Die gelungene Neuübersetzung von James Baldwins Roman »Ein anderes Land«

Keine neue Welt

James Baldwins 1962 erschienener Roman »Another Country« liegt in einer gelungenen Neuübersetzung vor. »Ein anderes Land« ist mehr als aktuell, auch weil das Buch Antworten auf die Forderungen der Identitätspolitik gibt.

»Kriegt euch ’nen Drink, Kinderchen«, sagte eine Romanfigur in der deutschen Fassung von James Baldwins Roman »Another Country« (1962), die unter dem Titel »Eine andere Welt« 1965 erschienen ist. Was nach automatischer Übersetzung durch eine Software klingt, stammt von Hans Wollschläger. Seit seiner Übertragung von James Joyce’ Klassiker »Ulysses« ins Deutsche (1975) zählt er zu Recht zu den ganz Großen seines Fachs. Als er jedoch in den sechziger Jahren Baldwins »Another Country« übersetzt hatte, waren ihm manchmal nicht mal die im Deutschen geläufigsten Redewendungen eingefallen.

Seit einigen Jahren wird der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin wiederentdeckt. 2016 hatte der auf einem Textfragment Baldwins basierende, vielbeachtete Dokumentarfilm »I Am Not Your Negro« Premiere. Bei der Münchner Verlagsgesellschaft DTV erscheinen seine Bücher in den Neuübersetzungen von Miriam Mandelkow. Nach »Nach der Flut das Feuer« (»The Fire Next Time«) 2019 und »Giovannis Zimmer« 2020 ist in diesem Jahre die Neufassung von »Another Country« unter dem Titel »Ein anderes Land« erschienen. Der Roman handelt von strukturellem Rassismus, Homosexualität und der Feindschaft gegen Schwule und Lesben, es geht um Ausgrenzung und Anerkennung. Und obwohl es sein dritter Roman war, hat sich Baldwin mit ihm schwergetan. 14 Jahre hat er daran gearbeitet. Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler hält ihn für gescheitert. Seine »sprachliche Missgestalt« verweise »auf ein tieferes Manko, eine intellektuelle Schwäche Baldwins in seinen mittleren Jahren«. In dem Roman werde vor allem geredet und getrunken, monierte sie in der Süddeutschen. »So minimal das Geschehen, so ausufernd wird darüber diskutiert.«

Schwarze und Weiße leben auch dann in völlig verschiedenen Welten, wenn sie miteinander leben. Mehrmals fällt der Satz, dass Hautfarbe doch keine Rolle mehr spiele. Aber die Aussage blamiert sich jedes Mal aufs Neue an der Wirklichkeit.

Das liegt auch in dem Plot begründet. Eine Schwere liegt über der ganzen Handlung, die Geschichte ist von der Trauer um den afroamerikanischen Jazzmusiker Rufus Scott, der sich das Leben genommen hat, überschattet. Baldwin erzählt, wie die Menschen aus Rufus’ Freundes- und Bekanntenkreis versuchen, mit diesem Schicksalsschlag umzugehen. Allerdings erscheint der Musiker nicht bloß als Opfer einer rassistischen Gesellschaft. Gegen seine aus den Südstaaten stammenden weißen Geliebten war er mehrmals gewalttätig geworden. Sein alter Freund Vivaldo, Sohn italienischer Einwanderer, will es in der Beziehung mit Rufus’ jüngerer Schwester Ida besser machen. Doch auch sie scheitern.

Ein Roman ist immer auch das Zeugnis der Zeit und der Gesellschaft, in der der Autor gelebt und geschrieben hat. Auch und gerade das Scheitern an den vorgefundenen Bedingungen sowie die Ideale, die Phantasien, das Begehren einer Epoche in eine überzeugende Romanhandlung einzuarbeiten, kann bedeutsam sein. Baldwins Roman zeigt das Scheitern, im Kleinen eine neue Welt zu erschaffen.

