Tatiana Bazzichelli, Disruption Network Lab, im Gespräch über Whistleblowing als Akt des Dissens

»Whistleblowing sollte ein Bürgerrecht werden«

Whistleblowers haben in den letzten Jahren den Journalismus und unsere Wahrnehmung von Überwachung und Kontrolle in der Informationsgesellschaft für immer verändert. Wer sind diese Menschen, warum entscheiden sie sich zu Schritten, für die sie bereit sind, harte Konsequenzen zu tragen und welche Auswirkungen hat die disruptive Praxis des Whistleblowing als Akt des Dissens in der Politik, in der Gesellschaft und in der Kunst? Das Disruption Network Lab diskutiert über diese Fragen mit Whistleblowers, Journalistinnen, Aktivisten, Künstlerinnen, Anwälten und kritische Denkerinnen in einer Konferenz Ende November in Berlin.
Interview Von

Wenn wir von Whistleblowers reden, denken wir automatisch an diejenigen, die international Schlagzeilen machen, wie Edward Snowden und Chelsea Manning. Ihr Buch „Whistleblowing for Change“, das auf der gleichnamigen Konferenz am kommenden 26. und 27. November vorgestellt wird, erzählt viele weitere Geschichten von Whistleblowers aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Was ist die Absicht dieses Projekts, warum eine Sammlung dieser Geschichten?
Das Buch ist ein Sammelband mit dreißig Beiträgen von Whistleblowers, Journalistinnen, Aktivisten, Künstlerinnen und kritischen Denkern, die, ausgehend von ihren persönlichen Erfahrungen, Whistleblowing als wichtige Praxis ansehen, die einen aktiven politischen und kulturellen Wandel hervorbringen kann. Whistleblowers sind Menschen, die Missstände, Korruption, Machtmissbrauch am Arbeitsplatz, aber auch schwerwiegende politische und soziale Missstände melden und dabei Informationen von öffentlichem Interesse preisgeben. Whistleblowers zeigen Praktiken an, die sie für illegal oder missbräuchlich halten. Diese werden häufig von den Systemen begangen, denen die Whistleblowers selbst angehören, oder mit deren internen Abläufen sie sehr vertraut sind, was ihre Situation schwierig macht.
Das Buch enthält nicht nur Beiträge von Whistleblowers wie Brandon Bryant, ehemaliger Drohnenpilot der US Air Force; John Kiriakou, ehemaliger CIA Officer, oder Daniel Hale, ehemaliger NSA-Analyst, sondern auch von Menschen, die die Erfahrung des Whistleblowings hautnah miterlebt haben, wie Billie Winner-Davis, Mutter der Whistleblowerin Reality Winner; Laura Poitras, die Dokumentarfilme über Edward Snowden und Julian Assange gedreht hat; Annie Machon, die für den britischen MI5 gearbeitet hat und Simona Levi vom spanischen Antikorruptionskollektiv 15MpaRato, sowie andere Schriftstellerinnen und Aktivisten, die sich für die Aufdeckung von Missständen und Formen des sozialen Missbrauchs einsetzen.

"Wenn Whistleblowers als Helden gefeiert werden, kann das auch zum Problem werden, weil sie dann nicht mehr als ´normale´ Menschen wahrgenommen werden, die leben, handeln und leiden, wie wir alle auch."


Im Gegensatz zu anderen Büchern, die Whistleblowing als etwas sehr Technisches betrachten, geht uns darum, Whistleblowing als eine Praxis zu verstehen, die Menschen dazu motiviert, Missstände zu melden, die Gefahren für das Gemeinwohl darstellen. Die Autorinnen und Autoren beschreiben, wie Whistleblowing ihr Leben verändert hat und zeigen durch ihre Geschichten, wie das Ergebnis bestimmter Whistleblowing-Aktionen dazu beitragen kann, das Leben von uns allen zum Besseren zu verändern.


