Franz Fühmann wäre am 15. Januar 100 Jahre alt geworden

Dicke Bretter

Am 15. Januar wäre Franz Fühmann 100 Jahre alt geworden. Wie bei nur wenigen anderen Schriftstellern spiegeln sich in seinem Leben und Werk die politischen Brüche des 20. Jahrhunderts.

»Literatur ist immer Literatur im Widerspruch«, sagte der Schriftsteller Franz Fühmann 1976 in einer Rede über E. T. A. Hoffmann. Auch auf Fühmanns eigenes Werk trifft diese Aussage zu. Sein Leben und die Verhältnisse, in denen es sich ereignete, waren nur zu reich an Widersprüchen, die zu entfalten, auszutragen, manchmal auch zuzuspitzen er als Aufgabe der Literatur betrachtete.

Fühmann wurde am 15. Januar 1922 als Sohn sudetendeutscher Eltern im böhmischen Rokytnice nad Jizerou (Rochlitz an der Iser) geboren. Die märchenhaft anmutende Landschaft des Riesengebirges, dessen Täler, Moore und Wälder seine Phantasie mit Geistern und Dämonen bevölkerte, prägte Fühmanns Kindheit. Noch wichtiger waren aber wohl die »rüde nationalistisch-faschistische Lebenssphäre« des Sudetenlands und die autoritäre Erziehung durch seine erzkonservativen Eltern und seine Lehrer. Seine Schulzeit nannte Fühmann rückblickend »eine gute Erziehung zu Auschwitz«.

So skrupulös und kompromisslos wie Fühmanns Selbstbefragung war auch sein Schreiben, das ihm nur quälend langsam und mit unzähligen Über­arbeitungs­schritten gelang.

Im Oktober 1938 annektierte die Wehrmacht Teile des Sudetenlands, darunter die Stadt Liberec (Reichenberg), in der Fühmann damals Internatsschüler war. Der 16jährige tat sich zu diesem Zeitpunkt bereits als überzeugter Nazi hervor und verfasste pathetische, an Gottfried Benn und Josef Weinheber gemahnende Gedichte. Begeistert trat er der Reiter-SA bei, beteiligte sich an den anti­semitischen Brandstiftungen und Plünderungen des November 1938 in Liberec und trug seine braune Uniform stolz auch in der Schule. Nach seinem Notabitur 1941 wurde er zunächst zum Reichsarbeitsdienst und dann in die Wehrmacht eingezogen, zu der er sich bereits zwei Jahre zuvor freiwillig gemeldet hatte.

Fühmann gehörte als Funker den Besatzungstruppen in der Ukraine und in Griechenland an. Im Mai 1945 geriet er, der bis zuletzt an den »Endsieg« geglaubt hatte, in sowjetische Kriegsgefangenschaft und wurde in ein Arbeitslager im Kaukasus verbracht. Die viereinhalb Jahre der Gefangenschaft wurden für Fühmann zur »Lebenswende«. Im Lager wurde er mit dem Ausmaß der Judenvernichtung und der Zerstörung durch den deutschen Vernichtungskrieg konfrontiert. Außerdem kam er dort mit den Klassikern marxistischer Theorie in Kontakt, die ihn in Bann zogen. Schließlich auf eine Antifa-Schule bei Moskau delegiert, entwickelte er sich zunächst zum stalintreuen Sozialisten.

Wenn Fühmann später bekundete, er sei »über Auschwitz zum Sozialismus gekommen«, ist die Aufrichtigkeit dieser Selbstauskunft unbedingt ernst zu nehmen. Doch seine Wandlung vom »verwilderten Nazijungen« zum Sozialisten war ein langer Prozess, der mit dem Abgang von der Antifa-Schule längst nicht abgeschlossen war. Fühmann selbst sollte die Reflexion dieser Wandlung bis in ihre dunkelsten Tiefen später zu seiner literarischen Lebensaufgabe machen.

