Das Werk des Literaturwissenschaftlers Karl Heinz Bohrer

Phantasie und Enttäuschung

Das letzte Buch des ehemaligen »Merkur«-Herausgebers Karl Heinz Bohrer erinnert nur entfernt an die bedeutenden und erhellenden früheren Texte des kürzlich verstorbenen Literaturwissenschaftlers, die aus der intellektuellen Geschichte der alten Bundesrepublik nicht wegzudenken sind.

Es gibt eine Zeichnung der Künstlerin Alexandra Sonntag, auf der eine Stadtansicht von Bielefeld zu sehen ist. Über den Häuserfassaden steht in schwarzer Schrift der Satz »Enttäuscht Karl Heinz Bohrer«. Da Sonntag auf Satzzeichen verzichtet, bleibt offen, ob Bohrer selbst enttäuscht ist oder wir von ihm – es könnte auch ein Aufruf an die Bielefelder sein, Bohrer zu enttäuschen. Mit dieser Vieldeutigkeit wird Sonntag dem literarischen Flaneur Bohrer gerecht. Obwohl er Bielefeld den Rücken kehrte und in Paris und London lebte, gehörte er weiter zu den intellektuellen Aushängeschildern dieser westdeutschen Universitätsstadt, in der er lange als ­Literaturprofessor unterrichtete.

Sollte es sich um Bohrers Enttäuschung handeln, wird sie nicht erklärt. Ist er davon enttäuscht, dass ihm sein unbedingtes und unverstelltes kritisches Denken und seine Melancholie häufig als Negativität ausgelegt oder gar als Konservatismus missverstanden wurden? Oder ist er von der Tristesse Bielefelds enttäuscht, wie ihm überhaupt alles Unästhetische missfiel?

Bohrer verteidigte seinen Begriff von Ästhetik und forderte überhaupt ein ästhetisches Bewusstsein, da »eine Gesellschaft ohne Schönheit nicht leben kann«.

In dem posthum erschienen Band »Was alles so vorkommt« versammelt der im August verstorbene Bohrer »Dreizehn alltägliche Phantasiestücke«, die weder Phantasiestücke sind noch sich in bloßer Alltäglichkeit erschöpfen.

Der Begriff der Phantasie ist in Bohrers gesamtem Werk prominent. Seine 2017 erschienene Autobiographie »Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit Phantasie« blickt auf ­seinen publizistischen und akademischen Werdegang zurück und beleuchtet beispielsweise seine Faszination für den Surrealismus und dessen Anspruch, die Trennung von Kunst und Leben aufzuheben. Der Band »Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror« von 1970 stellt Bohrers Versuch dar, die Manifeste der APO in der surrealistischen Tradition zu lesen.

Die »Phantasiestücke« berühren bloß im Untertitel dieses Themenfeld, kreisen aber um einige von Bohrers typischen Themen: Kunst und Literatur als Medien der Erkenntnis, Erinnerungen, die dabei helfen, die Gegenwart zu verstehen, und essayistische Reflexionen über Begriffe, etwa »Kein abstoßenderes Gefühl: Ressentiment«. Passend zum Titel »Was alles so vorkommt« erzählen Texte wie »Freundschaften, so oder so«, »Die kleine Seejungfrau« oder »Schlaflos« eher nebenbei und in der dritten Person autobiographisch von einem, den man unschwer als Bohrer identifizieren kann. Gerade die selbstreflexiven Texte »An den Tod denken«, »Alleinsein im Zimmer« oder »Sich selbst im Spiegel sehen« machen die Auswahl mehr zu persönlichen Alltagserinnerungen als zu Phantasiestücken. Am Ende wirkt der Band zu sehr wie Selbstbespiegelung.

1984 und 1985 publizierte Bohrer im Merkur eine Reihe von Essays, die polemisch das fehlende ästhetische Bewusstsein der Bundesrepublik kritisierten. Der Reisende in »Die Ästhetik des Staates« trifft auf eine Republik ohne Einwohner, findet aber ihre Spuren und erinnert sich dabei an ihre Stillosigkeit und ihren Provinzialismus. Die Serie »Die Unschuld an die Macht« wiederum übte Kritik an den politischen und intellektuellen Verhältnissen der BRD: die Kleinbürgerlichkeit und den Mief der Parteien und Publikationen, die »Angestelltenmentalität« des Kanzlers Helmut Kohl. Bohrer beklagte den Opportunismus und »Mangel an Intensität« der geistigen Kultur der alten Bundesrepublik. Er kritisierte die Fixierung auf wissenschaftliche Moden, wie sie heute noch besteht, an deren Stelle nur neue getreten sind.

Bohrer verteidigte demgegenüber seinen Begriff von Ästhetik und forderte überhaupt ein ästhetisches Bewusstsein, da »eine Gesellschaft ohne Schönheit nicht leben kann«. Im ­Vorwort der Anthologie »Die Botschaft des Merkur«, in der Bohrer und Kurt Scheel als damalige Merkur-Herausgeber zentrale Texte der Zeitschrift aus 50 Jahren von Adorno, Arendt, Gehlen, Améry, Habermas oder Lyotard versammeln und die lange Zeit singuläre Bedeutung des Merkur mit dieser Auswahl unterstreichen, wurde seine Haltung entsprechend auf die programmatische Formel gebracht: »Ästhetik statt Moral«.

