Ein Gespräch mit dem ehemaligen Diplomaten Carsten Wieland über den Missbrauch humanitärer Hilfe im Syrien-Krieg

»Die Geber sind gefordert«

Das syrische Regime diktierte die Bedingungen für ausländische Hilfsleistungen und nutzt diese zur Herrschaftssicherung, sagt der Autor des Buches »Syria and the Neutrality Trap«. Die Geberländer reagieren nur langsam.
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Im März 2011 begann der syrische Bürgerkrieg. Die knapp elf Jahre Krieg in Syrien haben ein humanitäres Desaster verursacht. Die Vereinten Nationen (UN) agieren offenbar hilflos. Was ist aus den Hoffnungen der neunziger Jahre auf die Durchsetzung von Menschenrechten und einer wachsenden Rolle der UN geworden?

Wenn Sie bis in die neunziger Jahre zurückgehen, ist die Enttäuschung, die durch die Entwicklung in Syrien eingetreten ist, natürlich noch größer. Die hehren Ideale, die damals entstanden sind, bis hin zum Prinzip der respon­sibility to protect, liegen durch den Syrien-Krieg in Trümmern. Es geht um die Frage, ob ein Regime mit seiner Bevölkerung machen kann, was es will, weil es absolute Souveränität genießt – eine Interpretation des Völkerrechts, die heutzutage wieder stärker wird. Nach dem Irak-Krieg, nach der Intervention in Libyen ist der politische Appetit ex­trem gering, sich für Menschenrechte eine Intervention in irgendeiner Form auch nur vorzustellen. Und mit Intervention meine ich nicht zwangsläufig boots on the ground, davor gibt es viele andere Möglichkeiten. Aber mittlerweile wird sogar grenzüberschreitende humanitäre Hilfe als Intervention bezeichnet, wenn sie gegen den Willen einer Regierung geschieht. Auch wenn diese Regierung selbst in hohem Maße an der humanitären Katastrophe im ­eigenen Land beteiligt ist.

Woher kommt die neue Aufwertung und Betonung nationaler Souve­ränität angesichts von Regimen, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit begehen, wie zum Beispiel in Syrien?

Es gibt das Bemühen von Russland und China, von Syrien sowieso, aber auch von den anderen üblichen Verdächtigen, die in der Uno gemeinsam abstimmen, die Konditionalisierung des Souveränitätsbegriffs – also die Verknüpfung von Souveränität mit der Ein­haltung von Menschenrechten – zurückzufahren. Das geschieht in kleinen Schritten, in verschiedenen UN-Resolutionen und Gremien. Formulierungen, die Souveränität konditionieren und die jahrzehntelang konsensual waren, ­werden in Frage gestellt. Und in Syrien haben wir eine Regierung, die zusammen mit den russischen Luftangriffen für 90 Prozent der zivilen Opfer verantwortlich ist, während gleichzeitig in verschiedenen Phasen des Krieges bis zu 90 Prozent der humanitären Hilfe über das Regime geliefert wurde. Es ist eben internationale Praxis, humanitäre Hilfe in erster Linie über die Re­gierungen abzuwickeln. Aber der Konflikt in Syrien führt diese Praxis ad ­absurdum.

Kann man sagen, dass das Regime von den humanitären Hilfsgeldern lebt?

Es gibt Statistiken, nach denen der Gesamtwert der humanitären Hilfe ein Viertel des syrischen Staatsbudgets ausmacht. Allein daran kann man schon die Größenordnung ermessen, um die es hier geht. Fehlgeleitete humanitäre Hilfe ist als Ressource, die den Staat entlastet, zentral. Die Regierung kann ihre Mittel dadurch weiter in die Kriegführung investieren. Sicherlich fließt humanitäre Hilfe an die Bevölkerung, aber fraglich ist, ob diese Hilfe nach humanitären Prinzipien verteilt wird und ob sie tatsächlich dort ankommt, wo sie am nötigsten gebraucht wird. Stattdessen verwehrte das syrische Regime in den Kriegsjahren bewusst den Zugang zu Bedürftigen. Das ging bis zu Belagerungen, quasi in mittelalterlicher Manier, bei denen die Regierung Teile der Bevölkerung aushungerte. Von einer Regierung, die völkerrechtlich eine besondere Verantwortung für ihre Bevölkerung hat, ist hier nichts mehr zu sehen, sondern im Gegenteil: Wir sehen eine Regierung, die versucht, Teile ihrer Bevölkerung zu vernichten. Im Falle Syriens wurden die Regeln des humanitären Völkerrechts eklatant verletzt.

Wie funktioniert der Missbrauch humanitärer Hilfe konkret?

Wir kennen verschiedene Beispiele, die zeigen, wie Geld abgezweigt werden kann. So muss der überwiegende Teil der humanitären Hilfsgüter bei syrischen Geschäftsleuten gekauft werden, der Profit wird an die Regierung von Bashar al-Assad weitergeleitet. Momentan haben wir eine Diskussion über verzerrte Wechselkurse, die die humanitären Organisationen akzeptieren müssen, um finanzielle Transaktionen in Syrien durchzuführen. Allein dadurch entstehen durch jede Transaktion, also noch bevor irgendwo huma­nitäre Hilfe angekommen ist, bis zu 50 Prozent Gewinn für das Regime. Das ist schon eine sehr clevere Art, das internationale Engagement zu nutzen. In Syrien hat das Regime erkannt, dass humanitäre Hilfe und die Anwesenheit der UN vor Ort für die Herrschaftssicherung von Nutzen sein können. Es verleiht der Regierung Legitimität und ­internationale Anerkennung.