Als er Ende 1949 nach Berlin zog, stellte sich Fühmann jedoch zunächst ganz in den Dienst der neu gegründeten DDR. Er trat in die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) ein und stieg dort binnen kurzer Zeit zum Kulturfunktionär auf. Daneben betätigte er sich als Dichter. Er verfasste vorwiegend politisch engagierte Gedichte, veröffentlichte aber schon bald auch erste Erzählungen, darunter seine erste Novelle »Kameraden« (1955) und den Prosazyklus »Das Judenauto« (1962).

Mit diesen antifaschistischen Erzählungen erlangte Fühmann Anerkennung und Bekanntheit. Sie sind zwar allesamt mit einer klaren didaktischen Absicht geschrieben, gehören aber dennoch zu den ernsthaftesten Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus, die in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zu finden sind. Während in der BRD revisionistische Kriegserinnerungen von NS-Verbrechern vom Schlage Albert Kesselrings erschienen, schildern Fühmanns Erzählungen frei von Selbstmitleid und Beschönigung die (prä)faschistische Gesellschaft, die Verbrechen der Wehrmacht und die Erfahrung der Kriegsgefangenschaft. Offen bekannte er, »daß Auschwitz ohne mich und meinesgleichen nicht möglich gewesen wäre«.

1958 wurde Fühmann nach einer Reihe von Konflikten aus dem NDPD-Vorstand ausgeschlossen; er wurde freier Schriftsteller. Dem 1959 beschlossenen Bitterfelder Weg folgte er mit Reportagen und Erzählungen, ­allen voran »Kabelkran und Blauer Peter«. Dieser Text über eine Werft in Warnemünde, der der SED als »Musterbeispiel sozialistischer Reportage« galt, gehört zu Fühmanns schwächeren Werken; auch er selbst betrachtete ihn schon bald als misslungen.

Die Unzufriedenheit nicht nur mit seiner eigenen Arbeit, sondern auch mit der Kulturpolitik der SED äußerte Fühmann immer häufiger öffentlich, unter anderem in einem offenen Brief an den Kulturminister vom 1. März 1964. Seine Kritik fand bisweilen sogar Gehör, doch die Phase der Offenheit war nur von kurzer Dauer. Das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965, auf dem die avantgardistische Kunst in weiten Teilen als destruktiv, nihilistisch und jugendgefährdend diffamiert wurde, markierte den Beginn einer kulturpolitischen »Restriktionsphase«, wie Fühmann es später bezeichnete. Als 1968 dann auch noch der von Fühmann mit Sympathie beobachtete Prager Frühling niedergeschlagen wurde, stürzte ihn das in eine schwere Krise. Von schwerer Alkoholsucht gezeichnet stand er kurz vor dem Suizid.

Fühmann überstand die Krise. Sein Leben und Schreiben wurden durch diese Erfahrung jedoch tiefgreifend verändert. Zum ersten Mal, teilte Fühmann 1970 seinem Lektor mit, schreibe er »ausschließlich mit dem Blick auf literarische Schlüssigkeit und nicht auf politische Didaktik«.

Den entscheidenden Schritt auf diesem Weg von einer didaktischen zu einer autonomen, sich gemäß ihren eigenen Möglichkeiten entfaltenden Literatur stellte 1973 »Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens« dar. Geplant als heiteres Reisetagebuch über einen Aufenthalt in Budapest, wurde es schließlich viel mehr und etwas ganz anderes. Mit diesem Buch, einer unnachgiebigen Selbstbefragung und literarisch-essayistischen Aufarbeitung der Vergangenheit, machte Fühmann erstmals die Erfahrung, »daß etwas, was ich schreiben wollte, mir mit eigenem Willen gegenübertrat«. Er sollte diese Erfahrung von da an noch häufig machen – so etwa mit einem als Nachwort gedachten Text über Georg Trakl, der sich zu seinem fundamentalen 200seitigen Essay »Vor Feuerschlünden« (1982) auswuchs.

