»Cringe« ist das diesjährige Jugendwort

Alles cringe, Ende cringe

»Cringe« wurde zum Jugendwort des Jahres 2021 gewählt. Es nur den Jugendlichen zu überlassen, wäre aber falsch.

Das Prozedere ist jedes Jahr dasselbe: Seit 2008 kürt der Langenscheidt-Verlag das Jugendwort des Jahres, und sobald die Jury ihren Favoriten verkündet hat, folgt die immer gleiche Belustigung über die Entscheidung. Die Auseinandersetzung mit der großen Blackbox Jugendsprache findet in fast schon betont steifer Form statt, was auch für die mediale Weiter­verarbeitung in den Öffentlich-Rechtlichen gilt.

Ob das nun zum PR-Plan des Verlags gehört oder dessen Scheitern bezeugt, ist keine allzu originelle Frage: Sich über das Jugendwort des Jahres zu amüsieren, ist so etwas wie die Diskussion über den »Tatort« am Montagvormittag, mit dem Unterschied, dass alle einer Meinung sind. Niemand mag das Jugendwort des Jahres, und selbst wenn einzelne Fälle bekannt sein sollten, in denen sich das Jugendwort vor seiner Kür durch den Langenscheidt-Verlag größerer Beliebtheit erfreute – danach ist es damit ganz sicher vorbei.

In einer Gesellschaft, in der man gemeinsam mit jemandem wie Franziska Giffey leben muss, ist cringe ein nützliches Wort.

So geht es Jahr für Jahr. In den Kommentarspalten trifft sich die Häme derjenigen, die jedes Mal aufs Neue anmerken müssen, dass die Jugend ja überhaupt nicht so spreche, mit der konservativen Angst derjenigen, die sehr wohl davon ausgehen, dass die Jugend so spreche, und genau darin das letzte Zeichen des Verfalls der deutschen Sprache oder gleich der ganzen Kulturnation sehen wollen.

Jetzt wurde »cringe« gekürt, ein seit Jahren auf verschiedenen Social-Media-Plattformen herumgeisterndes Wort. Dieses, eigentlich ein Verb, beschreibt diesen Moment, in dem Scham besonders körperlich spürbar wird; den Moment, in dem sich alles zusammenzieht. Eine solche Wirkung haben zum Beispiel die einstudierten pseudolockeren Gesten der Anbiederung, die insbesondere Berufspolitiker so unangenehm schlecht beherrschen. Damit lässt sich ein Teil der Beliebtheit des Worts begründen: In einer Gesellschaft, in der man gemeinsam mit jemandem wie Franziska Giffey leben muss, ist cringe ein nützliches Wort. Davon abgesehen gibt es kein deutsches Pendant dazu. »Fremdscham« ist nur eine mäßige Annäherung, der ins­besondere die körperliche Dimension fehlt, wo der Schauer des Unbehagens, den cringe beschreibt, auch mal als angenehm empfunden werden kann. Es hat schon Gründe, warum Internetnutzer ihre Augen nicht von den metaphorischen Autounfällen in ihren Timelines lassen können.

Obwohl seit 2019 auch Jugendliche über das Jugendwort abstimmen dürfen, ist der Vorwurf gegen das Wort von 2021, es sei im engeren Sinne gar nicht Jugendsprache, voll zutreffend. Nicht nur gebrauchen Menschen jeden Alters das Wort, auch droht ­jeder Gebrauch selbst wieder, cringe auszulösen. Das gilt für Nachwuchspolitiker, die sich an Wahlkampf-Memes versuchen, für Redakteure der Welt, die mit dem Deutschrap-Vokabelheft neben der Tastatur ihre Artikel schreiben – und natürlich erfüllt auch dieser Artikel über cringe den Tatbestand des Cringe. Es gibt keine Möglichkeit, sich irgendwie mit cringe auf eine Weise auseinanderzusetzen, die nicht selbst wieder cringeworthy wäre. Und weil das so wunderbar funktioniert, wäre es furchtbar, diesen Begriff allein den Jugendlichen zu überlassen.

