Wladimir Putin stellt die Grenzen ­aller ehemaligen Sowjetrepubliken in Frage

Askold, Dir und Wladimir

Was kümmert mich der Dax Von

Die Schwedinnen und Schweden unserer Zeit scheinen an territorialer Expansion nicht interessiert zu sein. Ihr derzeitiges Staatsoberhaupt Carl XVI. Gus­taf würde die Herrschaft über die Ukraine wohl selbst dann ablehnen, wenn man sie ihm antrüge. Seine Ansprüche wären aber begründeter als die Wladimir Putins, wenn man dessen eigene Kriterien anlegt. Denn die Nestorchronik aus dem frühen 12. Jahrhundert berichtet, berichtet, dass zwei warägische Adlige, Askold und Dir, auf dem Weg nach Konstantinopel die Stadt Kiew eroberten, »eine große Gruppe von Warägern anzogen« und die zuvor bescheidene Bergfestung zu einem Handelszentrum ausbauten.

In der Geschichtswissenschaft ist mittlerweile fast unumstritten, dass Waräger (Wikinger) aus dem heutigen Schweden die führende Rolle bei der Staatsbildung entlang der Flüsse spielten, die den Handel Skandinaviens mit den Byzantinischen Reich ermöglichten. Die christlich-slawische Mythologie, derer Putin sich bedient, ist im Wesentlichen ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Der russische Präsident rechtfertigt den Einmarsch in die Ukraine mit einem explizit völkischen Nationalismus. Die Ukraine, so betonte Putin erneut in einer Fernsehrede am Montag, wurde »gänzlich von Russland geschaffen, genauer gesagt von den Bolschewisten, vom kommunistischen Russland«, noch genauer gesagt von Lenin, der da einen »Fehler« gemacht habe. Tatsächlich sind alle ehemaligen Sowjetrepubliken, einschließlich Russlands, Schöpfungen der Bolschewiki, die das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« eher notgedrungen denn aus ideologischer Überzeugung anwendeten.

Wer die Teilung der Sowjetunion entlang der Grenzen der ehemaligen Sowjetrepubliken ablehnt, stellt auch die Existenz der zentralasiatischen Staaten in Frage. Und theoretisch auch die Russlands, auf dessen Territorium diverse nichtrussische Bevölkerungsgruppen leben. Wer über etwa 13 000 Panzer gebietet und mehr als 6 000 Atomwaffen in der Rückhand hat, kann diesen Widerspruch aber getrost ignorieren – vorläufig. Unter den ehemaligen Sowjetrepubliken ist Russland die mit Abstand stärkste Militärmacht, doch der Staat ist weit instabiler, als die imperiale Machtinszenierung Putins glauben machen möchte. Wer sein Land wirklich im Griff hat, hätte nicht einen Anführer islamistischer Todesschwadronen wie Ram­san Kadyrow als Präsidenten der autonomen russischen Republik Tschetschenien einsetzen müssen. Mit demjüngsten Einmarsch in die Ukraine ist eingetreten, so ist mit dem jüngsten Einmarsch in die Ukraine eingetreten, was die sowjetische und die US-Regierung 1990/1991 unbedingt zu verhindern trachteten: ein Krieg um Land und Ressourcen zwischen ehe­maligen Sowjetrepubliken, dessen langfristige Folgen unabsehbar sind.