Wiederveröffentlichungen geben ein umfassendes Bild der »Neuen Deutschen Welle«

Kraftwerk mit Humor

Eine Reihe kürzlich erschienener Reissues von Platten aus den frühen achtziger Jahren gibt ein umfassendes Bild davon, wie die »Neue Deutsche Welle« wirklich klang.

Dafür, dass sie seit ein paar Jahren vergessenen deutschen und deutschsprachigen Pop der Siebziger und Achtziger ausgraben, werden die beiden Hamburger Labels Tapete und Bureau B schon seit langem zu Recht geschätzt. Dieses Jahr scheint aber selbst für diese beiden eng miteinander verbandelten Plattenfirmen außergewöhnlich ertragreich zu sein, denn es gibt eine ganze Reihe von Veröffentlichungen, die einen anderen und vollständigeren Blick auf die Zeit der sogenannten Neuen Deutschen Welle ermöglicht. Vor allem auf jenen Teil der Szene, der fröhlich im Underground vor sich hin gärte.

So sind zuletzt gleich drei Re-Releases der Kölner Kosmopoliten Dunkelziffer aus den Jahren 1983 bis 1986 erschienen, zudem das phantastische »A Night in Cairo« der Ratinger Band Die Fische aus dem Jahr 1986. Auch das Debütalbum der bayerischen Synthwave-Combo P!OFF? aus dem Jahr 1982 können jüngere Generationen jetzt für sichentdecken, dazu kommen zwei Retrospektiven von Family 5 und Die Zimmermänner sowie Aufnahmen Conrad Schnitzlers aus den Jahren 1978 und 1979. Und mit dem ersten Teil der Kompilation »Eins und Zwei und Drei und Vier – Deutsche Experimentelle Pop-Musik 1980–86« gibt es überdies ein toll zusammengestelltes Überblickswerk, das ein weites Feld der damaligen Untergrundkultur abdeckt.

Was bei all den Veröffentlichungen auffällt, ist, dass Begriffe wie NDW oder auch »Deutsche Experimentelle Pop-Musik« kaum genügen, um den Sound dieser Zeit zu beschreiben. Experimentell war die Musik in dem Sinne, dass stilistisch kaum etwas ausgeschlossen wurde.

Die dort vertretenen Bands zeichnen sich durch einen feinsinnigen, subversiven Humor aus. Das Münchner Trio P!OFF? (zunächst: Piss Off Orchester) etwa bringt mit einem einzigen Lied das Lebensgefühl junger Menschen in der Bundesrepublik der Achtziger auf den Punkt: »Mein Walkman ist kaputt / Das ist die Strafe Gottes / Das ist der Hölle Glut«, hört man Sänger Alex Weidner zu minimalistischen Synthies über die größte Katastrophe singen, die einen Heranwachsenden damals ereilen konnte. Auch kurzlebige Projekte wie Deutsche Wertarbeit – eine Ein-Frau-Band der Keyboarderin Doro­thea Raukes von der 1969 gegründeten Progressive-Rock-Band Streetmark – sind vertreten. Ihr krautig-mainzelmännchenmäßiger Track »Guten Abend, Leute« klingt wie Kraftwerk mit etwas mehr Humor. Dann wieder geht es rotziger zu, etwa bei den Düsseldorfer Punk-Ladys von Östro 430 (»Sexueller Notstand/Was dir bleibt ist deine Hand /Nimm dir ein paar Pornos / Und pinn sie an die Wand«). Auch Holger Hillers frühes Projekt Träneninva­sion findet sich auf dem Sampler, er besingt zu mechanischen Beats die Melancholie: »Sentimental / Ich fühl mich sentimental«.

Daniel Jahn von Bureau B geht es auch um eine Neubewertung und -kontextualisierung der Szene. »Viele Bands blieben damals komplett ­unter dem Radar. Am Ende ist es eben auch ein Kulturgut, das man wieder verfügbar machen will«, sagt er im Gespräch mit der Jungle World. Gerade bezogen auf diese Zeit ist das sinnvoll, erinnert man sich doch, wenn es um die Neue Deutsche Welle geht, doch oft nur an Nena, Hubert Kah, Ideal & Co. Dabei ist das Interesse am NDW-Underground immens, und so manche Band ist auch von jüngeren Generationen wiederentdeckt worden. »Einige Tracks wurden in Berlin bei Szenepartys gespielt und tauchten plötzlich in Leftfield-Clubs auf«, sagt Jahn. »Da wurde man natürlich neugierig und hat den Bands hinterherrecherchiert.«

Was bei all den Veröffentlichungen auffällt, ist, dass Begriffe wie NDW oder auch »Deutsche Experimentelle Pop-Musik« kaum genügen, um den Sound dieser Zeit zu beschreiben. Experimentell war die Musik in dem Sinne, dass stilistisch kaum etwas ausgeschlossen wurde: Dub, Reggae, Minimal Music, Ska, Afropop, Sophisticated Pop, Jazz, Dark Wave, all diese Stile fanden sich wieder bei den Bands, so manches Mal fügten sie diese Genre-Zutaten zu etwas völlig Neuem zusammen. Auch in Deutschland gilt für die Zeit des New Wave somit das, was der britische Poptheoretiker Simon Reynolds schrieb: »Post-Punk bezeichnet we­niger ein Genre als vielmehr einen Möglichkeitsraum, aus dem sich ein breites Spektrum an Stilen entwickelte.«

