In Großbritannien sollen Proteste leichter kriminalisiert werden

Protest wird kriminell

Die britische Regierung hat einen Entwurf zur Reform des Strafjustizsystems in letzter Minute abgeändert. Wird er Gesetz, würden unter anderem Proteste weitreichend kriminalisiert.

Bis zu 51 Wochen Haft – das könnte nach einer Reform des Strafjustizsystems in Großbritannien Personen drohen, die im Rahmen von Protesten wichtige Transportwege blockieren. Innenministerin Priti Patel brachte am Abend des 24. November 18 Seiten an Änderungen in einen entsprechenden Gesetzesentwurf (Police, Crime, Sentencing and Courts Bill) ein, mit denen Proteste effektiv kriminalisiert werden können.

Der Vorgang ist bemerkenswert: Die Regierung hat bis zur letzten Phase des Gesetzgebungsverfahrens gewartet und dann plötzlich eine Reihe von Änderungen vorgeschlagen, so dass Journalisten und Menschenrechtsgruppen kaum Zeit hatten, Alarm zu schlagen. So verhinderte die Regierung auch eine par­lamentarische Debatte über die Änderungen, die aufgrund der dezentralisierten Struktur des Vereinigten Königreichs vor allem England und Wales betreffen würden. Der Labour-Politiker Charles Falconer, Mitglied des House of Lords und ein Gegner des Gesetzentwurfs, schlug auf Twitter Alarm: »Das Unterhaus wird ausgeschlossen, die Lords werden an den Rand gedrängt, das Parlament wird neutralisiert.«

Dem jetzigen Gesetzentwurf zufolge könnte der Besitz von Kleber oder Seilen in der Nähe einer Demonstra­tion bereits eine Straftat darstellen.

Größere Proteste gegen die Reform unter dem Motto »Kill the Bill« hatte es nach der zweiten Parlamentslesung im März gegeben, sie begleiteten in den Monaten danach auch die weiteren Etappen des Gesetzgebungsverfahrens. Insgesamt war in der Gesellschaft und den Medien bislang jedoch wenig Empörung zu vernehmen. Das dürfte vor allem an dem intransparenten Vorgehen und daran liegen, dass andere Änderungen wie die Verschärfung der Strafen für Gewalt und Mord an Kindern derzeit mehr mediale Aufmerksamkeit erfahren und eher wohlwollend aufgenommen werden.

Der über 300 Seiten umfassende Gesetzentwurf der konservativen Regierung von Premierminister Boris Johnson wurde dem Unterhaus erstmals am 9. März zur Debatte vorgelegt. Mehr als 150 Gruppen, darunter Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Glaubensgemeinschaften, sehen in der Reform einen Angriff auf bürgerliche Freiheiten.

Bereits das Gesetz über die öffentliche Ordnung von 1986 (Public Order Act 1986), das der Entwurf ändern soll, gab der Polizei weitreichende Befugnisse, um gegen Demonstrierende vorzugehen, wenn sie meint, eine Demonstra­tion könnte eine »schwere Störung der öffentlichen Ordnung, eine schwere Sachbeschädigung oder eine schwere Beeinträchtigung des Gemeinschaftslebens« zur Folge haben. In der im März dieses Jahres eingebrachten Fassung des Gesetzentwurfs wurde der fragliche Abschnitt erweitert: Wenn der Lärm des Protests »zu einer ernsthaften Störung der Aktivitäten einer Organisation führen kann« – zum Beispiel indem Angestellte in einem nahe­ge­legenen Büro abgelenkt werden –, kann die Polizei Beschränkungen ver­hängen.

Die nun durch die Hintertür eingebrachten Änderungen verschärfen den Gesetzesentwurf noch weiter. Britische Journalisten wie George Monbiot, ein Kolumnist des Guardian, mahnen, dass sich Großbritannien unter der Hand zu einem Polizeistaat entwickele. Eine wesentliche Änderung betrifft die po­lizeiliche Kontrolle und Durchsuchung von Personen. Bisher war diese bei »begründetem Verdacht« möglich, der beispielsweise vorliegt, wenn jemand Gegenstände mit sich führt, mit denen gegen bestimmte Gesetze verstoßen werden könnte. Der Gesetzentwurf sieht nun vor, dass, um »schwere Störungen« oder ein »öffentliches Ärgernis« zu vermeiden, eine Kontrolle samt Durchsuchung eingeleitet werden kann, »unabhängig davon, ob der Polizei­beamte den begründeten Verdacht hat, dass die Person einen verbotenen Gegenstand mit sich führt« – ein Freibrief für invasive Polizeimaßnahmen. Falls man sich gegen dieses Vorgehen zur Wehr setzt, droht eine Gefängnisstrafe von bis zu 51 Wochen.

Weitere Änderungen weiten »protestbezogene Delikte« aus und richten sich direkt gegen Protestformen, die zuletzt in der Umwelt- und Klimaschutz­bewegung an Beliebtheit gewonnen ­haben. Der neue Zusatzartikel 319A stellt unter Strafe, sich selbst, andere Personen oder Dinge vorsätzlich an »eine Person, einen Gegenstand oder den Boden« anzuketten, 319B »zum Anketten ausgerüstet zu sein«.

Hinzu kommen unter den Zusatzartikeln 319C und 319D die Vergehen »vorsätzliche Blockade von Autobahnen« und »großen Verkehrsbauwerken«, darunter Straßen, Eisenbahnlinien und Flug­lande­bahnen. Somit könnte beispielsweise der Besitz von Kleber oder Seilen in der Nähe ­einer Demonstration oder das Halten von Händen oder gegenseitiges Ein­haken während einer Demonstration bereits eine Straftat darstellen. Für all diese Vergehen drohen bis zu 51 Wochen Gefängnis, Geldstrafen oder beides.

Den am weitesten reichenden Angriff auf die Freiheitsrechte stellt die »Anordnung zur Verhinderung schwerwiegender Störungen« dar. Personen, die bereits zweimal »protestbezogene Delikte« begangen haben, können damit daran gehindert werden, an weiteren Protesten teilzunehmen, also in ihrer Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden. Das betrifft auch Personen, die an einem Protest teilgenommen oder zu ihm beigetragen haben, der »wahrscheinlich zu ernsthaften Störungen führen würde«.

Neben der Versammlungsfreiheit soll auch die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden, da etwa Aufrufe in sozialen Medien zu Protesten, die ernsthafte Störungen verursachen könnten, ebenfalls »protestbezogene Delikte« werden können und den Aufrufenden in der Folge per »Anordnung zur Verhinderung schwerwiegender Störungen« der Umgang mit bestimmten Personen oder die »Nutzung des Internets zur Erleichterung oder Förderung« ­einer »protestbezogenen Straftat« untersagt werden können.

Unter Zuhilfenahme rechtlicher Verfahren sollen möglichst ohne große Aufmerksamkeit demokratische Rechte beschnitten werden. Der britischen ­Regierung geht es mit ihrem in letzter Minute geänderten Gesetzentwurf nicht um die Wahrung von Recht und Ordnung, sondern um staatliche Kon­trolle, die schleichende Aushöhlung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit.