Pandemie in Rumänien beschreiben, sind alarmierend. Videos und Berichte aus rumänischen Krankenhäusern zeichnen ein ebenso düsteres Bild. Die zahlreichen Toten liegen in Plastiksäcken auf dem Flur, weil keine Zeit und kein Platz ist, sie wegzuschaffen. Neu ein­gelieferte Patienten werden auf kaputte Bürostühle gesetzt und im Sitzen be­atmet, weil die noch schwerer Erkrankten alle verfügbaren Betten belegen.

Dass es sich hierbei keinesfalls um Einzelfälle handelt, bestätigen die Zahlen. Rumänien hatte in der vergan­genen Woche, bezogen auf die Bevölkerungszahl, die zweithöchste Todesrate weltweit vorzuweisen. Die aktuellen Todeszahlen bewegen sich zwischen 300 und 500 am Tag, was der Einwohnerzahl eines kleinen Dorfs entspricht. So schlimm war die Situation in den eineinhalb Jahren seit Beginn der Pandemie noch nicht. Es scheint, als verstärkten sich gleich mehrere Probleme gegenseitig. Manche Beobachter befürchten gar die Entstehung einer rumänischen Mutation des Virus, wenn er sich ­weiter nahezu ungehindert ausbreiten kann.

Rumänischen Krankenhäusern mangelt es nicht nur an Personal und Ausstattung. Die omnipräsente Korruption hat jegliches Vertrauen in das Gesundheitssystem zerstört.

In Krisenzeiten schlägt die Stunde der Exekutive, liest man zurzeit häufig in politischen Analysen zur Pandemie. Doch was tun, wenn es gar keine Exekutive gibt? Seit Ministerpräsident Florin Cîțu von der Nationalliberalen Partei (PNL) am 5. Oktober ein Misstrauens­votum verloren hat, ist er nurmehr geschäftsführend im Amt. Bereits die Monate zuvor war er in einen parteiinternen Machtkampf mit seinem Amtsvorgänger Ludovic Orban verstrickt gewesen. Die Krise beschäftigte die rumänische Regierung in den vergangenen Monaten offenbar so sehr, dass sie sich kaum Gedanken um die Covid-19-Pandemie machte. So erklärten Cîțu und Staatspräsident Klaus Johannis diese im Sommer gar für beendet und versprachen, die Beschränkungen nach und nach zu lockern.

Mittlerweile ist davon keine Rede mehr. Johannis verordnete eine zweiwöchige Schließung der Schulen ab dem 25. Oktober, die Wiedereinführung der Maskenpflicht und eine nächtliche Ausgangssperre für Ungeimpfte. Ob mehr Anreize fürs Impfen gesetzt werden, hängt vom designierten Ministerpräsidenten ab, dem General und bisherigen Verteidigungsminister Nicolae Ciucă. Ihn hatte Johannis am 20. Oktober mit der Regierungsbildung beauftragt, nachdem sein erster Kandidat, der ehemalige Ministerpräsident Dacian Cioloș (November 2015 bis Januar 2017), gescheitert war. Immerhin hat der ­Vorsitzende der oppositionellen Sozialdemokratischen Partei (PSD), Marcel Ciolacu, auf Cioloș’ militärische Karriere anspielend, einen »politischen Waffenstillstand« angeboten, um die aktuelle Krise gemeinsam zu überwinden.

Das größte Problem ist die niedrige Impfquote. Sie ist mit 33 Prozent vollständig Geimpfter die zweitniedrigste in Europa, nur in Bulgarien ist sie noch geringer. Dies hat auch mit dem schlechten Gesundheitssystem zu tun. Rumänischen Krankenhäusern mangelt es nicht nur an Personal und Ausstattung. Die omnipräsente Korrup­tion, in der Patienten von der Ärztin über die Pflegenden bis hin zur Rei­nigungskraft alle Beschäftigten schmieren müssen, um von ihnen versorgt zu werden, hat jegliches Vertrauen in das Gesundheitssystem zerstört.

Viele Rumäninnen und Rumänen bleiben selbst ausländischen medizinischen Einrichtungen gegenüber misstrauisch. Ungarn hat in der Notlage einige rumänische Patienten aufgenommen, um sie auf Intensivstationen zu behandeln. Manche rumänische Erkrankte weigern sich aber, ins benachbarte Ausland gebracht zu werden. Die rumänische Ausgabe von Newsweek berichtete, diese Patienten befürchteten, dass sie im Krankenhaus im Ausland nicht mit Essen versorgt würden, da ihnen Verwandte nichts bringen könnten, wie in Rumänien üblich und notwendig.

Während die Korruption so alltäglich ist, dass sie in den Nachrichten nur ­selten behandelt wird, schockieren Fernsehberichte über Krankenhausbrände das Land immer wieder. Allein seit Beginn der Pandemie hat es in drei ru­mänischen Krankenhäusern große Brände gegeben, denen insgesamt 34 Menschen zum Opfer gefallen sind. In allen drei Krankenhäusern war das Feuer auf den Covid-Stationen ausgebrochen, auf denen viel mit Sauerstoff zur ­Behandlung der Patienten hantiert wird. Ob es an übermüdetem oder leichtsinnigem Personal oder mangelhafter Technik lag, ist noch nicht geklärt. Zumindest verstärken die Brände das Misstrauen gegen Krankenhäuser.