Auch Julian Assange wird häufig als Whistleblower bezeichnet, obwohl er, technisch gesehen, keiner ist. Was erfährt man in Ihrem Buch über ihn und über die Bedeutung von WikiLeaks in der Geschichte des Whistleblowings?
Julian Assange kommt in mehreren Beiträgen vor: Laura Poitras schreibt etwa über ihre Arbeit als Journalistin und Filmemacherin und darüber, was nach ihren beiden Dokumentarfilmen „Citizenfour“ über Edward Snowden (2014) und „Risk“ über Julian Assange (2016) geschah. Suelette Dreyfus, die 1997 gemeinsam mit Julian Assange, das Buch „Underground: Tales of Hacking, Madness and Obsession on the Electronic Frontier„ (auf Deutsch unter dem Titel: „Underground. Die Geschichte der frühen Hacker-Elite. Tatsachenroman“, Haffmans und Tolkemitt, Hamburg, 2011) geschrieben hat, untersucht die persönliche und politische Dynamik hinter dem Whistleblowing, ausgehend vom ersten Treffen zwischen Julian Assange und Daniel Ellsberg, dem Whistleblower der „Pentagon Papers“ über den Vietnamkrieg, im Jahr 2010.
Der Text beschreibt  Ellsbergs Bemühungen um die Abschaffung des „Espionage Act“. Whistleblowers werden heute noch aufgrund dieses drakonischen Spionagegesetzes aus dem Jahr 1917 verfolgt – selbst  Julian Assange, der kein Whistleblower, sondern ein Publizist ist. Das muss kollektiv und medial zum Nachdenken führen: Im Fall von Assange,  der seit April 2019 im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh inhaftiert ist, reden wir von schweren Menschenrechtsverletzungen. Ihm drohen bis zu 175 Jahre Haft für seine Rolle bei der Veröffentlichung von Geheimdokumenten zum Afghanistankrieg sowie bei der Veröffentlichung von Depeschen US-amerikanischer Botschaften , die unter „Cablegate“ bekannt wurde.
WikiLeaks ist eine Quelle der Inspiration für viele Whistleblowers, aber auch für viele Journalisten und all jene, denen die Meinungs- und Redefreiheit am Herzen liegt. WikiLeaks hat seit der Gründung im Jahr 2006 den Journalismus revolutioniert. Julian Assange und seinem Team ist es zu verdanken, dass große Kriegsverbrechen und Formen globaler Misswirtschaft aufgedeckt wurden. Ein Beispiel dafür ist die Veröffentlichung des Videos "Collateral Murder" über den Luftangriff auf Baghdad im Jahr 2007, das WikiLeaks von Chelsea Manning bekam. Jeder, dem Informationsfreiheit etwas bedeutet, hat WikiLeaks etwas zu verdanken, und ich finde das  Schweigen eines Großteils der internationalen Medien über die Isolierung und Verfolgung von Julian Assange, die seit Jahren andauert, wirklich skandalös.


Whistleblowers werden häufig entweder als Helden oder als Verräter angesehen. Im Vorwort des Buches bezeichnen Sie dies als eine "künstliche Dichotomie". Warum?
In vielen sozialen und kulturellen Zusammenhängen wird Whistleblowing als eine Form des Verrats angesehen und als solcher stigmatisiert. Die Folge ist, dass Informanten verfolgt, ignoriert und  isoliert werden, strenge Maßnahmen werden gegen sie ergriffen. Der Idee, "Beweise" zu erbringen und Informationen von öffentlichem Interesse aus den Systemen selbst heraus offenzulegen, wird nicht immer als etwas Positives angesehen. Je geschlossener das System, desto wahrscheinlicher, dass die Person, die illegale Aktivitäten und Geschäfte aufdeckt und sie an die Öffentlichkeit bringt, als „Verräter“ gilt. Es entsteht ein Klima der Einschüchterung, des Mobbings und der Isolation, das in dem Film „Never Whistle Alone“ (Italien, 2019) sehr gut beschrieben wird.
Wenn Whistleblowers als Helden gefeiert werden, kann das auch zum Problem werden, weil sie dann nicht mehr als „normale“ Menschen wahrgenommen werden, die leben, handeln und leiden, wie wir alle auch. Das kann dazu führen, dass sie weniger Unterstützung erfahren. Sie werden vom Mediensystem verschluckt aber sobald ihre Taten nicht mehr in den Schlagzeilen stehen,und geraten in Vergessenheit. In unserem Buch erzählen Whistleblowers ihre eigenen Geschichten selbst. Sie berichten über die unmittelbaren Folgen, die ihre Entscheidungen für ihr eigenes Leben hatten, über ihre Schwierigkeiten.