Doch genau an diesem Punkt der universellen Anwendbarkeit verliert der Vorwurf sofort wieder einiges an Bedeutung. Denn mit cringe verhält es sich wie mit Ideologie und Mundgeruch: Beides haben immer die anderen. Die politische Aneignung des Begriffs, wie sie Ferdinand Meyen im »Zündfunk« auf Bayern 2 beschrieb, der in cringe gerne ein »Unbehagen an der Gesellschaft« sehen will, sollte daher auch nicht überbewertet werden – sie funktioniert in alle Richtungen. Symptomatisch dafür: Der offizielle Twitter-Account von »Fridays for Future« schrieb nach der Bekanntgabe des Jugendworts, ein besonders gutes Beispiel für cringe sei die Klimapolitik der vergan­genen Jahre. Worauf die Kritiker der Klimapolitikkritik entgegneten, cringe sei vielmehr genau diese Aussage. Vielleicht ließe sich schon vor der Kür zum Jugendwort des Jahres, die traditionell ihren Gewinner damit auch gleich beerdigt, konstatieren: alles cringe, Ende cringe. Bliebe wohl auch noch anzumerken, dass falsche Politik nicht peinlich sein muss, um falsch zu sein.

Überhaupt liegt cringe als dem Effekt des Gegenteils irgendwie an­erkannt coolen Verhaltens viel eher ein resignatives Konzept zugrunde, ließe sich doch das betonte Gegenteil von cringe als Zustand abgeklärter Distanz beschreiben. Auf der einen Seite der Grenze stehen mit erhobenen Daumen die positiven Schreckgestalten medialer Inszenierung. Auf der anderen Seite versammeln sich die distanzierten Bescheidwisser, die das Internet nach den Auslösern ­jenes wohlig-ekligen Schauers durchsuchen, den sie dabei verspüren, wenn jemand wieder etwas richtig Unangenehmes gepostet hat. Es geht dann in letzter Instanz doch darum, sich selbst keine Blöße zu geben – und auf die des anderen zu zeigen.

Darin unterscheidet sich die (ob nun echte oder nur vermeintliche) Jugendsprache eben nicht grundsätzlich von den Einlassungen der Erwachsenenwelt, wie auch die Jugend nicht einfach etwas anderes sein kann, erfährt sie doch die grundlegenden Momente ihrer Sozialisation in derselben Gesellschaft, die genau den Cringe hervorbringt, der dieses Wort überhaupt erst möglich gemacht hat.

Und je mehr eben diese Gesellschaft an positiver Grundeinstellung und Can-do-Attitüde einfordert, desto eher kommt der Begriff cringe zu seinem Recht. Keine Frage, er trifft sehr häufig die Richtigen: Der ehemalige rheinland-pfälzische AfD-Fraktionschef Uwe Junge, der oben ohne und in Boxerpose der Welt mannhaft zu verstehen gab, er könne das »Gendergeschwätz« nicht mehr hören, ist der Inbegriff von cringe.

Deshalb wohl hat cringe seine häufigste Verwendung auf Twitter gefunden, wo einstudierte Gesten des Politik- und Medienbetriebs auf eine anarchisch-kreative Masse an meist anonymen Accounts stoßen, die allesamt für sich die Freiheit einfordern, über alles lachen zu dürfen, am liebsten aber über die Peinlichkeit professioneller Selbstdarstellungen. Cringe ist schnell identifiziert und besonders cringeworthy sind all jene Inszenierungen, die am deutlichsten Beifall und Zustimmung heischen und deren Inszenierer sich ihrer selbst am sichersten sind. Wer wirklich konsequent cringe vermeiden will, dem bleibt eigentlich nur der Platz des kalten, unbeteiligten Zuschauers, der kommentiert und urteilt. Jeder Appell aber an die Welt und ihre Bewohner kann cringe auslösen. Das ist das Risiko, das man eingeht. Dieses Risiko ist nämlich nicht nur dort besonders groß, wo man sich allzu sicher ist, sondern auch dort, wo es wirklich um etwas geht. Aber mit Menschen, die sich nach Kräften bemühen, ja kein cringe zu verursachen, möchte man vermutlich auch nicht Bier und Zigarette teilen.

Einer der jüngsten, relativ eindeutigen Fälle von cringe im deutschen Twitter-Betrieb kam übrigens von der ehemaligen Bundesfamilienministerin Kristina Schröder, die auf die Premiere ihres Buchs »Freisinnig« mit den Worten hinwies, sie werde es gemeinsam mit Deniz ­Yücel vorstellen – »mit dem mich seit seiner Zeit bei der Jungle World ­bemerkenswerte gemeinsame Überzeugungen verbinden«.