In der Türkei sind immer mehr Menschen auf private Unterstützungsprogramme angewiesen

Milde Gaben reichen nicht

In der Türkei führt die Wirtschaftskrise, verstärkt durch die Pandemie, dazu, dass immer mehr Menschen verarmen. Die Stadtverwaltungen der Istanbuler Bezirke unterhalten verschiedene Unterstützungs­pro­gramme für Bedürftige.
Reportage Von

Mehmet G. und seine Frau Özlem stehen schüchtern vor einer Gruppe Sitzmöbel: ein weinrotes Sofa mit passenden Sesseln, daneben Beistelltische. Im Laden stapeln sich Hausrat, Möbel, Geschirr, Kleidung, Kinderspielzeug, aber auch Grundnahrungsmittel wie Öl, Hülsenfrüchte und Tomatenmark gibt es hier. »Glücklich in Beşiktaş« lautet der Slogan der Stadtverwaltung, die seit zwei Jahren dieses »Volkswarenhaus« betreibt. Die Waren sind Spenden, die an Bedürftige verteilt werden. Diese bekommen aufladbare Warenkarten nach einem Punktesystem und können damit hier einkaufen. Direkt vor dem Eingang hängt das Schild, »Halk Mağazası« (Volkswarenhaus), der fensterlose Laden ist von außen nicht einsehbar. Die Menschen können dort ungestört und anonym einkaufen.

»Alles wird teurer, viele haben ihren Arbeitsplatz verloren. Wenn dann noch Schulden dazukommen und Angehörige zu Hause versorgt werden müssen, entsteht schnell eine Notlage.« Rojda Karadaş, Leiterin des Volks­waren­hauses in Beşiktaş

Mehmet und Özlem sind unschlüssig. Sie gehören zu den 300 Antragstellern im Oktober, die die Stadtverwaltung Beşiktaş mit Sachspenden versorgt. Ihnen steht derzeit zum Leben nicht einmal das türkische Mindesteinkommen von umgerechnet rund 350 Euro brutto monatlich zur Verfügung. Deswegen haben sie in Beşiktaş Anspruch auf Hilfsleistungen, da die Kommune solche Leistungen in eigener Initiative anbietet. »Ich habe meine Stelle als Verkäufer vor fast einem Jahr verloren«, erzählt Mehmet und betrachtet das begrenzte Warenangebot. In dem Einkaufszentrum, in dem er früher gearbeitet hat, habe es eine Riesenauswahl an allem gegeben. Mittlerweile meide er solche Einkaufszentren, denn schon lange könne er sich all diese Dinge nicht mehr leisten. Mehmet ist 32, Özlem 28; auf ihre gemeinsame vierjährige Tochter passe zu Hause Mehmets Mutter auf. Doch diese sei stark gehbehindert. Özlem sagt, sonst pflege sie ihre Schwiegermutter zu Hause und passe gleichzeitig auf das Kind auf. Ihr Mann gehe Gelegenheitsjobs nach. Das Paar habe sich im vergangenen Jahr durch Einkäufe mit verschiedenen Kreditkarten erheblich verschuldet. Nun müssten sie die Schulden abbezahlen und irgendwie ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Rojda Karadaş leitet den Laden für Bedürftige. Sie sitzt in einem provisorischen Büro, das nur aus einem Schreibtisch hinter einer Plexiglasscheibe ­besteht. »Im vergangenen Jahr hat sich die Anzahl der Leistungsempfänger hier verdoppelt«, sagt sie. »Das liegt an der Pandemie und an der allgemeinen Wirtschaftskrise. Alles wird teurer, viele haben ihren Arbeitsplatz verloren. Wenn dann noch Schulden dazukommen und Angehörige zu Hause versorgt werden müssen, entsteht ganz schnell eine Notlage.«

Das junge Paar hat sich gegen die Sitzgarnitur entschieden. Eigentlich bräuchten sie ein orthopädisches Sitzmöbel für die Mutter. »Ich werde mich danach umschauen«, verspricht Karadaş. Ihre Aufgabe besteht darin, die Spenden und deren Verteilung zu koordinieren. Unter den Spendern sind große Firmen und auch ein Möbelbauer. »Wenn wir Glück haben, hat der so etwas auf Lager. In Ausnahmefällen kaufen wir als Stadtverwaltung auch etwas an und ­geben es den Leuten«, erklärt Karadaş.

