Eine Kritik an der Ideologie der Achtsamkeit

Pseudobuddhistischer Wohlfühlwahn

Der schärfste Kritiker der Achtsamkeitslehre ist selber Zen-Lehrer: Ronald E. Purser knöpft sich in seinen Schriften die Ideologie der Mindfulness vor.

Wie sich der neoliberale Kapitalismus durch die Integration vorgeblich subversiver Trends stabilisiert, lässt sich gegenwärtig anhand des boomenden Achtsamkeitsmarkts beobachten. Das Konzept der Achtsamkeit, auch Mindfulness genannt, verspricht nicht nur einen zumindest temporären Ausstieg aus den Zwängen des Alltags, sondern beansprucht auch, widerständiges Potential zu besitzen. Achtsamkeit, so beschreibt es der emeritierte Medizinprofessor Jon Kabat-Zinn in seinem Bestseller »Im Alltag Ruhe finden«, ist die Fähigkeit, »auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen. Diese Art der Aufmerksamkeit steigert das Gewahrsein und fördert die Klarheit sowie die Fähigkeit, die Realität des gegenwärtigen Augenblicks zu akzeptieren.« Achtsamkeitsangebote erscheinen so als geeignetes Mittel gegen die Zumutungen der Aufmerksamkeitsökonomie.

So pointiert und witzig sich Pursers Bewertung auch liest, so wenig grundsätzlich fällt seine Kritik aus. Kein Wunder: Als Professor für Management an der San Francisco State University und »ordinierter Zen-Lehrer in der koreanischen Linie des buddhis­tischen Taego-Zen-Ordens« setzt er sich letztlich für eine Rückbesinnung auf die ethischen Wurzeln der Achtsamkeitspraktiken ein.

Der ursprünglich als Molekularbiologe tätige Kabat-Zinn gilt als Vordenker der weltweiten Achtsamkeitsbewegung. 1979 gründete er in der Nähe von New Jersey die Stress Reduction Clinic und begann, verschiedene achtsamkeitsbasierte Übungen und Bewegungsabläufe etwa aus dem Yoga oder dem Buddhismus zu therapeu­tischen Zwecken einzusetzen. So entwickelte Kabat-Zinn die Methode der »Mindfulness-Based Stress Reduction«, die ein festes Übungsprogramm umfasst und mittlerweile weltweit Anwendung findet. Auch in Deutschland bezuschussen einige Krankenkassen diese und ähnliche Angebote als Maßnahmen zur Stressbewältigung. »Achtsamkeit und Mindfulness sind über die letzten Jahre hindurch verstärkt von Unternehmen als Werkzeuge für agiles Leadership und Management erkannt worden«, heißt es auf der Homepage der Robert Bosch GmbH, die einen eigenen Podcast für ein »achtsameres Arbeitsleben« betreibt.

Als pseudobuddhistischen Wohlfühlwahn westlicher Gesellschaften verspottet Ronald E. Purser den Siegeszug der Achtsamkeitsbewegung in seinem 2019 in den USA erschie­nenen Buch »McMindfulness. How Mindfulness Became the New Capitalist Spirituality«. Den Begriff »McMindfulness« übernimmt er von dem Psychotherapeuten Miles Neale, der damit die konsumorientierte Vermarktung von Achtsamkeit kritisiert. Ähnlich wie das global tätige Franchise-Unternehmen, auf das der Name anspielt, neue Restaurants mit ihremseinem Label ausstattet, gebe das von Kabat-Zinn gegründete und mittlerweile an der University of Massachusetts angesiedelte Center for Mindfulness Rahmenbedingungen und Curricula vor, nach denen nationale Verbände zertifizierte Achtsamkeitstrainerinnen ausbilden können.

Purser kritisiert, dass Achtsamkeit, aus ihren religiösen und ethischen Kontexten im Buddhismus und im Taoismus gelöst, zum Zweck der Selbstoptimierung wie eine Ware angeboten werde. Er sieht darin die Fortsetzung einer Entwicklung, die Jeremy Carrette und Richard King bereits 2004 in ihrem Buch »Selling Spirituality: The Silent Takeover of Religion« hingewiesen haben. Darin beschreiben die beiden Religions­wissenschaftler, wie Elemente der eigentlich an umfassenden sozialen und kosmischen Fragen orientierten asiatischen Philosophien von neo­liberalen Konzepten assimiliert werden, welche den Menschen vorrangig als Konsumenten und die Gesellschaft primär als Markt verstehen. Daran anschließend formuliert Purser, Achtsamkeitspraktiken ohne ethische Rahmung glichen einem reinen »Konzentrationstraining«, ­welches im besten Fall wirke wie eine Aspirin-Tablette gegen Kopfschmerzen.

Langfristig aber, und darauf kommt es dem Autor an, sei keine Besserung zu erwarten, da achtsamkeitsbasierte Praktiken geradezu per Definition den größeren sozialen und politischen Entstehungszusammenhang von Stress- und Erschöpfungszu­ständen außer Acht lassen. Purser zufolge werden diese eigentlich in der sozialen Umwelt entstandenen Probleme so vorrangig zu einem ­Problem des Geistes beziehungsweise zu Phantasien der Vergangenheit und Zukunft erklärt, von denen sich der Einzelne mittels eigener Anstrengung distanzieren soll. Die Achtsamkeitsideen setzen zwar bei einem realen Bedürfnis nach Veränderung an, verharren jedoch im neoliberalen Mantra von Eigenverantwortung und Selbstdisziplin. Dem entspricht die häufig zitierte Idee, dass die Fähigkeit zur Achtsamkeit wie ein Muskel trainiert werden könne. Langfristig droht so eine Depolitisierung und Pathologisierung von Stressphänomenen nach dem Motto: Wenn du noch nicht entspannt bist, hast du es noch nicht richtig versucht.

So pointiert und witzig sich Pursers Bewertung auch liest, so wenig grundsätzlich fällt seine Kritik aus. Kein Wunder: Als Professor für Management an der San Francisco State University und »ordinierter Zen-­Lehrer in der koreanischen Linie des buddhistischen Taego-Zen-Ordens« setzt er sich letztlich für eine Rückbesinnung auf die ethischen Wurzeln der Achtsamkeitspraktiken ein. Bereits 2018 veröffentlichte er zusammen mit Kollegen das »Handbook of Ethical Foundations of Mindfulness«, das der Frage nachgeht, inwieweit insbesondere die buddhistische Tradition instruktiv für die Anwendung von Achtsamkeitsideen in den Themenfeldern der Bildungs-, Wirtschafts- und Umweltpolitik sein könne.

Aus ideologiekritischer Perspektive ist allerdings nicht ersichtlich, warum gerade der Buddhismus eine Referenz für emanzipatorische Gesellschaftskritik darstellen sollte. Im Westen gilt er zwar seit längerem als ­besonders friedfertig und tolerant, allerdings zeigen beispielsweise die beiden Religionswissenschaftler Michael K. Jerryson und Mark Juergensmeyer in ihrem 2010 erschienenen Buch »Buddhist Warfare« anhand zahlreicher historischer Beispiele, dass auch der Buddhismus immer wieder der Rechtfertigung von Gewalt und der Durchsetzung staat­licher Herrschaft dienlich war.

Darüber hinaus erfolgt die von Purser kritisierte neoliberale Vereinnahmung des Achtsamkeitsgedankens nicht nur »von außen«, sondern knüpft direkt an Ideen an, die der buddhistischen Tradition innewohnen. Slavoj Žižek hält den Buddhismus aufgrund von Vorstellungen wie der des »Nicht-Selbst« (Anatta) oder der des Karmas für völlig ungeeignet, um eine Kritik am Neoliberalismus zu formulieren. Vielmehr sieht eine Allianz beider Denkweisen heraufziehen. In seinem 2014 erschienen Buch »Was ist ein Ereignis?« schreibt er: »Obwohl sich der Buddhismus als Gegenmittel zur auf­reißenden Spannung der kapitalistischen Dynamik präsentiert und uns erlaubt, inneren Frieden und Gelassenheit zu finden, funktioniert er eigentlich als das perfekte ideologische Supplement des Kapitalismus. (…) Lebte Max Weber heute, so würde er zweifellos einen Ergänzungsband zu seiner protestantischen Ethik verfassen, der dann den Titel ›Die taoistische Ethik und der Geist des globalen Kapitalismus trüge.«