Dabei entwirft der Roman keine Utopie. Er zeigt den Alltag von jungen Erwachsenen im New York der späten fünfziger Jahre, ihre Beziehungen, ihre Partys, ihre Innenwelt. Schwarze und Weiße leben auch dann in völlig verschiedenen Welten, wenn sie miteinander leben. Mehrmals fällt der Satz, dass Hautfarbe doch keine Rolle mehr spiele. Aber die Aussage blamiert sich jedes Mal aufs Neue an der Wirklichkeit. »Unser Zusammensein verändert nicht die Welt, Vivaldo«, erklärt Ida ihrem Freund, worauf dieser entgegnet: »Für mich schon.« »Ja, weil du weiß bist.«

Als das Buch 1962 erschien, stand die sexuelle Befreiung noch aus, gleichgeschlechtliche Beziehungen waren in den meisten US-Bundesstaaten verboten, der Begriff Queerness noch nicht etabliert. Baldwins Romane lesen sich stellenweise aber erstaunlich queer. Als Vivaldo mit einem alten Freund nach einer Party etwas bekifft auf einem Bett liegt, weist er dessen deutliche Annäherungsversuche mit den Worten ab: »Versteh mich nicht falsch, Mann, aber meine Zeit mit Jungs ist lange her. Ich bin jetzt mit Mädchen zugange.« Noch erstaunlicher ist die Beiläufigkeit, mit der der Wandel des Verlangens beschrieben wird. »Manchmal ging ein Junge an ihm vorbei (…), und er sah ihm ins Gesicht und auf den Arsch und fühlte etwas, wollte den Jungen anfassen, ihn zum Lachen bringen, ihm auf den Po klatschen. Also wusste er, dass es da war, und wahrscheinlich hatte er keine Angst mehr davor; doch vielleicht war ihm der Preis zu hoch, es war nicht wichtig genug.« Und noch erstaun­licher ist, dass das Wissen um die Ambivalenz des eigenen Begehrens ohne die Abwehr und die Abwertung des anderen auskommt. Zugleich ist die Homofeindlichkeit der Gesellschaft im Roman allgegenwärtig.

Mit der Darstellung der Lust zwischen zwei Männern schockierte Baldwin in den fünfziger Jahren sein ­Publikum – und lockte vermutlich auch Leser an. In dem Roman »Giovannis Zimmer« von 1956 findet diese Lust hinter verschlossenen Türen statt; in der Öffentlichkeit verleugnet der Protagonist seine Homosexualität und verstößt seinen Liebhaber. Zugleich stellt Baldwin die Beziehung zwischen den Liebenden als den Ort dar, an dem die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen und Machtverhältnisse aufgehoben werden können. Die beiden Männer könnten, rät ein Bekannter, »einander etwas geben, das euch beide ­besser macht – für immer –, wenn ihr euch nicht schämt«.

Im Nachwort zu »Giovannis Zimmer« erinnert Sasha Marianna ­Salzmann an Aussagen von James Baldwin, die noch besser zu »Ein ­anderes Land« passen würden. Mit einem gay rights-Aktivisten erklärte sich Baldwin solidarisch, betonte aber, er sei »kein Mensch, der sich mit Gleichgesinnten in tribes, in Stämmen, zusammenfinden möchte«. Wenn Baldwins Texte heute im Zusammenhang mit den Forderungen der »Black Lives Matter«-Bewegung gelesen werden, ist das einerseits berechtigt. Die Kritik des strukturellen Rassismus wird in seinen Romanen vorweggenommen. Baldwin setzte sich viel weniger mit klassischen Rassisten und dem Ku-Klux-Klan aus­einander als mit dem liberalen Milieu. Die »meisten weißen Amerikaner«, die er kenne, sagt er 1963 in einem Fernsehinterview, hätten »nichts gegen Schwarze«. Aber das sei nicht entscheidend. Entscheidend sei »diese Apathie und das Unwissen, die der Preis der Segregation sind«.

Andererseits taugt Baldwins Analyse nicht zu antirassistischer Identitätspolitik. Wie der Autor zu Beginn des Films »I Am Not Your Negro« sagt, engagiere er sich nicht gegen Rassismus wegen der Ungerechtigkeiten und der Gewalt, die »den Schwarzen« angetan werden. Die entscheidende Frage sei vielmehr: »Was geschieht mit diesem Land?« Es geht um ein Land, das nach wie vor für Schwarze und Weiße, für Homo- und für Heterosexuelle ein anderes ist.

James Baldwin: Ein anderes Land. Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow. DTV, München 2021, 576 Seiten, 25 Euro