Im Titel Ihres Buchs über Syrien sprechen Sie von einer »Neutralitätsfalle«. Was meinen Sie damit?

Es ist ja nicht zwangsläufig Sympathie mit dem Regime, die dazu führt, dass humanitäre Hilfe nicht nach den Prinzipien der Neutralität und Unparteilichkeit geleistet wird. Es gibt auch die gute Absicht der Gebergemeinschaft, tatsächlich Hilfe in einem Konflikt zu leisten. Diese Hilfe bewirkt aber plötzlich praktisch das Gegenteil. Sie verzerrt die politische und militärische Lage, weil man einer Kriegspartei Ressourcen zukommen lässt, was diese erbarmungslos ausnutzt. Damit ist man als Geber in der Neutralitätsfalle gelandet. Man überweist Hilfsgelder in die Fonds der UN oder anderer internationaler Organisationen wie des Roten Kreuzes, und dann sieht man plötzlich wie vor Ort, durch Re­striktionen des Regimes, aber auch durch Fehlleistungen der UN, diese Hilfe einer Kriegspartei zugute kommt. Damit leistet man Hilfe de facto nicht mehr unparteiisch und neutral, wie dies entsprechend der Genfer Konventionen geschehen müsste. Zwischen humanitärer Hilfe und Po­litik wird oft aus guten Gründen eine Brandmauer eingezogen. Aber huma­nitäre Hilfe findet nicht im politischen Vakuum statt. Dessen muss man sich bewusst sein.

Knapp 90 Prozent der bisherigen humanitären Hilfe für Syrien, 30 Milliarden US-Dollar, haben Europa und die USA geleistet. Deutschland gehört hier zu den Hauptgebern – ist man dem Regime Assads gegenüber tatsächlich so hilflos?

Den Geberländern ist inzwischen bewusst, dass Syrien ein Problemfall ist. Im Laufe der Jahre hat eine gewisse ­Diversifizierung der Hilfe stattgefunden, etwa mit kleineren NGOs, die von den Nachbarstaaten aus auch ohne Beschluss des Sicherheitsrats grenzüberschreitend arbeiten. Aber das kostet Aufwand, Zeit und Ressourcen, weil über die UN natürlich ganz andere Mittel umgesetzt werden können. Hier sind die Geber gefordert und zumindest teilweise untereinander bereits im ­Gespräch, auch mit der Uno. Eine Lehre aus dem Syrien-Desaster sollte sein, dass es in Zukunft keine Diktatoren mehr geben darf, die ihre eigene Bevölkerung ungestraft abschlachten und dafür sogar noch mit humanitärer Hilfe plus vielleicht mit umfangreichem Wiederaufbau belohnt werden.

Auch in Afghanistan sieht es so aus, als ob Flüchtlinge der Regierung als eine Art Druckmittel dienen. Geht es zukünftig vor allem darum, Hilfsgelder zu akquirieren und mit »Flüchtlingsströmen« zu drohen?

Die Zeit der klassischen Staatenkriege ist längst vorbei. Wir haben immer öfter innerstaatliche Konflikte und damit einen immer höheren Anteil an Op­fern in der Zivilbevölkerung. Damit geht auch eine Zunahme erzwungener und unkontrollierbarer Migration einher, die bei der hybriden Kriegsführung als Druckmittel genutzt wird. Wenn die Prinzipien humanitärer Hilfe weder ausreichend kontrolliert noch durchgesetzt werden, profitieren diejenigen, die diese »Flüchtlingswährung« einsetzen, um Hilfe zu erpressen. Was in Sy­rien passiert ist, kann sich wiederholen. Die Taliban in Afghanistan sind allerdings bei weitem nicht so aufgestellt wie das Regime Assads mit seinen weit­verzweigten Geheimdiensten, seinen kompromisslosen Alliierten Iran und Russland und seiner jahrzehntelangen Erfahrung mit seiner Unterdrückungsmaschinerie. Die Taliban sind wirtschaftlich im Moment in einer eher verzweifelten Position. Und die Geber der humanitären Hilfe sind sensibilisiert, gehen lieber lokal vor, weniger über die Zentralinstanzen, um die Regierung nicht anzuerkennen oder ihr zusätzlich Legitimität zu verleihen.

Aber das genau ist der Unterschied zu Syrien: Dort hatte die Regierung in Damaskus alles zentral unter Kontrolle und diktierte strikte Bedingungen, ­welche die UN akzeptiert haben. So müssen alle NGOs, die in Syrien arbeiten, beim »Syria Trust« registriert sein. Das ist eine Organisation, die von der Prä­sidentengattin Asma al-Assad geführt wird. Solche Instrumente aus einem reichhaltigen Werkzeugkasten haben die Taliban momentan noch nicht. Wir müssen aus dem Fall Syrien die Konsequenz ziehen, nicht alle Regeln zu akzeptieren, die ein Staat humani­tären Akteuren auferlegt. Mit Syrien hätte man 2012, als das Regime seine Regeln aufgestellt hat, sicher stärker und kollektiver verhandeln können. Was wäre nach einer Ankündigung, sich aus Syrien komplett zurückzuziehen und nur noch aus dem Ausland Hilfe zu leisten, tatsächlich passiert? Solche Op­tionen stellen ein schwieriges Dilemma dar, aber business as usual darf es nach den bitteren Erfahrungen in Syrien eigentlich nicht mehr geben.

 

Carsten Wieland

Carsten Wieland war Senior Advisor von drei UN-Sondergesandten für Syrien. Der ehemalige Journalist und Diplomat hat im vergangenen Jahr das Buch »Syria and the Neutrality Trap« über den Missbrauch humanitärer Hilfe im Syrien-Krieg veröffentlicht.