Der Film »München« liegt historisch nicht immer richtig

Hitlergruß mit Zitterarm

Der Film »München – Im Angesicht des Krieges« zeigt einen fiktiven Spionage- und Widerstandsplot, in dem es um das Münchner Abkommen von 1938 geht. Trotz guter Ansätze verzerrt er die Geschichte eher, als sie zu erhellen.

Es beginnt mit einer Party: Im Jahr 1932 feiern die deutschen Studierenden Paul (Jannis Niewöhner) und Lena (Liv Lisa Fries) gemeinsam mit ihrem englischen Freund Hugh (George MacKay) den Abschluss an der Universität Oxford. Während die drei betrunken am Ufer eines Sees liegen, schwingt Paul große Reden über das »neue Deutschland«. Hugh möchte derweilen einfach nur seinen Rausch ausschlafen.

Nach dieser Eröffnung setzt die Handlung des Dramas »München – Im Angesicht des Krieges« (seit Ende Januar auch bei Netflix zu sehen) sechs Jahre später wieder ein. Die beiden Männer haben Karriere gemacht: Hugh Legat arbeitet als persönlicher Sekretär des britischen Premierministers Neville Chamberlain, Paul von Hartmann ist als Übersetzer im deutschen Außenministerium tätig und inzwischen weniger begeistert vom Nationalsozialismus. Die beiden ehemaligen Elitestudenten treffen im September 1938 in München wieder aufeinander, wo Hitler, Chamberlain, Mussolini und der französische Ministerpräsident Édouard Daladier über die Abtretung des tschechoslowakischen Sudetenlandes an das Deutsche Reich verhandeln.

»München – Im Angesicht des Krieges« reiht sich in eine cinematographische Linie ein, in der der Nationalsozialismus – weitverbreiteten Familien­erinnerungen in Deutschland entsprechend – als »dunkle Zeit« dargestellt wird, in der es niemand leicht hatte.

Den deutschen Diktator spielt ­Ulrich Matthes als mürrischen Sonderling, der wie eine bizarre Mischung aus den Hitler-Darstellungen von Bruno Ganz in »Der Untergang« und Taika Waititi in »Jojo Rabbit« daherkommt. Jeremy Irons verkörpert Chamberlain dagegen auf gelungene Weise: Der britische Premierminister erscheint als sensibler, aber ermüdeter Gentleman, der jede Eskalation vermeiden will.

Tatsächlich verfolgte die britische Regierung in diesen Septembertagen eine Doppelstrategie, wie der Historiker Michael Wildt in seinem Übersichtswerk »Geschichte des Nationalsozialismus« ausführt: »Die Westmächte, allen voran Großbritannien, mühten sich einerseits, zu ihren Bündnisverpflichtungen zu stehen, andererseits den Konflikt mit Deutschland auf dem Verhandlungswege zu lösen und sich nicht in eine militärische Auseinandersetzung verwickeln zu lassen.«

Der Film des deutschen Regisseurs Christian Schwochow basiert auf dem Roman »München« von Robert Harris. Seine Stärke ist der direkte Bezug auf die sogenannte Hoßbach-Niederschrift von 1937. Im Zuge der umfassenden Militarisierung des Deutschen Reichs und der Verletzung von Bestimmungen des Versailler Vertrags hatte Hitler bereits ein Jahr vor dem Münchner Abkommen seine Vorhaben in einem mehrstün­digen Vortrag vor wichtigen Vertretern der Wehrmacht skizziert – einer von ihnen war der Oberst Friedrich Hoßbach.

Die von dem Offizier angefertigten Notizen über die Besprechung sind eine wichtige historische Quelle zur nationalsozialistischen Expansionspolitik und Vorbereitung eines Angriffskriegs; sie dienten in den Nürnberger Prozessen als Beweismittel der Anklage. Das siebenseitige Dokument skizziert die außenpolitischen und völkischen Leitlinien der deutschen Kriegspolitik.

In einer mit dramatischer Musik unterlegten Schlüsselszene zitiert Paul wörtlich aus der Quelle. Das Hauptziel der »Lebensraumpolitik« sei die »Sicherung und die Erhaltung der Volksmasse und deren Vermehrung«, so Hitler nach Hoßbachs Niederschrift, sowie die »Behebung der Raumnot«. Ferner könne es »zur Lösung der deutschen Frage« nur »den Weg der Gewalt geben«. Zusätzlich wird in dem Protokoll bereits das militärische Szenario durchgespielt, die Tschechoslowakei und ­Österreich als Vorbereitung auf einen umfassenden Krieg zu besetzen.

Nach dieser Szene büßt der Film jedoch zugunsten des Spannungs­bogens an historischer Präzision ein: Paul, der in Kontakt mit dem militä­rischen Widerstand steht, versucht, die Niederschrift an Hugh zu über­geben. Das Dokument wird zur letzten Hoffnung, Chamberlain davon zu überzeugen, das Münchner Abkommen nicht zu unterzeichnen. Der Film entwickelt sich so zu einem Spionage-Thriller, entfernt sich jedoch immer weiter von historischen Tatsachen.

Anders als in der fiktionalen Darstellung – in der die Sekretärin Hoßbachs das Protokoll heimlich an ­ihren jungen Liebhaber Paul weitergegeben hat – ist die Überlieferungsgeschichte des Dokuments nur schwer rekonstruierbar. Eine Abschrift des Protokolls befand sich eine Zeitlang im Archiv des Oberkommandos der Wehrmacht, das Originaldokument fanden die Alliierten im Sommer 1945 nicht mehr. Deshalb stützten sich die Ankläger in den Nürnberger Prozessen 1945/1946 auf die Abschrift, um den Tatbestand der Vorbereitung eines Angriffskriegs zu belegen.