Gibt es ein generelles Vorurteil gegenüber Whistleblowers, auch in der linken und aktivistischen Zusammenhängen?
Wir sollten nicht verallgemeinern, aber ja,  dieses Misstrauen gibt es und das hat Gründe. Whistleblowers sind Menschen, die Systeme zum Besseren verändern wollen, aber in vielen Fällen vertrauen sie diesen Systemen zu sehr und merken zu spät, dass die Systeme nicht bereit sind, sich zu ändern. Viele der Whistleblowers, die ich getroffen habe, sind keine Aktivisten und kommen nicht aus der radikalen Linken. Sie haben als Drohnenpilotinnen, als Analysten beim Geheimdienst oder für das Militär gearbeitet, sie waren Mitglieder bei nationalen Sicherheitsbehörden, der FBI oder der CIA. Es ist klar, dass es unter den Aktivisten Misstrauen gibt. Ich selbst komme aus der Welt des Medienaktivismus und wäre vermutlich auch zunächst misstrauisch gewesen, wenn ich diese Leute nicht persönlich gekannt hätte. Für mich war es eine große Überraschung, den Mut zu finden, meine Meinung über sie zu ändern, so wie sie den Mut hatten, ihre Meinung über die Systeme zu ändern, in denen sie arbeiteten. Die eigene Meinung zu ändern, um etwas Konkretes aufzubauen und Formen von Macht, Kontrolle und Überwachung anzuprangern, ist ein sehr starker Akt des bürgerlichen Gewissens. Das muss unterstützt und geschützt werden. Sehr oft sind Whistleblowers auch Opfer der Systeme, die sie mit aufgebaut haben. Es sind diese Systeme, die wir bekämpfen müssen, nicht einzelne Personen, vor allem, wenn sie sich dann entscheiden, auf die andere Seite zu wechseln.

"Whistleblowing ist eine Handlung, die den normalen Zustand stört. Es ist eine Praxis der Unterbrechung, der Störung innerhalb von Systemen. Aber sie ist auch eine Praxis der aktiven Gestaltung des politischen Wandels."


Sie schreiben, dass die Whistleblowing ein Menschenrecht werden sollte. Können Sie das erklären? 
Whistleblowing ist eine ethische Handlung, die auf Ehrlichkeit und Verantwortung beruht.  Ich glaube, dass Whistleblowing ein Bürgerrecht werden sollte. Das kulturelle Vorhaben von „Whistleblowing for Change“ besteht darin, durch die konzeptionelle Ausweitung dieses Akts auf eine Reihe von Praktiken auf kultureller, politischer, technologischer und künstlerischer Ebene dazu beizutragen, die öffentliche Meinung für die Situation von Whistleblowers zu sensibilisieren und sich deren Verfolgung entgegenzustellen. Viele der Autorinnen und Autoren, die an dieser Anthologie mitgewirkt haben tragen dazu bei, Macht- und Unrechtssysteme aufzudecken und zahlen oft einen hohen Preis dafür. Wir sind der Ansicht, dass die Öffentlichkeit über ihr Handeln informiert werden und sie unterstützen soll.
Annie Machon argumentiert, Whistleblowing sei der letzte Ausweg, wenn eine Person erkannt hat, dass sich das System nicht ändern kann und will. Gäbe es genügend Aufmerksamkeit und Spielraum für direkte Aktionen, gäbe es nicht so viele Fälle von jungen Whistleblowers, die gegen Systeme kämpfen, die viel mächtiger sind als sie selbst. Ein guter Ansatz in dieser Hinsicht ist die Arbeit der Organisation GlobaLeaks: Sie stellt der öffentlichen Verwaltung kostenlose und sichere Whistleblowing-Plattformen zur Verfügung, die auf einer open-source-Software basieren.


Gibt es weitere Organisationen, die sich auf rechtlicher Ebene mit Whistleblowers befassen und sich spezifisch für deren Schutz einsetzen?
Ja, die gibt es, auch darüber berichten wir in dem Buch. Zu erwähnen wäre Blueprint for Free Speech, das 2014 von Suelette Dreyfus gegründet wurde und sich für das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung einsetzt. Das Whistleblowing International Network, über dessen Arbeit Anna Myers berichtet, verteidigt Whistleblowers, die Fälle von Korruption, Umweltverschmutzung, Betrug und Missbrauch melden.  The Signals Network ist eine französisch-amerikanische Non-Profit-Organisation, die Projekte zur Unterstützung von Whistleblowers organisiert, zum Beispiel Redaktionen besser auf die Zusammenarbeit mit Whistleblowers vorzubereiten. In Deutschland leistet das Whistleblower-Netzwerk e.V. unter dem Vorsitz von Annegret Falter und Robert Bungart wichtige Arbeit, um Transparenz in Unternehmen und Behörden zu fördern und Whistleblowers zu schützen. In Italien wäre The Good Lobby zu erwähnen, die von entscheidender Bedeutung für den Kampf gegen Korruption und für die Einführung des italienischen Gesetzes zum Schutz von Whistleblowers ist; und natürlich sollten wir die Arbeit von Transparency International auf internationaler und lokaler Ebene erwähnen.