Ein weiteres Problem ist die Unmenge an fake news, die über Covid-19 und Impfungen kursieren, und die daher oft als »Infodemie« bezeichnet werden. Deren Verbreiter sind insbesondere Nationalisten, Priester und allerlei Scharlatane, die teils zusammenarbeiten, wie beispielsweise die rechtsextreme Senatorin Diana Șoșoacă und der orthodoxe Erzbischof aus der Hafenstadt Constanța, Teodosie Petrescu. Șoșoacă hatte den Coronaleugner 2020 nicht nur als Anwältin vor Gericht vertreten, sondern organisiert und redet auch auf Demonstra­tionen gegen die Pandemiemaßnahmen. Als Mitorganisatorin der Proteste wurde sie zum Bindeglied zwischen Coronaleugnern und der 2019 gegründeten rechten Allianz für die Vereinigung der Rumänen (AUR); im Dezember 2020 verhalf unter anderem ihre Po­pularität der AUR zum Sprung ins Parlament; sie selbst wurde Senatorin. Die AUR hat sich des Themas seither angenommen und immer wieder Demon­strationen gegen die Pandemiemaßnahmen im ganzen Land organisiert. Zwar wurde Șoșoacă im Februar aus der Fraktion der AUR ausgeschlossen, ist jedoch bei Antena 3, einem der meistgesehenen Fernsehsender des Landes, häufig zu Gast und verbreitet dort ihre Antiimpfpropaganda.

Geistliche gehören weiterhin zu den führenden Coronaleugnern. Kürzlich wurde gegen den orthodoxen Bischof des südrumänischen Giurgiu ein Strafverfahren eröffnet, weil er behauptet hatte, die Haltbarkeit der Impfstoffe sei abgelaufen. So etwas bleibt nicht ohne Wirkung. Die Rumänisch-Orthodoxe Kirche bleibt ungeachtet aller politischen Veränderungen eine bedeutende gesellschaftliche Macht im Land. Einer Um­frage von Radio Free Europa/Radio Liberty von 2019 zufolge gaben 64 Prozent der Bevölkerung in Rumänien an, an Gott zu glauben – mehr als in jedem andern EU-Land.

Doch es gibt auch Bespiele für umsichtige Priester. So lud Medienberichten zufolge ein Bukarester Priester eine Ärztin in seine Kirche ein, um über die Impfung aufzuklären und Vorur­teile abzubauen. Was in einer Kirche passiert, entscheiden oft die Geistlichen vor Ort. In einem internen kirchlichen Rundschreiben vom 21. Oktober schritt nun jedoch das Oberhaupt der Rumänisch-Orthodoxen Kirche, Patriarch Daniel Ciobotea, gegen allzu öffentlichkeitswirksame Stellungnahmen seiner Untergebenen ein und erinnerte daran, dass sich zu Fragen nationaler Bedeutung nur die Synode, die Versammlung der Bischöfe, oder er selbst äußern dürfte. Das Schreiben wurde vom Nachrichtenportal G4 Media veröffentlicht. Explizit mahnt der Patriarch, sich weder gegen noch für Impfungen auszusprechen, und verweist außerdem darauf, nicht gegen den rumänischen Staat und den Präsidenten zu agieren. Daran lässt sich erkennen, dass es ihm eher um die Erhaltung der Partnerschaft mit dem Staat geht, die der Kirche Abermillionen an öffent­lichen Zuwendungen einbringt, als um die Gesundheit.

Dass die Kirche überhaupt als Meinungsbildnerin in Gesundheitsfragen ernst genommen werden muss, ist ­indes Ausdruck des Versagens des Bildungssystems. In einem Interview mit der rumänischen Newsweek zieht der Klausenburger Psychologe Daniel David eine vernichtende Bilanz des Bildungsstandes der Rumäninnen und Rumänen, insbesondere im naturwissenschaftlichen Bereich. Das ganze Land sei geprägt von »wissenschaftlichem Analphabetismus« und fehlendem Vertrauen in Wissenschaft. Dafür herrsche viel Aberglaube und fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler seien laut PISA-Studie funktionale ­Analphabeten. Besonders in den Naturwissenschaften schnitten sie äußerst schlecht ab. Das habe bereits vor der Pandemie dazu geführt, dass viele Rumäninnen und Rumänen Impfungen ablehnen. Bei einem Masernausbruch im Jahr 2019 seien die Bürgerinnen und Bürger zu ihrer Meinung über Impfungen gefragt worden. Nur 54 Prozent der Befragten seien davon überzeugt gewesen, dass der Nutzen von Impfungen größer sei als der Schaden, 28 Prozent glaubten, dass der Schaden überwiege. Ob das derzeitige Sterben an Covid-19 im Land die Einstellung ändern wird, bleibt abzuwarten.