Ein Gespräch mit dem Sinologen Björn Alpermann über die Unterdrückung der Uiguren in der chinesischen autonomen Region Xinjiang

»Die Geburtenrate hat sich fast halbiert«

Die chinesische Regierung unterdrückt in Westchina die Minderheit der Uiguren. Die Vorwürfe lauten Masseninhaftierungen, Zwangsarbeit, erzwungene Geburtenkontrolle und Genozid.
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Eine internationale Kampagne ruft zum diplomatischen Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking auf. Ein wichtiges Argument für diesen lautet, dass in der autonomen Region Xinjiang ein Genozid an der vornehmlich muslimischen uigurischen Bevölkerung stattfinde. Was sind die Hauptursachen des Konflikts in Xinjiang?

Die Hintergründe sind komplex. Da ist zum einen die über längere Zeit gewachsene Dominanz der Han-Chinesen in Xinjiang. Bei Gründung der Volks­republik China machten sie zwar weniger als zehn Prozent der dortigen Bevölkerung aus – die Uiguren dagegen rund drei Viertel –, erreichte aber in den siebziger Jahren mehr als 40 Prozent, fast genauso viel wie die Uiguren; seither schwankte er nur geringfügig. Sozioökonomisch existiert eine große Kluft zwischen den Bevölkerungsgruppen und politisch geben die Han klar den Ton an. Religion und ethnische Identität der in China lebenden Minderheiten wurden unter Mao als rückständig klassifiziert und unterdrückt. Erst ab Ende der Siebziger kam es in Xinjiang zu einer Renaissance von Islam und ethnischer Identität.

Weshalb hat der Konflikt sich in den vergangenen Jahren so stark zugespitzt?

Nach dem Ende der Sowjetunion und der Gründung unabhängiger zentral­asiatischer Staaten entwickelten sich separatistische Bestrebungen. Sie gingen in den neunziger Jahren teils mit Gewalt einher und wurden vom chi­nesischen Staat mit aller Härte bekämpft. In den nuller Jahren schloss sich die Volksrepublik dem von den USA ausgerufenen »Krieg gegen den Terror« an und stufte den uigurischen Widerstand entsprechend als Terrorismus ein.

»In Fällen, in denen uigurische Lagerinsassen direkt in die Industriearbeit wechseln, muss man meines Erachtens klar von Zwangsarbeit sprechen.«

Dabei blieb es bis zu großen Straßenprotesten 2009 weitgehend ruhig in der Region. Dieser Ausbruch von Gewalt in Ürümqi (der Hauptstadt Xinjiangs, Anm. d. Red.) führte aber zu einer neuen Runde gewaltsamer Auseinandersetzungen, beide Seiten trugen zur Eskalation bei. Auf die steigende Zahl von Sprengstoffanschlägen und Messerangriffen in den Jahren 2013 bis 2016 reagierte die Zentralregierung mit der Ausrufung eines sogenannten Volkskriegs gegen den Terror und schließlich ab 2017 mit der derzeit laufenden Um­erziehungskampagne.

Die wichtigste Quelle der westlichen Medien für die Vorwürfe gegen die chinesische Regierung ist der deutsche Anthropologe Adrian Zenz, der für die US-amerikanische Victims of Communism Memorial Foundation arbeitet. Er argumentiert zum Beispiel, dass mit der Einführung einer strengen Zwei-Kind-Politik 2017 für die ethnischen Minderheiten, die vorher mehr Kinder haben durften, die Regierung eine »eine demographische Genozidkampagne« eingeleitet habe. Die Geburtenrate der uigurischen Bevölkerung sei danach stark zurückgegangen.

Man muss weder die Person Adrian Zenz sympathisch finden noch die politische Agenda seiner Geldgeber gut­heißen, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Geburtenkontrolle in Xinjiang verschärft wurde. Der amtlichen chinesischen Statistik zufolge hat sich die Geburtenrate in der Region von 2017 bis 2019 fast halbiert. Dieser drastische Rückgang ist nur durch striktes Eingreifen der Lokalverwaltungen zu erklären. Es gibt viele chinesische Medienberichte über die strengere Umsetzung der Geburtenkontrolle in diesen Jahren ­sowie akademische Studien, die fordern, die demographische Situation zu optimieren – das heißt den Anteil der Han zu steigern und das Wachstum der ethnischen Minderheiten zu begrenzen. Diese Bevölkerungspolitik sei notwendig zur Sicherung der Grenzregion. Das betrifft nicht nur Uiguren, sondern auch Kasachen und andere Bevölkerungsgruppen, die bislang nicht als – in Anführungszeichen – extremistisch aufgefallen sind oder Terroranschläge verübt hätten. Das zeigt, dass die Bekämpfung von Terror und Extremismus zumindest teils vorgeschobene Gründe für das staatliche Vorgehen sind.