Ein Begriff, der in Ihrem Buch auftaucht, ist "Art as Evidence". Was hat Whistleblowing mit Kunst zu tun?
Der Abschnitt des Buches unter dem Titel "Art as Evidence", also Kunst als Beweismittel, befasst sich mit den Auswirkungen von Whistleblowing auf Kunst und Kultur. Die Idee von Kunst als Informationsquelle für Themen von öffentlichem Interesse wurde mir 2013 von Laura Poitras vorgeschlagen, als wir gemeinsam mit Trevor Paglen und Jacob Appelbaum eine Keynote mit diesem Titel vorbereiteten, die ich 2014 auf der „transmediale“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt kuratierte. Es geht dabei um das  Potenzial von Kunst, über soziale, politische und technologische Themen zu informieren und für bestimmte Themen zu sensibilisieren. In meiner Analyse gehe ich auf die Entstehung des Begriffs von „Kunst als Beweismittel“ und auf die Auswirkungen von Whistleblowing auf Kunst und Kultur ein, von den frühen Projekten von WikiLeaks bis zu Edward Snowdens Enthüllungen über die Massenüberwachung und die Abhörprogramme der NSA.
Die Idee beruht auf der Vorstellung, dass durch kritische Denkmodelle und Analysen unserer Gegenwart Kunstwerke entstehen können. Ziel ist es, die Öffentlichkeit nicht nur auf analytischer, sondern auch auf emotionaler Ebene einzubeziehen. Laura Poitras hat dies in ihren Filmen und Ausstellungen perfekt umgesetzt. In meinem Interview mit ihr spricht sie auch über die Notwendigkeit, kritische Geschichten zu veröffentlichen, wie etwa die Entscheidung von  The Intercept, das Snowden-Archiv zu schließen, oder die Zurückhaltung eines Großteils der Presse zu „unbequemen“ Geschichten wie der von Julian Assange und darüber, wie wichtig es ist, aufzudecken, wie Machtapparate daran beteiligt sind, Whistleblowers zum Schweigen zu bringen und kritische Stimmen zu kriminalisieren.


Im Vorwort erzählen Sie von Ihren Erfahrungen als Medienaktivistin während des G8-Gipfels in Genua 2001. Inwieweit hat das Ihre spätere Arbeit über Whistleblowing beeinflusst?
Wie die anderen Autorinnen und Autoren des Buches erzähle auch ich meine Geschichte, ausgehend von einer persönlichen Erfahrung. Seit Ende der 1990er Jahre war ich Teil eines Hackerkollektivs in Rom, AvANa (Avvisi Ai Naviganti), und arbeitete eng mit der Gruppe Strano Network zusammen, die damals in Florenz und Umgebung aktiv war. Während des G8-Gipfels in Genua im Juli 2001 wurden wir live Florenz aus mit Radio GAP (Global Audio Project) zugeschaltet, einem Netzwerk selbstverwalteter Radiosender, das im Medienzentrum der Diaz-Schule angesiedelt war, wo sich auch das Sozialforum Genua, Indymedia und andere unabhängige Plattformen befanden. Wir haben die Razzia im Medienzentrum live miterlebt, da wir zugeschaltet waren, und das hat bei mir ein Trauma hinterlassen, auch, wenn ich nicht physisch dabei war. Diese Tage waren von großer Bedeutung für die italienische und internationale Bewegung.
Im Gegensatz zu dem, was einige Medien in diesem Sommer verkündeten, war Genua ein Anfang und nicht das Ende einer Bewegung. Für mich bedeutete dies, über politische Konfliktstrategien nachzudenken, die nicht mehr auf direkter Konfrontation beruhen, sondern auf einer fließenden Dynamik.
2003 kam ich nach Berlin und wurde Teil der Hacker- und Queerszene der Stadt. Ich wollte herausfinden, ob eine Form der politischen Opposition vorstellbar ist, die nicht nur frontal ist. Als ich hierher zog, begann ich mich persönlich für queere Politik und Praktiken zu interessieren, später auch für das Phänomen der Disruption als Störung von Systemen von innen heraus.
2014 führte diese Überlegung zur Gründung des Disruption Network Lab. Die Konferenzen  des Disruption Network Lab sind aus dieser Verbindung von Aktivismus, Technologie und Kunstpraktiken entstanden. Von dem Moment an, als ich die Theorie der networked disruption konzipierte, landete ich bei Whistleblowing, das für mich eine Möglichkeit darstellt, Kunstaktivismus und Technologie kritisch zu überdenken. Es ist eine Handlung, die den normalen Zustand stört. Es ist eine Praxis der Unterbrechung, der Störung innerhalb von Systemen. Aber sie ist auch eine Praxis der aktiven Gestaltung des politischen Wandels.


