Chinas wirtschaftlicher Aufstieg und Russlands Kriegspolitik ordnen die Welt neu

Die Welt als Anspruch und Beute

Von Zeit zu Zeit ordnet die Konkurrenz der großen Mächte die Welt neu. Während China nach ökonomischer Dominanz strebt, droht Russland mit Krieg. Die USA demonstrieren neue Stärke und die EU erscheint wie gewohnt unsortiert.

Derzeit sind China und Russland die treibenden Kräfte einer Neuordnung der Welt, China zu seinem Vorteil, Russland, wie es scheint, aus Lust am eigenen Untergang. Im Kalten Krieg standen sich der kapitalistische Westen und der Kommunismus, der keiner war, feindlich gegenüber. Heutzutage sind alle beteiligten Mächte kapitalistisch ausgerichtet, aber mit großen staats- und gesellschaftspolitischen Unterschieden. Um Macht und Einfluss ringen der staatlich gelenkte Kapitalismus Chinas, der autoritär regierte russische Oligarchen-Kapitalismus und der demokratisch verwaltete Kapitalismus des Westens. Da Russland außer Rohstoff und Militär nichts aufzubieten hat, konzentriert sich der weltweite Wett­bewerb der Systeme auf die Frage, ob die Demokratie oder die Diktatur nach ­chinesischem Vorbild samt digital gesteuerter Totalüberwachung langfristig effektiver sein wird.

China führt bei den Wirtschaftsdaten, während Russlands Nachbarn sich den Westen wünschen. Chinas Aufstieg und Russlands Aggressionen machen den Krieg wieder zum Mittel der Machtverteilung. Russlands Armee bedroht mit dem Einmarsch in den Osten der Ukraine einen künftigen Alliierten des Westens. Über jeder Verhandlung schwebt die Möglichkeit des Kriegs. China schickt seine Armee nach Hongkong und droht immer offener mit Krieg ­gegen Taiwan, das unter dem Schutz der USA steht. Russland wie China verstehen sich als autoritäre Gegenentwürfe zum »dekadenten« Westen, beide eint das völkische Ansinnen, Menschen gegen ihren Willen und unter Missachtung der staatlichen Souveränität heim ins Reich zu holen.

Die Kriegsgefahr wächst, wenn der Niedergang eines Landes mit der Ausdehnung seiner militärischen Möglichkeiten zusammenfällt.

Die imperiale Konkurrenz kennt Atempausen zwischen Kriegen, aber nicht deren Überwindung, wie The­orien erzählen, die aus wirtschaftlicher Verflechtung irrtümlich einen ewigen Frieden ableiten. Michael Hardt und Antonio Negri verkündeten 2000 in dem Buch »Empire« das Ende der »Mächte der Moderne« mit ihren »Freund-Feind-Definitionen«. Das Gegenteil ist wahr. China möchte ökonomische Stärke in politische Dominanz ummünzen, und nie ging die Ablösung einer alten Weltmacht friedlich über die Bühne. China bindet mit seiner »Neuen Seidenstraße« (»Belt and Road Initiative«) viele Nationen von Asien bis Europa und Afrika an sich, engt die Entfaltung des westlichen Kapitals ein und geht dabei immer rigoroser vor. Als der russische Konzern Rosneft 2018 mit Ölbohrungen an den Küsten Vietnams begann, wurde er auf chinesischen Druck hin 2020 vertrieben. Als Litauen Taiwan eine Landesvertretung gestattete, drohte China allen Unternehmen, die mit Litauen Handel treiben, Strafen an.

China expandiert zunächst profitorientiert, Russland militärisch. Präsident Wladimir Putin stiehlt Nachbarn Land, schützt offen Diktatoren in Syrien, Kasachstan und Belarus und hilft mit Söldnern den Regimes in Mali und anderen afrikanischen Staaten. Der Westen nimmt Russland aber erst als Bedrohung wahr, seit seine Armee Richtung Westen marschiert, die Ukraine umstellt, über Belarus an die baltischen EU-Staaten heranrückt und unverhohlen mit einem Angriffskrieg droht. Sollte die Nato nicht aus Mittel- und Südosteuropa und aus »Transkaukasien und Zentralasien« verschwinden, sollten Schweden, Finnland und die Ukraine nicht auf einen Beitritt zur Nato verzichten, sähe Russland sich »gezwungen«, mit »militärisch-technischen Mitteln« zu reagieren; so oder so ähnlich hieß es in den vergangenen Monaten immer wieder von der russischen Führung in Richtung Nato und USA. Von über 20 Nationen zu verlangen, dass sie ihre Souveränität zugunsten russischer Interessen aufgeben, ist so maßlos, dass diese Staaten zwangsläufig nach der Nato rufen.

Es ist nicht unüblich, dass die kapitalistische Dynamik zu Kriegen führt. Der Kapitalismus muss ständig seine Produktion revolutionieren und expandieren, um Märkte zu erweitern und Rohstofflager zu erobern, Transport­wege und Investitionen zu sichern. Anders lässt sich die mit dem Anwachsen der Kapitalmasse sinkende Profitabilität nicht kompensieren. Nun gibt es aber auch Autokraten, die Kriege lostreten, um das zu tun, was ein Mann, der sich gern mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd oder neben einem vollgedröhnten Tiger fotografieren lässt, unter Ruhm und Ehre versteht. In solchen Fällen wächst die Kriegsgefahr, wenn der Niedergang des Landes mit der Ausdehnung seiner militärischen Möglichkeiten zusammenfällt. Und das ist in Russland der Fall.

Das russische Dilemma
Zwei Drittel der russischen Einnahmen stammen aus Öl- und Gasverkäufen, davon gehen wiederum zwei Drittel in die EU (nach China nur ein Fünftel). Die EU versorgt Russland mit Autos, ­­Maschinen, Geräten, chemischen und pharmazeutischen Produkten und setzt dessen rostende Exportinfrastruktur instand. Warum setzt Putin die Geschäftsbeziehungen zur Europäischen Union aufs Spiel? Warum zwingt Putin Europa, sich andere Gas- und Öllieferanten zu suchen, die Energiegewinnung aus Sonne, Wind und Atom zu forcieren und sein Kapital aus Russland abzuziehen? Was veranlasst ihn dazu, sowohl das westliche Bündnissystem unter Führung der USA als auch die nur noch vor sich hin dämmernde Nato zu reanimieren und die osteuropäischen Nachbarn in die Arme der USA zu treiben? In der Ukraine träfe Russland auf eine in den vergangenen Jahren modernisierte Armee und auf Menschen, die für die Unabhängigkeit von Russland und die Annäherung an den Westen gekämpft haben.

Der Grund ist nicht die Nato, sondern der Niedergang des russischen Oligarchen-Kapitalismus (zu dem Putin selbst untrennbar gehört), der Russland von einem maroden Industrieland in den Zustand eines Rohstoffhändlers zurückgeworfen hat und dessen Gewinner ihr Vermögen lieber in den Westen transferieren, statt es in Russland zu investieren. Durch den wachsenden Militärbedarf droht Russland sich ebenso totzurüsten wie einst die Sowjetunion, deren Größe Putin nachtrauert. Das Pro-Kopf-Einkommen in den Ländern des Baltikums ist seit ihrem EU-Beitritt auf 20 000 US-Dollar im Jahr gestiegen, Russland erreicht gerade die Hälfte und liegt bei den Löhnen noch weiter dahinter, außerhalb der Großstädte plagt eine Versorgungskrise die Menschen. Die Aufstände in Belarus und Kasachstan künden davon, dass Menschen sich nicht ewig mit vaterländischem Gebrabbel über ihre missliche Lage hinwegtäuschen lassen. Putin will verhindern, dass in der Ukraine – auch wenn diese davon derzeit noch weit entfernt ist – ein westlich orientiertes, ­demokratisches Land entsteht, auf das die russische Bevölkerung so sehnsüchtig blicken könnte wie die meisten Einwohner der DDR einst auf die Demokratie und die D-Mark in der Bundesrepublik.

Putin strebt nach Weltgeltung, die einem Rohstoffhändler nicht zusteht. Von Putins Traum, mit Jacques Chirac und Gerhard Schröder eine eurasische Weltmacht zu bilden, blieben ihm nur Schröder, dessen Einfluss in Deutschland indes marginal geworden ist, und das Bündnis mit Belarus und Kasachstan. In Zentralasien dehnt China seinen Einfluss auf Kosten Russlands aus und die westlichen Nachbarn wollen in die Nato. Das schmerzt, berechtigt aber nicht dazu, die Ukraine zu überfallen.