Hohe Preise, knappe Kassen
Die Türkei legte zu Beginn des neuen Jahrtausends eine beachtliche sozioökonomische Entwicklung hin. Die Zahl der Armen halbierte sich von 2002 bis 2015, die der als extrem arm Geltenden ging sogar noch stärker zurück. Die Armutsgrenze liegt in der Türkei allerdings regional unterschiedlich, da man etwa in Istanbul doppelt so viel Geld braucht wie in Urfa. 2019 galt in Istanbul ein Einkommen von 900 Lira pro Monat als Armutsgrenze, ungefähr dieselbe Kaufkraft hätten heute 1 300 Lira, rund 130 Euro, was der Hälfte des Mindestlohns entspricht. Als extrem arm gelten Menschen mit einem Einkommen unter 500 Euro jährlich.

Seit fünf Jahren allerdings wird die wirtschaftliche Lage immer instabiler. Die hohe Inflationsrate und die steigende Arbeitslosigkeit sind besorgniserregend. Zwar hat sich das Sozialver­sicherungssystem in der Türkei in den vergangenen Jahren teilweise verbessert. Es besteht mittlerweile eine Krankenversicherungs- und Versorgungspflicht, und selbst wenn Menschen keine Krankenversicherung haben, müssen Krankenhäuser sie im Notfall versorgen. Doch eine Arbeitslosenversicherung besitzt nur, wer einen gesetzmäßigen Arbeits­vertrag unterschrieben hat; das ist eher selten der Fall.
Mehmet G. habe gar keinen Vertrag gehabt, sozialversichert habe er sich selbst. Die Beiträge könne er nun aber nicht mehr bezahlen. Mehrere Faktoren seien ­zusammengekommen, bis er den Weg zum Sozialamt von Beşiktaş gewagt habe.

Das Amt liegt im Stadtteil Etiler, einer noblen Gegend mit einem der höchsten Mietspiegel in der Metropole Istanbul. Zelal Kıran, eine junge, fröhliche Frau mit einem einnehmenden Lachen, sitzt in einem Großraumbüro. Sie ist die Abteilungsleiterin. Humor sei für sie eine Form, ihren Alltag zu meistern, betont die Beamtin, die plötzlich ganz ernst wird. »Die meisten von uns fahren jeden Tag zwei Stunden Bus, um an den Arbeitsplatz zu kommen«, sagt sie. Auch die Stadtverwaltungsangestellten könnten sich eine Wohnung im Viertel Etiler nicht leisten. Die Miete würde einen Großteil des Lohns auffressen. Kıran ist im gleichen Alter wie Mehmet G., sie hat das Paar vor ein paar Wochen in die Bedürftigenliste aufgenommen. »In Beşiktaş gibt es sehr viele gute Angebote, das ist von Bezirk zu Bezirk ganz verschieden. Einen allgemeinen Anspruch gibt es nicht, die Bedürftigkeit muss nachgewiesen werden und das regelt jede Kommune anders.«

Die Türkei ächzt derzeit unter einem rapiden Preisanstieg – zuletzt erreichte die Inflationsrate knapp 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, sie gehört damit zu den derzeit höchsten weltweit. Für etliche Produkte des täglichen Bedarfs sind die Preise allerdings überdurchschnittlich gestiegen, was das Leben vieler Menschen spürbar erschwert. Das Zentrum von Beşik­taş ist eine beliebte Einkaufsmeile für diejenigen, die es sich leisten können. Ein Kilo Paprikaschoten kostet derzeit umgerechnet fast einen Euro, Schafskäse zehn Euro, das ist für Menschen mit geringem Einkommen sehr viel.

Die Preissteigerung bei Lebensmitteln beträgt seit fünf Jahren um die 30 Prozent jährlich. »Bei einem Grundeinkommen von 350 Euro brutto geht die Hälfte für Mieten und Nebenkosten drauf«, bemerkt Kıran. »Die meisten Leute können sich Fleisch und Milchprodukte nur noch begrenzt leisten. Aber selbst das Gemüse ist viel zu teuer.« Oftmals müssten mehrere Personen in einem Haushalt mit 350 bis 400 Euro im Monat auskommen. »Sie bauen Gemüse in Eimern auf dem Balkon an, aber das sind Tropfen auf den heißen Stein«, so die Beamtin.