Diesen Möglichkeitsraum auf sehr unterschiedliche Weise ausgefüllt haben das Kölner Kollektiv Dunkelziffer und die Hamburger Band Die Zimmermänner. Beide eint vielleicht, dass sie gnadenlos unterbewertet sind, musikalisch kommen sie aber von unterschiedlichen Planeten. Dunkelziffer kann man als eine Art Allstar-Band aus dem Umfeld der Szene bezeichnen, die 1980 ein in den 1970er aufgegebenes Fabrikgebäude des Schokoladenherstellers Stollwerck in Köln besetzte. Dass insbesondere deren erstes Album »Colours and Soul« neu aufgelegt wurde, schien überfällig. Hits wie »Keine Python« und »Stil der neuen Zeit« finden sich auf diesem Album, und als Phänomen ist diese Band ohnehin interessant: Unter anderem spielten Jaki Liebezeit, Damo Suzuki und Helmut Zerlett, der später Leader der Band in den Shows von Harald Schmidt werden sollte, in der Gruppe; mit Coco Claus, Josefa Martens und später Irene Lorenz hatte die Band großartige Sängerinnen mit charakteristischen Stimmen. Insgesamt war es eine bunt gemischte Truppe, wie es sie damals in der BRD nicht oft gab. Auch im Sound unterschieden sich Dunkelziffer von vielen anderen Bands: Sie schufen eine Mixtur aus afrikanischer beziehungsweise karibischer Musik und west­lichem Pop. Viele Bläser, viel Percussion, viel Groove – sie waren eine der wenigen deutschen Global-Pop-Bands der frühen achtziger Jahre.

Auch Die Zimmermänner waren Kosmopoliten, aber auf völlig an­dere Art und Weise. Die Band um Timo Blunck (auch bei Palais Schaumburg) und Detlef Diederichsen kam einem textlich immer ein bisschen schelmisch, fast verschmitzt vor. In ihrer gesamten Ästhetik machten sie etwas, was in Deutschland zuvor noch niemand gemacht hatte: Sie verbanden deutsche Texte mit leichtfüßigem britischem Pop, mit Ska, mit Soul – und das funktionierte auch noch! Die schottische Band Orange Juice und deren Label Postcard Records seien damals für sie wichtig gewesen, erzählt Diederichsen im Gespräch mit der Jungle World; They Might Be Giants kommen einem noch als Re­ferenz in den Sinn – die kamen allerdings erst ­später. Ohne Die Zimmermänner hätte es wohl auch spätere deutschsprachige Bands wie Superpunk in der Form nicht gegeben.

Den Lyrics von Blunck und Diederichsen war der Einfluss von Punk deutlich anzumerken, sie waren manchmal spöttisch, teils ironisch, gern auch mal latent abgründig – und gelegentlich politisch. Wenn Die Zimmermänner über den Nato-Doppelbeschluss und Friedensbewegung sinnierten, dann sangen sie zu Streicherklängen die Verse: »Meine Freundin ist in der Friedens­bewegung / Und ich bin in der Bundeswehr / Immer gibt es eine aggressive Regung / Wenn ich mal wieder erzähle vom Heer (…) Wir dürfen uns nicht lieben / Denn Krieg und Frieden / sind zu verschieden« (»Nöte des kleinen Mannes«). Bemerkenswert ist auch, dass Die Zimmermänner sich Ende der Neunziger wieder zusammenfanden und mit den Alben »Fortpflanzungssupermarkt« (2007) und »Ein Hund namens Arbeit« (2014) nahtlos an den Witz, die Leichtigkeit und Nonchalance früherer Werke anknüpften. Auf der nun erschienenen »Greatest Hits«-Kom­pilation (»Goldene Stunde – alle Hits 1980–2017«) zum 40. Jahrestag der Bandgründung finden sich denn auch Songs von allen vier Alben. Allerdings weist Diederichsen dezent darauf hin, dass das Album kein »Best of« im eigentlichen Sinne sei: Schließlich seien auf »Goldene Stunde« die Stücke versammelt, die beim Publikum immer am besten angekommen seien – nicht aber die, die die Band am liebsten mag.

Ein zweiter Teil des Samplers »Eins und Zwei und Drei und Vier« ist übrigens schon in Arbeit. Die Ausgrabungen, da darf man sicher sein, werden bei den beiden Hamburger Labels weitergehen, denn die Zahl an unterschätzten und ver­gessenen Acts jener Zeit soll immer noch hoch sein.

Dunkelziffer: Colours and Soul / In the Night / Songs for Everyone (Bureau B)
P!OFF?: P!OFF? (Bureau B)
Die Fische: A Night in Cairo (Bureau B)
Conrad Schnitzler: Paracon – The Paragon Session Outtakes 1978–1979 (Bureau B)
Various Artists: Eins und Zwei und Drei und Vier – Deutsche Experimentelle Pop-Musik 1980–1986 (Bureau B)
Family 5: Ran! Ran! Ran! – The Best of Family 5 Vol. 1 (Tapete Records)
Die Zimmermänner: Goldene Stunde – alle Hits 1980–2017 (Tapete Records)