Ein Container wird in einem deutschen Ostseehafen verladen

China auf dem Vormarsch. Ein Container wird in einem deutschen Ostseehafen verladen, 11. Februar

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Aufstieg und Fall
Die USA und China sind die Gewinner des russischen Aufmarschs. Im Gegensatz zum früheren US-Präsidenten Donald Trump, der auf Renationalisierung und Protektionismus abzielte und offenkundig bereit war, das westliche Bündnis aufzulösen, nutzt dessen Nachfolger Joe Biden die derzeitige Bedrohung, um den Westen unter Führung der USA wiederzubeleben und die Bündnispartner zum Bruch mit Russland zu bewegen. Ein Einbruch der europäisch-russischen Handelsbeziehungen wäre trotz großer Schäden für die Weltwirtschaft durch höhere Energiepreise ein Konjunkturprogramm für die USA. Unter Wirtschaftssanktionen gegen Russland hätten allein die EU und Russland zu leiden. Die USA würde ihr Flüssiggas (liquefied natural gas, LNG) in Europa absetzen, Ausfälle würden ihre Konzerne in anderen Bereichen kompensieren. Die USA festigen schon jetzt ihr Bündnis mit Osteuropa durch die militärische Schirmherrschaft, die die EU nicht bieten kann. Was immer die EU beschließen wollte, nichts ginge mehr ohne Zustimmung der Vereinigten Staaten, die in Gestalt osteuropäischer Diplomaten mittelbar am Tisch säßen.

Die USA sind daran interessiert, Russland von seinen Revenuen abzuschneiden. Sollte Russland sich durch Aufrüstung, Kriege und Selbstisolierung zerlegen wie einst die Sowjetunion, wären die USA einen schießwütigen Gegenspieler los. Das kann wichtig werden, wenn sich der Konflikt mit China zuspitzt. Gegenüber Russland genießt der Westen den Vorteil, dass historische Befreiungsversprechen durch die genügsamere Sehnsucht nach seiner demokratisch organisierten kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft ersetzt wurden. Diese Sehnsucht hat die »werteorientierte Außenpolitik« des Westens in eine Waffe verwandelt. Die Nato musste in die Staaten der sowjetischen Hinterlassenschaft nicht »eindringen«, wie Russland es ihr vorwirft, ihr Erscheinen wurde begrüßt. Das wird sich in Regionen, in denen der klerikale Faschismus des Islam vorherrscht, in Ländern, die von chinesischen Sonderangeboten profitieren und Ländern, die der Westen für den Eigenbedarf an Ressourcen in die Armut treibt, nicht wiederholen lassen.

China ist wirtschaftlich zehnmal stärker als Russland und im Unterschied zu Russland eine weltmarktfähige Industrienation. Die Achse China–Russland wäre »ein Bündnis mit kolonialem Charakter«

China befindet sich in der privilegierten Lage, dass die ganze westliche Welt auf seine Waren angewiesen ist. Smartphones, Laptops, Sportartikel, Teddybären, fast alles, was sich in europäischen und amerikanischen Küchen, Wohn- und Kinderzimmern stapelt, stammt aus China. Die Produktion in den west­lichen Kernstaaten wäre um ein Vielfaches teurer und würde Massenwaren für viele Menschen in Luxusgüter verwandeln. China ist unverzichtbar, weil es im Westen den Konsum auch bei sinkender Kaufkraft der Löhne und somit die gesellschaftliche Befriedung sichern hilft, während sich Öl und Gas woanders finden lassen und zudem veraltende Energieformen darstellen. China nutzt die Abhängigkeit des Westens für sein Vordringen und für Bündnisse, die weit ins westliche Lager hineinreichen. Es hat mit 14 Asien-Pazifik-Staaten den Freihandelsblock Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) gebildet, der ein Drittel der Weltwirtschaft repräsentiert. Neben den zehn Asean-Mitgliedstaaten sind auch Japan, Australien, Südkorea und Neuseeland diesem Pakt beigetreten.

In der selbstverschuldeten Isolation bittet Putin China um ein Bündnis, das China sich teuer bezahlen lassen dürfte. China ist wirtschaftlich zehnmal stärker als Russland und im Unterschied zu Russland eine weltmarktfähige Industrienation. Die Achse China–Russland wäre »ein Bündnis mit kolonialem Charakter«, schrieb selbst die regierungsnahe ­russische Zeitung Nesawissimaja Gaseta. China kommt das Angebot einer vertieften wirtschaftlichen Partnerschaft sehr gelegen. Es will russische Öl- und Gasquellen ausbeuten, die Taiga abholzen und russische Trinkwasserreserven plündern, will den Energietransport über Land, weil der Seeweg von US-amerikanischen Flottenverbänden kontrolliert wird. Freundschaft ist das nicht. Bei einem Zerfall Russlands würde China sich im Osten des Landes am Einsammeln von allerlei neuen Nationen beteiligen wie die Nato und die EU im Westen.