Erdoğan mag niedrige Zinsen
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan beschuldigte unlängst die türkischen Supermarktketten, Teuerungen zu verursachen. Doch Wirtschaftsexperten im In- und Ausland wiederholen immer wieder, dass die Inflation dafür verantwortlich sei. Die Leitzinsen sind ein wichtiges Instrument im Kampf dagegen; steigen sie, verteuern sie die Geldaufnahme von Kreditinstituten bei der Zentralbank und senken mittelbar die umlaufende Geldmenge. Trotz der anhaltend hohen Inflation und einer schwachen Lira senkte die türkische Zentralbank den Leitzins am 21. Oktober von 18 auf 16 Prozent, im September hatte sie ihn bereits von 19 auf 18 Prozent gesenkt. Damit liegt der Leitzins unter der Inflationsrate. Billige Kredite heizen den Verfall der Währung an und suggerieren den Konsumenten, Verschulden lohne sich; an­dererseits tragen niedrige Zinsen dazu bei, die Liquidität kriselnder Firmen und ärmerer Haushalte zu sichern.

Erdoğan möchte um jeden Preis verhindern, dass viele Betriebe und Konsumenten insolvent werden. Mitte Oktober feuerte er gleich drei Spitzenökonomen der Zentralbank, von denen sich einige gegen eine Leitzinssenkung ­gewehrt hatten. Der Präsident ist der Meinung, hohe Leitzinsen bremsten das Wachstum, er möchte über niedrige Zinsen die Aufnahme von Krediten und Investitionen anregen.

»Ich muss die Preise anheben. Die Produzenten müssen bei der Ernte Fahrzeuge einsetzen, die Benzin fressen. Die Energiepreise steigen, der Transport kostet.« Abdülrahman Ö., Gemüsehändler

Işik M. ist Wohnungsmaklerin in Etiler. Sie ist besorgt, dass in dem Luxusviertel immer mehr Investoren aus dem Mittleren Osten Immobilien und Staatsbürgerschaften erwerben. »Im ­Internet grassiert eine riesige Werbekampagne. Die Leute kommen teil­weise mit Bargeld an und legen ihre Bescheinigungen von der Immigrationsbehörde vor. Manchmal frage ich mich, wer diese Menschen sind, die hier so viel Geld ­anlegen.« Die Investitionen kommen vor allem regierungsnahen Baufirmen und Großkonzernen zugute, die die Metropole Istanbul planieren und im ganzen Land wie verrückt bauen. Işık ­M. bemerkt mittlerweile in wohlhabenden Vierteln wie Etiler eine Abwan­derung der türkischen Mittelschicht.

Unterstützung per App
Am Schiffsanleger von Beşiktaş legen die Bosporus-Fähren zur asiatischen Seite Istanbuls ab, zu den Stadtteilen Kadıköy und Üsküdar. Es erklingt die Melodie der klassischen Volksweise »Üsküdar’a Gider İken« (Auf dem Weg nach Üsküdar). Der Gesang setzt ein: »Auf dem Weg nach Üsküdar fing es an zu regnen. Die Jacke meines Schreibers ist lang, sein Gewand ist verschmutzt.« Die Stimmlage des Sängers Ayhan T. klingt mehr nach Sopran als nach Tenor. Er studiert auf dem Konservatorium Musik, spielt Gitarre und hat einen Stimm­umfang von mehreren Tonlagen. »Auf dem Weg nach Üsküdar« kann sowohl von Frauen als auch von Männern in hoher Stimmlage ­gesungen werden.

»Das Lied gibt viele Rätsel auf«, erzählt Ayhan. »Es ist nicht genau bekannt, wie alt es ist und wer es komponiert und geschrieben hat. Ich phantasiere immer davon, dass eine wohlhabende Dame im osmanischen Reich sich in einen armen Schreiber verliebt hat. Das waren Leute, die gegen eine Gebühr meist bei Gericht Schreiben für die vielen Analphabeten aufsetzten.« Eine Interpretation, die auch mit den Träumen zu tun hat, denen viele junge Künstlerinnen und Künstler wegen der großen strukturellen Probleme nachhängen: ein reicher Mäzen, ein Lottogewinn, ein Stipendium, um im Ausland zu studieren. »Ich warte noch auf eine solche Chance«, lacht Ayhan. Der 24jährige singt immer wieder einmal am Anleger und verdient sich ein paar Lira. »Sie werden es nicht glauben, aber momentan muss man sich bewerben, um auf den Bosporus-Fähren spielen zu dürfen. Die Musiker auf den Schiffen sind oft Weltklasse«, sagt er.