Das Buch Whistleblowing for Change erscheint am 27. November. Aus diesem Anlass lädt das Disruption Network Lab einige der Autorinnen und Autoren ins Berliner Kunstquartier Bethanien ein, um über die Themen des Buches zu diskutieren. 

Whistleblowing for Change

Das Video der Konferenz finden Sie hier
 


Das Disruption Lab organisierte im März Konferenzen zum Thema Whistleblowing während der Pandemie. Diskutiert wurde dabei unter anderem über "Pandemie-Journalismus".
Ausgangspunkt der Konferenz "Behind the Mask" im März war eine systemische Reflexion über die Auswirkungen der Pandemie. Die Pandemie hat Machtasymmetrien und Ungerechtigkeiten aufgezeigt, die in der Gesellschaft bereits vorhanden waren, nun aber nicht mehr zu übersehen sind. Viele Menschen verloren Familienangehörige und Freunde, andere sind arbeitslos geworden, wieder andere haben im Lockdown Gewalt erlitten und dann gab es viele, die gar nicht zuhause bleiben konnten, weil ihre Jobs als „systemrelevant“ gelten. Sie waren der Infektionsgefahr viel stärker ausgesetzt als der Rest von uns. Bei der Konferenz wurde darauf hingewiesen, wie wichtig Whistleblowers gerade in Krisenzeiten sind. In einer Notsituation wie der Pandemie ist es von entscheidender Bedeutung, Menschen zu unterstützen, ihnen zuzuhören, Missstände zu melden, sei es im Gesundheitswesen, im Arbeitsumfeld oder im Alltag.
In der gegenwärtigen Krise ist es notwendig, korrekt über Fragen der öffentlichen Gesundheit zu informieren. Medienkompetenz ist dabei ganz entscheidend und die  kann man üben. Serena Tinari, Mitbegründerin von Re-Check und Enthüllungsjournalistin zu medizinischen Themen, zeigte dies in einem Alphabetisierungsworkshop über Pandemie-Journalismus. Sie betonte, wie wichtig es sei, dass die Impfkampagne in den Medien durch eine kritische Analyse der bereitgestellten Informationen unterstützt wird; dass Zahlen und Daten stets sorgfältig geprüft werden; dass potenzielle Interessenkonflikte, etwa zwischen Medien und Pharmaunternehmen  weiterhin beleuchtet werden.
Viele Journalisten haben sich in den vergangenen zwei Jahren immer mehr als medizinische Experten aufgespielt, und die Meinung von Virologen ist zum wichtigsten Anhaltspunkt für Fragen geworden, die teilweise in die Zuständigkeit anderer Fachleute fallen sollten. Die Medien müssen versuchen, der Öffentlichkeit Orientierung zu geben, um ein Klima der kollektiven Solidarität anstelle von Angst, Misstrauen und Alarm zu schaffen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Menschen das Vertrauen in die Institutionen verlieren und Opfer von Verschwörungstheorien werden, mit schwerwiegenden Folgen für ihre eigene Gesundheit und die ihrer Mitmenschen. Kritik darf nicht den Impfgegnern und Verschwörungsgläubigen überlassen werden, wir müssen den Mut haben, für Transparenz zu sorgen, Missstände anzuprangern und Informationen von öffentlichem Interesse preiszugeben, damit die Menschen die richtigen Entscheidungen treffen können.
Aus diesem Grund ist die Rolle der Whistleblowers und truth-teller so wichtig. Abgesehen von den bekanntesten Fällen gibt es viele Menschen, die sich tagtäglich für die Wahrheit einsetzen, auch im Bereich der Medizin und im öffentlichen Gesundheitswesen, wie Erika Cheung, Whistleblowerin beim Bluttest-Unternehmen Theranos und Mitbegründerin von Ethics in Entrepreneurship  oder Eileen Chubb, Whistleblowerin im Pflegeheim- und Betreuungsbereich, Gründerin von Compassion In Care und Mitbegründerin von The Whistler. Ihre Geschichten sind Teil unserer Konferenz vom vergangenen März.