Das deutsche Dilemma
Die europäischen Mächte Deutschland und Frankreich spüren schmerzlich, dass mit der EU keine imperiale Politik zu betreiben ist. Sie ist nur ein Konglomerat konkurrierender und zerstrittener Nationen ohne gemeinsame Kriegsfähigkeit und Rohstoffe. Großbritannien hat der EU den Rücken ­gekehrt und eine neue Sicherheitspartnerschaft mit Polen und der Ukraine geschlossen, Ungarn und Polen verabschieden sich von demokratischen ­Regeln, Osteuropa schlüpft unter den Schutzschirm der USA. Dazu drohen Deutschland die russischen Rohstoffe abhandenzukommen.

Die deutsche Sozialdemokratie, die retten will, was kaum zu retten ist, sendet immer wieder Freundschaftssignale nach Moskau. Sie nimmt bei der Drohung mit Sanktionen gegen Russland das Wort Nord Stream 2 nicht in den Mund, weigert sich als eines der letzten Länder in der EU, der Ukraine Waffen zu liefern, ihr Fraktionschef Rolf Mützenich will sogar russische Sicherheitsinteressen wahren. Aber die USA und Osteuropa haben Nord Stream 2 zum Prüfstein der deutschen Bündnistreue erklärt. Joe Biden nahm die Pipeline zum Anlass, die Machtverhältnisse klarzustellen. Als Bundeskanzler Olaf Scholz sich auf der Pressekonferenz bei seinem Antrittsbesuch in Washington am 7. Februar wieder einmal hinter Floskeln verstecken wollte, fuhr Biden ihm über den Mund. Die USA würden der Pipeline »ein Ende bereiten« und hätten die Mittel dazu. Aus! Die Frage, ob die USA denn auch auf ihre Ölimporte aus Russland verzichten würden, beantwortete er nicht. Russland ist drittgrößter Öllieferant der USA, noch vor Saudi-Arabien.

Die deutsche Wirtschaft bangt um ihr Russlandgeschäft, der Verband Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft befürchtet, dass ein Krieg »die europäische Wirtschaft um Jahrzehnte zurückwerfen« würde. Deutschland bezieht über die Hälfte seines Gases und 40 Prozent seines Rohöls aus Russland. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat angekündigt, dass die EU bei einem Totalausfall der Gazprom-Liefermengen »Notfallmaßnahmen« ergreifen müsste. Gleichzeitig bemüht sich Deutschland um Fracking-Gas aus den USA und um zusätzliche Lieferungen aus Katar, Ägypten, Algerien, Japan und Südkorea, aber die Mengen würden kurzfristig nicht reichen. Claudia Kemfert, die Energieexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), analysiert, dass Deutschland im Vertrauen auf Russland die Diversifika­tion der Gasbezüge vernachlässigt habe. »Mehr falsch machen kann man an der Stelle gar nicht«, sagte sie im Bayerischen Rundfunk. Während andere EU-Staaten nach der Annexion der Krim 2014 LNG-Terminals gebaut hätten, habe Deutschland allein auf Russland vertraut und durch die Entscheidung, Erdgas zur Brückentechnologie zu machen, den Ausbau regenerativer Energien gebremst. Die heimatgebundene grüne Energie erlangt somit geopolitische Bedeutung.

Der Vorhof
Vielleicht gibt Putin sich damit zufrieden, dass ihm nach der Krim auch der Donbass überlassen wird. Aber Appeasement ermuntert. Irgendwann wird er wieder vaterländische Siege statt Lebensmittel präsentieren und vielleicht die ganze Ukraine, der er das Existenzrecht abspricht, besetzen oder die russischsprachigen Brüder in Estland heimholen wollen.

Es gibt in Deutschland auch Leute, das soll nicht verschwiegen werden, die für Putin Verständnis haben, weil Großmächten angeblich eigene Vorhöfe ­zustünden. Gabor Steingart sieht in seiner Kolumne vom 16. Februar auf GMX.net Russlands Sicherheit dadurch gefährdet, dass mit Finnland, Schweden und der Ukraine »die letzten Pufferstaaten im Vorhof der Russischen Föderation in die Hände des westlichen Militärbündnisses fallen« könnten. Nicht, dass Schweden Russland bedroht. Es liegt halt im russischen Vorhof. ­Welche Vorhöfe darf dann China beanspruchen? Die Mongolei, Kasachstan, Japan? Darf die EU sich die Ukraine als Vorhof holen?

Es soll Linke geben, die für die deutsche Nation den Ausstieg aus dem Westen verlangen, etwa mit der Forderung: »Raus aus der Nato!« Diese Souveränität, über die Zugehörigkeit zu einem Militärbündnis zu entscheiden, sprechen sie Schweden und den russischen Anrainerstaaten wie der Ukraine ab.