Die Boykottkampagne wirft China zudem vor, Uiguren hätten Zwangsarbeit in der Baumwollindustrie Xinjiangs zu leisten. Auch hier ist Zenz eine wichtige Quelle. Er will bewiesen haben, dass die zuständigen Regierungsbehörden systematisch Uiguren in Arbeitsprogramme zwingen und sogar ins chinesische Inland überführen. Die chinesische Regierung spricht dagegen von Maßnahmen gegen Armut. Wie beurteilen Sie die Situation?

Hier bin ich etwas vorsichtiger, denn es ist sehr schwer, den Grad an Zwang beziehungsweise Freiwilligkeit von ­außen zu beurteilen. Exiluigurische Organisationen haben noch vor wenigen Jahren geklagt, dass bei der Baumwoll­ernte Han-chinesische Migranten anstelle von Uiguren eingesetzt würden, denen so eine Einkommensquelle genommen werde. Da die Regierung unter Präsident Xi Jinping sich die Besei­tigung der absoluten Armut groß auf die Fahnen geschrieben hat, muss man diese Motivation ernst nehmen. Aber dadurch entsteht Druck auf Lokalregierungen, die die Bevölkerung mobili­sieren, um an Arbeitsbeschaffung und -vermittlung teilzunehmen. Da vermischen sich Fürsorge und Zwang untrennbar. In Fällen, in denen Lagerinsassen direkt in die Industriearbeit wechseln, muss man meines Erachtens klar von Zwangsarbeit sprechen. In ­diesen Fällen ist die Annahme der Tätigkeit die Voraussetzung der Entlassung und somit erzwungen.

Viele Angehörige ethnischer Minderheiten werden in Xinjiang ohne Gerichtsurteile in Lagern festgehalten, dort aber offensichtlich nicht getötet. Dennoch lautet der Vorwurf: Genozid. Sie bevorzugen den Begriff kultureller Genozid, weil die uigu­rische Sprache durch die Regierungspolitik im Bildungssystem, in den Medien und in der Kulturproduktion deutlich an Relevanz verliert. Aber weder die uigurische Sprache noch die uigurische Kultur oder die islamische Religion wurden generell verboten. Wäre es nicht besser, von illegalen Masseninhaftierungen und von Menschenrechtsverletzungen zu sprechen?

Erstens klafft eine Lücke zwischen dem alltagssprachlichen Verständnis des Begriffs Völkermord und dem juristischen Begriff Genozid. Letzterer kann unter Umständen schon zutreffen, wenn einer ethnischen Gruppe Maßnahmen zur Geburtenbeschränkung auferlegt werden. Ob diese Umstände in Xinjiang vorliegen, ist zwar fraglich, aber es muss nicht zwangsläufig ein Massenmord passieren, um im Sinn des Völkerstrafrechts von einem Genozid sprechen zu können.

Zweitens erscheint mir »kultureller Genozid« als passender Oberbegriff für die Gesamtheit aller Maßnahmen, die die chinesischen Behörden ergreifen, um die ethnische Identität der Ui­gu­ren und anderer Turkvölker zu überschreiben und sie an die Han-chinesische Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren. Der Islam ist zwar nicht als solcher verboten, aber der Parteistaat setzt alles daran, dass die nächste Generation von Uiguren säkular aufwächst. Gebräuchliche Elemente des Islam – Bärte, Schleier, regelmäßiges Beten oder Fasten – werden als extremistisch verboten. Die Weitergabe der Religion in der Familie soll unterbunden werden. In Schulen ist schon lange jegliche Religionsausübung untersagt. Ab dem Vorschulalter wird in Xinjiang inzwischen großer Wert auf Mandarin als Unterrichtssprache gelegt – obwohl die Verfassung der Volksrepublik den in China lebenden ethnischen Minderheiten den Schutz und Erhalt ihrer Sprachen zusichert.

Der Begriff Genozid kann auch genutzt werden, um einer wirtschaftlichen oder sogar militärischen Konfrontation mit China das Wort zu reden. Ist es zudem nicht fraglich, ob ein Boykott der Olympischen Spiele der uigurischen Bevölkerung helfen kann?

Ob mit dem Begriff Genozid ein politisches Ziel verfolgt wird, ist eine andere Frage. Bei manchen Akteuren liegt diese Vermutung nahe. Aber sollte uns das davon abhalten, schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen klar zu benennen? Ich denke, nein. Ein diplomatischer Boykott der Olympischen Winterspiele ist nur ein symbolischer Schritt und wird für sich genommen kein Einlenken der KP-Führung herbeiführen. Trotzdem halte ich es für richtig, hier ein Zeichen zu setzen.

 

Beijing 2022

Björn Alpermann ist ­Professor für Contemporary Chinese Studies an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Im September ­vorigen Jahres veröffentlichte er das Buch »Xinjiang: China und die Uiguren« bei Würzburg University Press. Es kann über die Website der Universität kostenlos ­heruntergeladen werden.