Ein neues Gutachten im Todesfall Oury Jalloh bestärkt Zweifel an der offiziellen Version

Tod in Dessau

Ein neues Gutachten legt den Schluss nahe, dass Oury Jalloh ermordet wurde.

»Oury Jalloh – das war Mord«: Dieser Satz begegnet einem seit Jahren auf Plakaten, Häuserwänden und Demons­trationen. Vor 17 Jahren verbrannte Oury Jalloh in einer Gefängniszelle in Dessau. Der 36jährige Mann aus Sierra Leone soll der Polizei zufolge auf einer ­Matratze gefesselt worden sein und habe diese dann selbst in Brand gesteckt. Um das zu schaffen, musste er zunächst ein Loch in die Matratze bohren, um an entzündbares Material zu gelangen. Das Feuer sei dann minutenlang nicht bemerkt worden. Der Feuermelder habe zwar angeschlagen, sei dann aber aus­geschaltet worden, weil es zuvor Fehlmeldungen gegeben habe.

So weit die Version der damals diensthabenden Polizeibeamten. Vergangene Woche wurde einmal mehr ein Gutachten veröffentlicht, das nahelegt, dass diese Geschichte nicht stimmen kann. In Auftrag gegeben hatte es die ­Initiative in Gedenken an Oury Jalloh (IGOJ) bei dem britischen Brandsachverständigen Iain Peck. Dieser hatte die Zelle, in der Jalloh zu Tode kam, originalgetreu nachgebaut. So konnte gezeigt werden, dass die Brandspuren, die damals an Jallohs Leiche festgestellt wurden, so nur entstehen konnten, wenn sein Körper mit einer brandbeschleunigenden Flüssigkeit übergossen worden war. Sollte das stimmen, ist davon auszugehen, dass Polizeibeamte Jalloh in Brand steckten.

Jalloh soll vor seinem Tod schwer verletzt gewesen sein. Ihm seien unter anderem Schädeldach, Nasenbein, Nasenscheidewand und eine Rippe gebrochen worden.

Von Anfang an gab es erhebliche Gründe, an der offiziellen Version der Polizei zu zweifeln. Schon bei einem ersten Verfahren 2008 am Landgericht Dessau warf der Vorsitzende Richter der Polizei »Schlamperei« und »Falschaussagen« vor, diese seien »erschreckend«. Es habe keine »Chance auf ein rechtsstaatliches Verfahren, auf die Aufklärung des Sachverhaltes« gegeben. »Diese Verhandlung ist gescheitert«, hieß es in der Urteilsverkündung. In einem Revisionsverfahren 2012 wurde der Dienstgruppenleiter, der in jener Nacht in der Polizeiwache Dienst hatte, wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Er musste eine Geldstrafe in Höhe von 10 800 Euro zahlen.

Schon seit dem ersten Gerichtsverfahren setzt sich die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh dafür ein, den Fall aufzuklären. Das neueste Gutachten von Iain Peck ist bereits das dritte, das die IGOJ in Auftrag gab. 2013 hatte sie 30 000 Euro gesammelt, um einen britischen Brandgutachter zu engagieren. Dieser war nach monatelanger Arbeit ebenfalls zu dem Schluss gekommen, dass die Brandspuren an Jallohs Leiche nur durch den Einsatz mehrerer Liter einer brandbeschleunigenden Flüssigkeit zu erklären seien. Auch die in den Gerichtsakten dokumentierte Obduktion der Leiche habe entsprechende Hinweise ergeben. So sei in den Zellen der Leiche eine Konzentration von Blausäure festgestellt worden, die nur durch Brandbeschleuniger habe entstehen können.

Als Reaktion auf das Gutachten hatte die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau damals neue Ermittlungen aufgenommen. Der Leiter der Staatsanwaltschaft, Folker Bittmann, stellte im Laufe dieser Ermittlungen die Vermutung auf, Jalloh könne von Polizisten verbrannt worden sein. Diese hätten womöglich vertuschen wollen, dass sie ihn schwer misshandelt oder sogar vorher schon umgebracht hatten. Diese These stellt Bittmann in einem Aktenvermerk auf, der unter anderem der Mitteldeutschen Zeitung vorlag. Dass Jalloh eine Schädelfraktur hatte, als er starb, war schon bekannt, seit die Anwälte Jallohs bei dem ersten Gerichtsverfahren eine zweite Obduktion erzwungen hatten. Bittmann hatte sogar Polizeibeamte genannt, die als Verdächtige in Frage kämen. Ihr Motiv könnte gewesen sein, so hieß es in Bittmanns Vermerk, Ermittlungen zu zwei anderen Todes­fällen zu verhindern, die sich in derselben Polizeistation ereignet hatten.

Der erste Fall trug sich 1997 zu. Hans-Jürgen Rose wurde um ein Uhr morgens von Polizisten aufgegriffen, weil er betrunken Auto gefahren war. Zwei­einhalb Stunden später wurde er entlassen; noch einmal eineinhalb Stunden später wurde er mit schweren inneren Verletzungen an einer Straßenecke aufgefunden. Kurz danach starb er. Die Mitteldeutsche Zeitung berichtete 2018, dass alle Akten im Zusammenhang mit dem Fall Hans-Jürgen Rose verschwunden seien. Der zweite Fall ereignete sich in genau jener Zelle, in der Oury Jalloh verbrannte. 2002 war der Obdachlose Mario Bichtemann zur Ausnüchterung in diese Zelle gesperrt worden. Kurz dar­auf wurde er mit einem Schädelbasisbruch tot auf dem Boden aufgefunden.

