Homestory

Homestory #49

Wenn Sie diese Zeitung in den Händen halten, wird der regime change bereits erfolgt sein: Ein neuer Mann wird an der Spitze stehen und die Zügel an sich genommen haben. Die Rede ist natürlich von Ihrer Lieblingszeitung, die, wie es regelmäßig geschieht, den Chef vom Dienst (CvD) austauscht: Ein neuer Redakteur übernimmt den Posten, ein anderer kehrt ins Auslandsressort zurück.

Anders als der derzeit noch designierte Bundeskanzler Olaf Scholz musste der neue CvD keinen Wahlkampf veranstalten und kein Programm vorstellen; vollmundige Versprechen in Werbe­ästhetik, er wolle »mehr Fortschritt wagen«, sind von ihm nicht bekannt. Auch erwarten Beobachter eine geräuschlose Machtüber­gabe – dass Anhänger des vorherigen CvD die Redaktionsräume stürmen werden, um den Amtsantritt des legitimen Nachfolgers zu verhindern, wie im Januar in Washington, D.C., muss nicht befürchtet werden.

Die bürgerliche Demokratie hat schon bessere Zeiten erlebt, das wissen auch die Demokraten selbst – zu einem großen »Summit for Democracy« lädt deshalb in dieser Woche US-Präsident Joe Biden, um autoritären Entwicklungen weltweit etwas entgegenzusetzen (Berichterstattung in der kommenden Ausgabe). Korruption, Populismus und Angriff auf unabhängige Institutionen allerorten! Die Jungle World, die auch mit Propaganda und fake news nichts am Hut hat, hat solche Probleme zum Glück nicht. Zwar soll auch diese ­Zeitung eine geschriebene Verfassung haben, aber niemand weiß so recht, was in ihr steht, manch einer zweifelt daran, dass es sie überhaupt gibt. Somit gilt nach britischem Vorbild das common law, die Berufung auf Präzedenzfälle, in die Neuerungen aufgenommen werden. Ohne einen überkandidelten Premierminister an der Spitze geht das.

Die Erklärung für das Funktionieren der Zeitungsdemokratie liegt natürlich darin, dass in ihr kein Herrschaftspersonal bestimmt und ausgetauscht werden muss. Es thront über dem Redaktions­kollektiv kein höheres Wesen, auch kein Geldgeber, es sind nur viele autonom und gleichberechtigt arbeitende Menschen, die wichtige Entscheidungen gemeinsam treffen. Für das Zeitung­machen funktioniert dieses Modell, um einen Staat wie Deutschland zu regieren, dürfte es zugegebenermaßen zu Problemen f­ühren. Was aber, wenn man es bedenkt, eher gegen diesen Staat sprechen dürfte als gegen das Konzept der Jungle World-Demokratie.