Der Historiker Winfried Baumgart ordnete das Dokument bereits im Jahr 1968 in einer Ausgabe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte ein: »Die Nürnberger Anklagevertretung betrachtete die Aufzeichnungen der Rede Hitlers vom 22. August 1939 zusammen mit der bekannten Hoßbach-Niederschrift (…) als Grundlage für ihre Behauptung, Hitler habe mit seinen Generalen eine ›Conspiracy‹ geplant, einen völkerrechtswidrigen Krieg mit der Generalität planmäßig vorbereitet.«

In der Verfilmung argumentiert der Widerstandskreis, zu dem Paul ­gehört, mit den im Protokoll festgehaltenen Kriegsplänen. Hitler sei »irre« und nicht aufzuhalten. Deswegen solle »der Führer« im Zuge eines Staatsstreichs vor Gericht gebracht werden. Auch wenn es unmittelbar vor dem Münchner Abkommen tatsächlich eine »Septemberverschwörung« gegen Hitler in der Wehrmacht gab, wird die Handlungsfähigkeit dieses militärischen Widerstands in der Darstellung überbetont.

Auch die Versuche des Films, die Verfolgung der Juden darzustellen, misslingen oder stimmen nicht mit historischen Begebenheiten überein: Schwochow verlegt eine »Reibepartie« – nach dem »Anschluss« ­Österreichs im März 1938 wurden Wiener Juden gezwungen, die Straßen von proösterreichischen Parolen zu reinigen – kurzerhand nach Berlin. Zudem zeigt er jüdische Geschäfte, die mit Parolen beschmiert sind. Solche Bilder kennt man, aber nicht aus dem September 1938, in dem der Film spielt, sondern von den Novemberpogromen.

Solche Ungenauigkeiten zeigen sich auch auf der sprachlichen Ebene: In den 130 Minuten Spielzeit kommen die Begriffe »Antisemitismus« oder »Judenhass« nicht vor. Der geläuterte Paul spricht stattdessen vom »Rassismus« Hitlers. Einzig das Wiederauftauchen der gemeinsamen Studienfreundin Lena nach ihrer Haft gibt einen tieferen Einblick in die Situ­ation der deutschen Juden: Als Regimegegnerin und Jüdin wurde sie in das Frauen-KZ Moringen nördlich von Göttingen deportiert und beinahe zu Tode gefoltert.

Bemerkenswert ist zudem eine weitere Lücke des Films: Es fehlt jeder Hinweis auf die Situation in der vom Deutschen Reich bedrohten Tschechoslowakei. Nicht einmal im Abspann wird erwähnt, welche Folgen das Münchner Abkommen für das Land hatte, dessen Vertreter nicht einmal an der Konferenz teilnehmen durften. Nach der Unterzeichnung griffen Anhänger der nationalsozialistischen Sudetendeutschen Partei ihre jüdischen Nachbarn an, die deutschen Besatzer verhafteten Sozial­demokraten und Kommunisten. Innerhalb weniger Wochen flüchteten Tausende Menschen in das verbliebene Gebiet des tschechoslowakischen Staates. Im März 1939 trat dann schließlich das ein, wovor der tschechoslowakische Präsident Thomáš G. Masarýk und sein Nachfolger Edvard Beneš lange gewarnt hatten: Böhmen und Mähren wurden in das Deutsche Reich eingegliedert, die unabhängig gewordene Slowakei wurde zu einem deutschen Satellitenstaat.

»München – Im Angesicht des Krieges« reiht sich in eine cinematographische Linie ein, die mit dem ZDF-Dreiteiler »Unsere Mütter, unsere Väter« im Jahr 2013 und anderen Produktionen begonnen hat. Der Nationalsozialismus wird – weitverbreiteten Familienerinnerungen in Deutschland entsprechend – als »dunkle Zeit« dargestellt, in der es niemand leicht hatte. Die Täter erscheinen als isolierte Fieslinge, während die Sympathieträger zum Mitmachen gezwungen werden oder als »gute Nationalsozialisten« versuchen, Schlimmeres zu verhindern. In Schwochows Film übernimmt Paul diese Rolle: Anfangs ein begeisterter Anhänger der NSDAP, wird er zu einem Gegner des Regimes, der den »Deutschen Gruß« nur noch mit zitterndem Arm ausführen kann. Während er sich in Berlin mit einem Angehörigen des militärischen Widerstands trifft, sieht man Mädchen mit blonden Zöpfen, die Tauben füttern. Überhaupt: Die einzigen relevanten Figuren des Films, die mit Hitler sympathisieren, sind ein alter Bekannter Pauls, Typ Schulhofschläger, der in der SS Karriere gemacht hat – und Hitler selbst.

Fiktive Heldengeschichten wie die des Paul von Hartmann sind letztlich nicht nur überflüssig, sondern auch geschichtsklitternd, weil sie den sogenannten militärischen Widerstand gegen Hitler überbewerten. Wünschenswert wäre es, stattdessen dem jüdischen und antifaschistischen Widerstand kommerzielle Filme zu widmen. Den gab es nämlich wirklich in großem Maß.

München – Im Angesicht des Krieges (GB 2021). Regie: Christian Schwochow. Dar­steller: Jannis Niewöhner, George MacKay, Liv Lisa Fries, Jeremy Irons, Ulrich Matthes und andere. Bereits angelaufen