Der Staatsanwalt Folker Bittmann schien zumindest dem Verdacht nachgehen zu wollen, dass Jalloh von Po­lizisten ermordet worden war. Doch konnte er die Ermittlungen nicht zu Ende führen. 2017 entzog ihm die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg den Fall und übergab ihn an die Staatsanwaltschaft Halle (Saale). Diese stellte kurz darauf das Verfahren ein. Wenig später berichtete das ARD-Magazin »Monitor« unter Berufung auf Akten der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau, dass »mehrere Sachverständige aus den Bereichen Brandschutz, Medizin und Chemie« den Unterlagen zufolge mehrheitlich zu dem Schluss gekommen seien, »dass ein Tod durch Fremdeinwirkung wahrscheinlicher sei als die lange von den Ermittlungsbehörden verfolgte These einer Selbstanzündung«.

Die Vermutung, dass Polizisten Jalloh verbrannten, um zu vertuschen, dass sie ihn schwer misshandelt hatten, wurde 2019 durch ein weiteres forensisches Gutachten untermauert, das ebenfalls von der IGOJ in Auftrag gegeben worden war. Das Gutachten wurde zwar nicht veröffentlicht, lag aber unter anderem der Taz vor. Erstellt hat es der Rechtsmediziner und Radiologie-Professor Boris Bodelle vom Universitätsklinik Frankfurt. Der Taz zufolge sei er zu dem Ergebnis gekommen, dass Jalloh vor seinem Tod schwer verletzt gewesen war. Ihm seien unter anderem Schädeldach, Nasenbein, Nasenscheidewand und eine Rippe gebrochen worden.

Zwei externe juristische Berater, die von der Thüringer Regierungskoalition aus CDU, SPD und Grünen beauftragt wurden, kamen dennoch zu dem Schluss, dass die Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Halle »nachvollziehbar und angesichts der Beweislage sachlich und rechtlich richtig« war. Auch das Oberlandesgericht Naumburg erklärte 2019 die Entscheidung der Staatsanwaltschaft für rechtmäßig. Dagegen legte die Anwältin des Bruders von Oury Jalloh 2019 Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Die Entscheidung steht noch aus. Sollte sie negativ ausfallen, plant die IGOJ, gemeinsam mit Jallohs Familie am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu klagen.

Bei dem ersten Verfahren im Jahr 2008 hatte der Richter den Eltern von Oury Jalloh 5 000 Euro angeboten, weil er absehen konnte, dass es wegen mangelnder Beweise zu keiner Verurteilung kommen würde. So wolle er zumindest ein wenig »Rechtsfrieden« herstellen. Die Eltern lehnten ab. »Wir wollen kein Geld, sondern, bei allem ­Respekt vor dem Gericht: ein Urteil«, erklärte der Vater Jallohs damals. Noch besteht eine geringe Hoffnung, dass es dazu einmal kommen könnte.

Noch ein Toter

Am 1. November ist in Wuppertal ein 25jähriger Mann im Gewahrsam der Polizei gestorben. Er war zuvor festgenommen worden, weil er einen handgreiflichen Streit mit einer Frau gehabt haben soll. Dabei soll es sich um seine Schwester gehandelt haben. Bei ­einer Blutabnahme soll der 25jährige das Bewusstsein verloren haben, kurz darauf sei er gestorben.

Zunächst hatte die Polizei den Todesfall nicht öffentlich gemacht, Medien hatten nicht darüber berichtet. Am Samstag kursierte dann auf der griechischen Version der Website Indymedia ein Video, das die Festnahme des jungen Mannes zeigen soll. Dieser soll aus Griechenland stammen. Das Video zeigt, wie Polizeibeamte den Mann zu Boden ringen, während die filmende Frau sie anfleht, ihn in Ruhe zu lassen, er sei nur ein Kind. Erst nachdem das Video im Internet kursierte, fragte ein Journalist der Tageszeitung ND bei der Staatsanwaltschaft Wuppertal an und berichtete am Sonntag von dem Todesfall. Der Tageszeitung hatte die Staatsanwaltschaft mitgeteilt, man habe einen »internistischen Notfall« mit Todesfolge nicht für »­medienrelevant« gehalten. Deshalb sei der Todesfall nicht öffentlich gemacht worden.

Im Jahr 2019, dem letzten Jahr, für das es vollständige Zahlen gibt, sind insgesamt 140 Menschen »im Justizvollzug« gestorben. Darin enthalten sind auch natürliche Todesursachen. In 58 Fällen wird jedoch als Todesursache Suizid aufgeführt. Dies ging aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion »Die Linke« vom vergangenen Juli hervor. Die Todesursache »Unfall« wird im Jahr 2019 für zwei Todesfälle aufgeführt, im Jahr 2020 für fünf – wobei für 2020 noch keine Zahlen aus Nordrhein-Westfalen vorliegen.