Der Film »Der Mann, der seine Haut verkaufte« denkt über Freiheiten nach

Auf dem Rücken der Unfreiheit

Kunstfreiheit, Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, individuelle Freiheit – im neuen Film der Regisseurin Kaouther Ben Hania muss die Hauptfigur die Widersprüche verschiedener Freiheitsbegriffe mit eigener Haut spüren.

Tätowierungen galten in westlichen Ländern lange als Marker des Randständigen. Einst als Zeichen auf der Haut indigener Völker entdeckt, wurden sie in Europa als barbarische Kulturpraxis der Wilden und Fremden eingestuft. Schausteller und Gefangene waren die Ersten in Europa, die sich um des Spektakels, der Abschreckung oder der Bandenzugehörigkeit willen tätowieren ließen.

Wer sich heutzutage tätowieren lässt, verbindet damit vielleicht den Wunsch, sich von der Durchschnittsgesellschaft als wild, alternativ, nonkonform oder gefährlich abzuheben. Dabei wäre es allenfalls obsoleter Standesdünkel, das Tattoo immer noch als Zeichen der Unterschicht zu interpretieren. Von links bis rechts, von arm bis reich, von edgy bis schick: Wer sich ein Tattoo zulegt, macht das, um sich individualistisch vom bürgerlichen Milieu abzugrenzen, scheitert aber an der schier inflationären Verbreitung des Hautschmucks.

Als Inspiration diente der Regisseurin die Kunst Wim Delvoyes, der dem Schweizer Tim Steiner den Rücken tätowierte und die Tätowierung im Jahr 2008 an einen Kunstsammler verkaufte.

In Kaouther Ben Hanias für den Oscar nominiertem Film »Der Mann, der seine Haut verkaufte« versucht Sam (Yahya Mahayni), ein syrischer Flüchtling, den entgegengesetzten Weg zu gehen: Er nimmt ein Angebot an, sich tätowieren zu lassen, um Zugang zur besseren bürgerlichen Welt Belgiens zu bekommen, in der seine heimliche Liebe, die verheiratete Abeer (Dea Liane), bereits Fuß ­gefasst hat.

Sam lässt sich von dem US-amerikanischen Künstler Jeffrey Godefroi (Koen De Bouw) ein Visum für den Schengen-Raum auf den Rücken stechen. Godefroi verspricht ihm, künftig als Kunstwerk die freie Welt bereisen zu können. Ein ausgeklügelter Vertrag sichert dem Künstler verbindlich Sams Erscheinen an allen Ausstellungsorten zu, ebenso den widerspruchslos zu duldenden Handel mit dem Kunstwerk Sam im Kunstbetrieb und Sams Rückenhaut post mortem. Dafür ist Sam bald in Europa und erhält ein Drittel aller Verkaufssummen aus den Versteigerungen, deren Objekt er ist. Eine geldfixierte Kunstagentin (Monica Bellucci) wacht über ihn, den neuen Vermögenswert.

Die tunesische Regisseurin Ben Hania stellt in dieser überspitzten Parabel verschiedene Freiheitsbegriffe gegenüber: Kunstfreiheit, Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, individuelle Freiheit. Was Kunst darf, spielt sie in einem finster und zynisch dargestellten Kunstbetrieb durch. Als Inspiration diente die Kunst Wim Delvoyes, eines niederländischen Künstlers, der dem Schweizer Tim Steiner den Rücken tätowierte und die Tätowierung im Jahr 2008 an einen Kunstsammler verkaufte. Delvoye hat auch Schweine tätowiert, diese sind im Film ausgestellt. Der Künstler beriet beim Planen des Films.

Doch die Regisseurin fügt noch das Thema der Migration hinzu, so dass der Film weitaus mehr liefert als eine Kritik am Kunstbetrieb. Sie interessiert, was es bedeutet, wenn der Asylantrag scheitert und der Weg in die EU verbaut ist. Sam, der als freidenkender Hitzkopf vom Assad-Regime inhaftiert worden war und sich nach einer Flucht illegal im Libanon aufhielt, erfährt am eigenen Leib, wie flexibel Freiheit im Kontext der Kunst interpretiert wird und wie rigide hingegen in der Asylpolitik. Leider kann er auch in Brüssel nicht frei über seine Ansichten reden, da er vertraglich zum Schweigen im Kunstsaal verdonnert ist. Nochmals wird klar: Sam ist nur ein Objekt.