Nachdem im vergangenen Jahr einige arbeitslose Musiker und Künstler aus Verzweiflung den Freitod gewählt hatten, haben die Stadtverwaltungen, vor allem die von der oppositionellen Republikanischen Partei des Volkes (CHP) regierten, Hilfsmaßnahmen ergriffen. Auf den Schiffen der Oberstadtverwaltungen spielen nun ausgewählte Musiker, im Sommer stellte die Stadtverwaltung von Kadıköy eine offene Bühne am Strand von Kalamış zur Verfügung. »Man konnte ein Konzert anmelden, die Stadtverwaltung stellte Bühne und Technik. Die Musiker verdienten ein wenig Geld und die Bürger konnten mit Blick auf den Bosporus umsonst tolle Konzerte hören«, so Ayhan. Er stammt aus einer Mittelklasse­familie, die im vergangenen Jahr ebenfalls große finanzielle Probleme meistern musste. Die Eltern sind freiberufliche Graphiker und leben in Ankara. Doch die Wohnung der Wohnungsbauverwaltung der Türkei (TOKİ) – der Behörde, die den öffentlichen Wohnungsbau regelt –, die die Eltern vor fünf ­Jahren für Ayhan in Istanbul angezahlt hatten, mussten sie während der Pandemie wieder abstoßen. »Sie verloren Aufträge. Sie konnten die Raten nicht mehr bezahlen«, sagt Ayhan. Er zog in das städtische Wohnheim.

Die Stadtverwaltung von Beşiktaş versucht mit verschiedenen Angeboten, arme Bevölkerungsschichten zu unterstützen. Studierende können etwa über eine Smartphone-App Hotels und Restaurants abrufen, die Essen vom Vortag umsonst servieren. »Öğrenci’Ye« heißt die App, die Ayhan verschmitzt auf seinem Smartphone zeigt. »Schauen Sie, jetzt könnte ich in einem Hotel ganz in der Nähe Pizza essen gehen. Und auch mein Mobiltelefon ist eine Spende«, verrät er.

Die Stadtverwaltungen sind aufgrund der Knappheit öffentlicher Mittel und des großen Bedarfs dazu übergegangen, Serviceleistungen und Hilfsgüter aus der Privatwirtschaft zu organisieren. Ayhan bekam das Smartphone aus dem Restbestand eines Mobiltelefonanbieters. »Askıda Cihaz« ist ein von der Stadtverwaltung organisiertes Spendenprogramm von Elektrogeräten von Firmen oder Privatpersonen, das sich mit einem Wortspiel auf eine alte Tradition bezieht: »Askı’da Simit« heißt »Simit vom Haken«.

Früher boten Sesamringverkäufer ihre Ware auf der Straße an, die Kringel trugen sie an einer Stange über der Schulter. Wohlhabende kauften das beliebte Gebäck und bezahlten zuweilen den doppelten Preis, um eine gute Tat zu tun, damit ein armer Mensch sich umsonst einen Sesamkringel von der Stange beziehungsweise dem Haken am Ende der Stange nehmen konnte. Bei Askıda Cihaz werden nun Elektrogeräte wie Mobiltele­fone und gebrauchte Laptops an Studierende verteilt, die sich keine eigenen leisten können. »Sehen Sie, es hat sich kaum etwas verändert«, amüsiert sich Ayhan, doch er fügt hinzu, dass er im Vergleich zu vielen anderen privilegiert sei. Wie arm die türkische Bevölkerung ist, geht aus den Statistiken der vergangenen fünf Jahren nicht mehr verlässlich hervor. Die Gewerkschaften weisen darauf hin, dass die offizielle Arbeitslosenrate von 12,5 Prozent weit unterhalb von realistischen Schätzungen liege.

Abdülrahman Ö. hat einen Gemüsestand in Beşiktaş. Präsident Erdoğan verkündete Anfang Oktober, er habe die Anweisung erteilt, dass landesweit 1 000 Märkte eingerichtet werden sollen, um günstiges Obst und Gemüse zu verkaufen. Kooperativen sollen die Waren liefern. Der Gemüsehändler Ö. bezieht die Waren von einer Kooperative aus Çanakkale. »Ich muss die Preise anheben. Die Produzenten müssen bei der Ernte Fahrzeuge einsetzen, die Benzin fressen. Die Energiepreise steigen, der Transport kostet. Auf dem Land mögen die Tomaten billiger sein, aber hier kosten sie zwischen acht und 20 Lira das Kilo, je nach Sorte.« Das sind umgerechnet 80 Eurocent bis zwei Euro. Spendenkampagnen können auf Dauer keine die Krise lösende Wirtschaftspolitik ersetzen, sondern sind ein Indikator für das wachsende Maß sozialer Ungleichheit im Land.

Ayhan T. fängt wieder an zu spielen. Der Bosporus glitzert in der Herbstsonne. Er singt von dem armen Schreiber, der nach Üsküdar fährt. Passanten haben ein paar Lira übrig, für einen Sesamkringel reicht das allemal.