Umso enttäuschender ist es, dass der neue Band zwar wie jene Essay-Folge der Achtziger im Merkur mit einer Reise beginnt, diese aber denkbar banal ist. Das außergewöhnliche Ereignis einer großen Hitze, die »Eine Bahnfahrt nach Brüssel« verzögert, ist anders als zur Hochzeit der Novelle heute keine Nachricht mehr. Wir kennen selbst genug Reiseanekdoten über Verzögerungen mit der Bahn aus den unterschiedlichsten unvorhergesehenen Gründen.

Auch der Titel des Textes »Schöne, hässliche, interessante Städte« zeigt wortgewaltig Bohrers Primat des ästhetischen Urteils an. Die schönen, hässlichen und interessanten Städte sind für ihn Rom, Paris, Berlin und London: die Orte deutscher Italien-Sehnsucht (Goethes Rom), des Hochkapitalismus und des 19. Jahrhunderts (London, Paris bei Baudelaire und Benjamin), der literarischen Moderne (Paris, Berlin). Zwar gesteht er selbst, dass die Kategorien »schön« und »hässlich« nicht viel aussagen. Aber der Text verrät jenen, die sich schon einmal kurz mit der Kultur­geschichte dieser Städte befasst haben, auch nichts Interessantes.

Zum Ressentiment hatte Bohrer früher ebenfalls Erhellenderes zu ­sagen als in dem Essay »Kein abstoßenderes Gefühl: Ressentiment«. Jetzt lässt sich seine Schilderung einer Erfahrung des Ressentiments bei deutschen Studenten der fünfziger Jahre auf zwei seiner großen Motive reduzieren: seine Weigerung, dialektisch zu denken, und seinen Ästhetizismus. Ressentiment ist für Bohrer schlicht hässlich, am Ende gar reduktionistisch, nämlich buchstäblich physiognomisch hässlich. Ästhetik bleibt Bohrers maßgeblich für das Verständnis der Welt.

Von Bohrers an anderer Stelle entwickelter ästhetischer Theorie, besonders »Ästhetische Negativität« und »Plötzlichkeit«, ist der neue Essay »Literatur verstehen« weit entfernt. Leserinnen seiner früheren akademischen Texte warten hier vergeblich auf Schlagworte wie Plötzlichkeit oder Schrecken. Stattdessen werden scheinbar wahllos ausschließlich kanonische Romane westlicher Literatur paraphrasiert. Mit Stendhal, Balzac, Tolstoi, Faulkner und Claude Simon führt Bohrer aber doch zielsicher an eines seiner Kernthemen heran. Sie alle stellen Gewalt dar, europäische und amerikanische Kriege, eben das Böse und Entsetzliche. Statt einer Antwort darauf, wie Literatur zu verstehen sei, liefert Bohrer nur eine sehr oberflächliche Definition von Literatur: »Wie etwas geschieht«.

Völlig aus der Zeit gefallen scheint der Erinnerungstext »Die kleine Seejungfrau«. Die Illustration im gleichnamigen Buch diente dem pubertierenden Jungen – in der dritten Person – quasi als Pornographie. Aus einer bewusst kindlichen Perspektive wird der männliche Blick auf den gemalten weiblichen Körper gänzlich naiv und damit vermeintlich harmlos erzählt. Die damit einhergehende Objektivierung setzt sich in den Erinnerungen an erste Begegnungen mit Mädchen fort. Die Leserinnen werden hier in die feuchten Erinnerungen eines alten Mannes an Projektionen seiner ­Jugend hineingezogen.

Aktualität gewinnt der Band dagegen durch den letzten Text »Idylle und Chaos«. Ausgehend von literarischen Beispielen für das Gegenüber von Idylle und Chaos schildert Bohrer schließlich seine Erfahrungen mit der Covid-19-Pandemie und dem Lockdown. Im Zuge dessen zog er sich aus London in die ländliche Idylle zurück und berichtet von der Angst, ihm nahe Menschen vielleicht nie wieder zu sehen.

Es lässt sich darüber spekulieren, ob Bohrer dieses Manuskript vor seinem Tod in dieser Form abgeschlossen hat. Viele der Texte, gerade die essayistischen, sind im schlechten Sinne Fragment. Manche Absätze lesen sich wie bloße Notizzettel und unausgeführte Exzerpte. Sie reißen Themen an, die aus dem Werk Bohrers nicht nur bekannt sind, sondern die er selbst schon an anderer Stelle tiefer und genauer behandelt hat. Dadurch eignet dem Untertitel ein seltsamer Beigeschmack. Die Alltäglichkeiten liefern keine Erkennt­nisse, bloß Banalitäten. Dieser letzte kleine Band Bohrers ist eine Ent­täuschung. Aber er erinnert daran, dass ältere Texte Bohrers, etwa die Zusammenstellung »Nach der Natur. Über Politik und Ästhetik« eine erhellende und faszinierende Lektüre zum Verständnis der intellektuellen Geschichte der alten Bundesrepublik bieten.

Karl Heinz Bohrer: Was alles so vorkommt. Dreizehn alltägliche Phantasiestücke. Suhrkamp, Berlin 2021, 184 Seiten, 18 Euro