Die Konferenz beginnt mit der Deutschlandpremiere des Dokumentarfilms  "United States vs. Reality Winner" von Sonia Kennebeck. Warum haben Sie sich dafür entschieden, diese Geschichte und die von anderen weniger bekannten  Whistleblowers zu erzählen?
Der Beitrag von Realitys Mutter eröffnet auch das Buch. Wir haben uns dazu entschlossen, um zu zeigen, wie auch das private Umfeld von Whistleblowers unter den Folgen  der staatlichen Repression und dem Schweigen der Medien leidet.
Reality Winner arbeitete bis 2016 bei der US-Luftwaffe im Bereich Nachrichtendienst und Drohnenprogramm, wo sie als Linguistin tätig war, und wurde daraufhin von einem Unternehmen eingestellt, das Dienstleistungen für die National Security Agency erbringt.
Im Jahr 2016 wurde sie verhaftet, nachdem sie einen Geheimdienstbericht über Spear-Phishing-Versuche Russlands bei den US-Wahlen 2016 anonym an die Redaktion der Online-Zeitung The Intercept geschickt hatte. Der Leak wurde zu der Zeit veröffentlicht, als Donald Trump versuchte, die Ermittlungen über die russische Einmischung zu stoppen. Reality Winner wurde nach dem Spionagegesetz angeklagt. Sie wurde gezwungen, eine Abfindung zu akzeptieren, die sie für fast vier Jahre ins Gefängnis brachte.
Unser Ziel mit dem Buch ist es, verschiedene Gesichtspunkte und Kompetenzen miteinander zu verbinden, neue Untersuchungen zu fördern und kollektive Taktiken zu entwickeln, um Macht- und Unrechtssysteme aufzudecken. Deswegen war uns der Beitrag von Billie Winner-Davis wichtig.
Eine ähnliche Geschichte, die im Buch erzählt wird, ist die von Brandon Bryant, der als erster Drohnen Operator die Arbeitsbedingungen beim Predator-Programm der US-Luftwaffe anprangerte, an dem er von 2006 bis 2011 beteiligt war.
Ein weiterer wichtiger Beitrag ist der von Lisa Ling und Cian Westmoreland,“The Kill Cloud“. In diesem Kapitel schreiben die beiden Whistleblowers über die Auswirkungen des Network Centric Warfare (netzwerkbasierte Kriegsführung) und darüber, was sich hinter diesem technologischen Ansatz verbirgt, der sich nicht darauf beschränkt, Drohnen zu Kriegszwecken zu verwenden. Sie beschreiben ein komplexes Netzwerk, welches verschiedene Knotenpunkte eines globalen Kontrollsystems verbindet, das auf der Verknüpfung zwischen Satelliten, künstlicher Intelligenz, Big Data und Bereichen des Militärs und der Politik beruht.
Daniel Hale, ehemaliger Analyst der NSA, der wegen der Weitergabe geheimer Informationen über den Einsatz von Drohnen bei Militäreinsätzen verurteilt wurde, kommt ebenfalls im Buch vor. Der Text ist die Erklärung, die Daniel, der immer noch im Gefängnis sitz, vor Gericht verlas.
Die Konferenz im November ist der erste Schritt in einer tiefgreifenden Diskussion über die Auswirkungen von Whistleblowing in Kultur, Politik und Gesellschaft und knüpft direkt an eine zweite Konferenz, „Networked Warfare“, die vom 25. bis 27. März 2022 in Berlin stattfinden wird und das Jahresprogramm des Disruption Network Lab eröffnet. Im März werden wir uns auf Drohnenkriegsführung und Überwachungstechnologien konzentrieren, die Themen unserer ersten Konferenz im April 2015.

 


Tatiana Bazzichelli
Dr. Tatiana Bazzichelli, Bild: Ticha Matting


Tatiana Bazzichelli ist Gründerin und künstlerische Leiterin des Konferenzprogrammes Disruption Network Lab in Berlin. Zuvor war sie Programm- und Konferenzkuratorin beim transmediale Festival, das die kulturelle Transformation aus einer postdigitalen Perspektive kritisch reflektiert. Bazzichellis Arbeit für die transmediale stand im Mittelpunkt ihrer Postdoc-Arbeit am Zentrum für Digitale Kulturen der Leuphana Universität Lüneburg. Sie promovierte 2011 in Informations- und Medienstudien an der Fakultät der Künste der Aarhus Universität (DK). Seit dem Jahr 2019 ist Bazzichelli Mitglied in der Jury des Hauptstadtkulturfonds.