Dank einer Schockperformance, die juristisch als Vortäuschung eines Attentats gewertet wird, schafft er es dann doch, eine Auktion nach seinen Vorstellungen in Aufruhr zu versetzen. In einer Szene voll bitterer Ironie bemüht sich Sam darum, als gefährliches Subjekt eingestuft zu werden, um wieder er selbst werden zu können. Im Zuge dessen will er vor einem belgischen Gericht endlich als Individuum sprechen. Daraufhin wird er abgeschoben.

Es mag sein, dass der Film seine zentralen Themen überaus plakativ vorstellt, wenn zum Beispiel der Künstler ausspricht, dass Waren heutzutage einfacher reisten als Menschen, oder wenn Sams Verteidiger betont, sein Mandant sei bei dem Vorfall im Auktionshaus Projektionsfläche rassistischer Vorurteile ge­wesen. Aber hier scheint Ben Hania mit den Mitteln des Films die Ideen Wim Delvoyes weiterzuführen, der 2017 in einem Interview über sein Kunstwerk auf Tim Steiners Rücken sagte: »Da geht es auch um Handwerk, zum Beispiel das der Anwälte – ein echtes Meisterwerk der Gesetzesauslegung, was sie da als Vertrag zwischen mir und Tim ausgearbeitet haben! Meine Arbeit zeigt, wie übel Menschen sind, nicht, wie übel ich bin.«

Die Regisseurin verknüpft in der Handlung juristische Probleme des Vertrags- und Aufenthaltsrechts sowie der Menschenrechte miteinander, auf dass der Film in der Kollision der Freiheitsbegriffe der jeweiligen Rechtsdisziplinen eine universelle Antwort darauf gebe, was Freiheit sei oder sein könnte. Das ist schon beinahe griechisch-dialektisch.

Doch es ist nicht allein Platons »Politeia«, die »Der Mann, der seine Haut verkaufte« in Erinnerung ruft. Ben Hania spielt auch mit Goethes »Faust«. Dieser Einfluss scheint ihr so wichtig zu sein, dass die Figur des Künstlers sich selbst als Mephistopheles bezeichnet. Samt verbotener Liebe – hier zu einer verheirateten Frau –, Verheißung und Verhängnis ist das Drama die Grundlage für die Poesie des Films.

Die in Paris lebende Tunesierin Ben Hania verteufelt aber bei aller Satire die Kunstwelt nicht gänzlich, weil diese ja in der Parabel auch für so etwas wie die kulturellen Werte des Westens steht. Sie ergänzt den Rückgriff auf den »Faust« mit An­leihen aus jesidischen und muslimischen Mythen. In diesen symbolisiert der Pfau einen Engel, der, je nach Auslegung, als Gott besonders treu oder eben als abtrünnig gilt. Diese mythologische Ambivalenz bringt Ben Hania mit dem Motiv des Pfaus wiederholt ins Bild. Und so ist der Künstler eben nicht nur schicksalhafter Finsterling, sondern entpuppt sich tatsächlich auch als Glücksbringer auf Umwegen.

Der Film beginnt mit melancho­lischem Realismus, steigert sich zu einer satirischen Groteske und endet dank Ben Hanias Ideenreichtum gut für alle: Eine Petrischale mit Sams DNA und eine Videobotschaft der Terrororganisation »Islamischer Staat« münden am Ende des Films in einen Deus-ex-machina-Moment, den kunstvollen Ausweg, für den die Regisseurin ihre Themen noch einmal bündelt.

Zudem macht Ben Hania in diesem Finale die aristotelische Katharsis zu einer leiblichen Erfahrung für Sam. Was bei dem antiken Griechen die seelische Reinigung des ­Publikums einer Theatervorstellung durch das Durchleben großen Jammers oder Schauders war, wird für die Figur Häutung, Tod und Auferstehung.

Sam und Abeer stehen danach vor der Tür eines leeren Hauses, in einer leeren Wüstengegend. Insignien des Bürgerlichen sieht man nicht mehr, es könnte eine Ruine oder ein Rohbau sein. Sie befinden sich anscheinend am Rande ihrer Welt. Es ist ein zeitloser Ort, der zu gleichen Teilen rechtsfrei und utopisch erscheint. Die Untreue und der Abtrünnige – ein ­syrisches Paar ist hier im doppelten Wortsinn vogelfrei.

Der Mann, der seine Haut verkaufte (TUN, F, B, D, S 2020). Regie und Drehbuch: ­Kaouther Ben Hania. Darsteller: Yahya Mahayni, Dea Liane, Koen De Bouw, ­Monica Bellucci und andere. Filmstart: 24. Februar