Erfahrungsgehalt und Wahrheit wurden für Fühmann zu unhintergehbaren Kriterien des Schreibens, und er nahm diesen Anspruch alles andere als leicht. So skrupulös und kompromisslos wie seine Selbstbefragung war auch sein Schreiben, das ihm nur quälend langsam und mit unzähligen Überarbeitungsschritten gelang. Seine Typoskripte zerschnitt, überklebte und beschrieb er so oft, dass sie am Ende knochenhart und bis zu fingerdick waren – er nannte sie »Bretter«.

Verglichen mit dieser mühevollen Arbeit war es für ihn »eine Art Ferien«, Kinderbücher zu verfassen. Schon früh hatte er, angeregt durch seine 1952 geborene Tochter Barbara, begonnen, für Kinder zu schreiben. Besonders beliebt waren seine Nacherzählungen von Märchen, Sagen und Mythen, etwa der Ilias und der Odyssee. Fühmann sah in Kindern »das ideale Publikum«. Seine Literatur nimmt sie ernst und begreift sie als verständige, kritische, eigensinnige Subjekte. Das 1978 erschienene und bis heute populäre Sprachspielbuch »Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel« ist davon das wohl beeindruckendste Zeugnis.

Nicht zuletzt entwickelte Fühmann sich auch zu einem brillanten Essayisten. Sein wohl wichtigster Essay, »Das mythische Element in der Literatur« von 1975, entwirft den Mythos als Modell einer Literatur, in der die Widersprüche nicht getilgt, in dualistische Schemata von gut und böse, nützlich und schädlich aufgelöst sind, sondern das Fundament und Hauptproblem ästhetischer Gestaltung darstellen. Literatur, die diesem Modell entspricht, fand Fühmann vor allem in den in der DDR verfemten Werken der Romantik und der literarischen Moderne, bei Hoffmann, Trakl, Kafka oder Joyce. Ein verwandtes Denken in Widersprüchen entdeckte er außerdem in der Psychoanalyse. Als 1980 erstmals eine Ausgabe mit Texten Sigmund Freuds in der DDR erschien, geschah dies auf Fühmanns Betreiben – und nach langen Kämpfen.

Fühmann focht viele solcher Kämpfe, vor allem auch für jüngere Kolleginnen und Kollegen wie Uwe Kolbe, Sarah Kirsch und Wolfgang Hilbig, die in ihrer Arbeit oftmals behindert oder gar zensiert wurden. So geriet er immer mehr in Konflikt mit der offiziellen (Kultur-)Politik der DDR. Dieser Konflikt spitzte sich zu, als Fühmann 1976 zu den Erstunterzeichnern eines Protestbriefs gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns gehörte. Seitdem wurde er von der Stasi überwacht und immer weiter aus der Öffentlichkeit gedrängt. Trotzdem verließ er, anders als viele seiner Kolleginnen und Kollegen, die DDR nicht gen Westen, sondern blieb »dieses Staates Bürger aus freiem Willen, in freier Entscheidung, auf Grund meines Nachdenkens über Auschwitz«, wie er den versammelten Honoratioren der Stadt München im November 1982 anlässlich der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises mitteilte.

Zu diesem Zeitpunkt war Fühmann bereits schwer an Krebs erkrankt. Er starb anderthalb Jahre später, am 8. Juli 1984, in der Berliner Charité. Sein großes, als Hauptwerk gedachtes »Bergwerksprojekt« blieb unvollendet. In seinem Testament heißt es: »Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der, gescheitert zu sein: In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten.« In der Hoffnung auf eine freie sozialistische Gesellschaft ist er tatsächlich gescheitert, und diese Hoffnung, für die Ende der achtziger Jahre noch einmal Anlass zu sein schien, zerschlug sich durch den Beitritt der DDR zur BRD endgültig auch für diejenigen, die Fühmann überlebten. In der Literatur jedoch ist ihm scheiternd so Großes gelungen wie nicht vielen.