Das Gedenken an das Attentat von Hanau wird zum Teil politisch vereinnahmt

Vereinnahmt von allen Seiten

Erneut haben unter anderem Antizionisten und türkische Nationa­listen versucht, das Gedenken an die Terroropfer von Hanau für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Es war einer der schwersten Terrorakte in der Geschichte der Bundesrepublik. Am 19. Februar 2020 machte ein Rechtsextremer im hessischen Hanau gezielt Jagd auf Menschen, die er für Ausländer hielt. Er ermordete zehn Menschen und hinterließ ein Manifest, in dem er die rassistische Motivation seiner Tat ausbreitete. Am vergangenen Samstag jährte sich die Tat zum zweiten Mal. Neben offiziellen Gedenkveranstaltungen fanden zahlreiche Demonstrationen und Kundgebungen in ganz Deutschland statt.

Tausende Menschen beteiligten sich an den Protesten, die sich auch gegen den Rassismus der deutschen Behörden und das Agieren der Sicherheitsbehörden richteten.

Schon der Trauermarsch 2020 wurde als Versuch türkisch-nationalistischer und islamistischer Kräfte kritisiert, die Opfer des Anschlags zu vereinnahmen.

Wie bereits in den vergangenen zwei Jahren zu beobachten war, nahmen auch diesmal manche an den Gedenkveranstaltungen teil, die andere Zwecke verfolgen. Dazu gehörten prominente Politiker und Politikerinnen, die signalisieren wollten, dass sie die Gefahr des Rassismus und des rechtsextremen Terrors ernst nehmen. Bei einer offiziellen Gedenkveranstaltung auf einem Friedhof in Hanau sprachen unter anderem Bundesinnenministerin Nancy Faeser und der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier. Ebenfalls dabei war der Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD). Er befand es für nötig, in seiner Rede »auch die Toten der Bombennacht des 19. März 1945« zu erwähnen, die auch auf dem Friedhof lägen und »letztlich ebenfalls Opfer eines blinden Rassismus geworden sind, der von Deutschland ausgegangen ist«.

Bei der Veranstaltung waren nur 100 geladene Gäste zugelassen. Emiş Gürbüz, die Mutter des bei dem Anschlag ermordeten Sedat Gürbüz, kri­tisierte in einer Rede auf einer anderen Veranstaltung, prominente Politiker hätten in Hanau Vorrang vor Angehörigen der Opfer gehabt. Das Land Hessen habe die »Gedenkstunde vereinnahmt«, sagte Gürbüz. Es mache sie »fassungslos, dass unsere Wünsche an diesem besonderen Tag ignoriert wurden.«

Andernorts wurde das Gedenken von antizionistischen Gruppen instrumentalisiert. Bei einer Kundgebung in Berlin-Wedding waren Flaggen der Organisation Samidoun zu sehen, einer Untergruppe der palästinensischen Ter­rororganisation PFLP. In Berlin-Kreuz­berg riefen bei einem Protest einige Dutzend Demonstrierende die Parole »Yallah Intifada, von Hanau bis nach Gaza«.

Auch türkisch-nationalistische Kreise versuchten – wie schon vor zwei Jahren – das Gedenken an die Opfer des rassistischen Anschlags in Hanau für die Vorstellungen der türkischen Regierungspartei AKP zu vereinnahmen. Unter dem Motto »Gemeinsam gegen Terror und antimuslimischen Rassismus« hatte ein nicht näher benannter Zusammenschluss aus »türkischen Vereinen und Moscheegemeinden« zu einer Kundgebung auf dem Heumarkt in Hanau geladen. Der Journalist Eren Güvercin warnte auf Twitter, man müsse »genau hinschauen, wer im Rahmen der Gedenkveranstaltungen zu #Hanau versucht, diese für die eigene nationalistisch-identitäre Agenda zu missbrauchen«. Teilnehmer, die »die aggressive nationalistisch-identitäre Machtpolitik der AKP-MHP unterstützen«, würden zwar »einen auf antirassistischen Aktivisten« machen, ihnen gehe es jedoch »am Ende nicht um Rassismus und das Gedenken an die Opfer«. Die MHP ist eine rechtsextreme türkische Partei, die seit 2018 mit der AKP koaliert. Sie gilt als politischer Arm der »Grauen Wölfe«.

Als Ansprechpartner für die Veranstaltung wurde der Unternehmer Salih Taşdirek angegeben. Der hatte in der Vergangenheit an Pro-Erdoğan-Demons­trationen teilgenommen, 2018 versuchte er, sich als Kandidat für die AKP aufstellen zu lassen. Gleichzeitig ist Taşdirek als Vorsitzender des Ausländerbeirats im Maintal in der Lokalpolitik aktiv.

Auch der Journalist Teyfik Özcan teilte auf seiner Facebook-Seite mit, er sei Ansprechpartner für die Demonstration. Am Sonntag, einen Tag nach der Veranstaltung, verkündete er dort, zu der Gedenkveranstaltung habe »unse­re Initiative ›Gemeinsam gegen Terror und antimuslimischen Rassismus‹ der Hanauer Vereine und Moscheegemeinden« geladen. Es sei eine »denkwürdige und erfolgreiche« Zusammenkunft gewesen, als Gäste habe man »die Bundesvorsitzende der SPD, Frau Saskia Esken, sowie den Oberbürgermeister der Stadt Hanau, Herrn Claus Kaminsky, begrüßen« dürfen. Die Nachrichtenseite Nex24.News, die in ihrer Berichterstattung häufig Sympathien für das türkische Regime zeigt, berichtete, bei der Veranstaltung am Samstagnachmittag ha­be erst der »Mitorganisator« Özcan eine Pressemitteilung verlesen, anschließend hätten Saskia Esken und Claus Kaminsky gesprochen.

Özcan war 2018 als Sprecher der Organisatoren einer Demonstration zur Unterstützung der türkischen Militäroffensive gegen die syrisch-kurdische Stadt Afrin in Frankfurt in Erscheinung getreten. Dort habe Özcan der Frankfurter Neue Presse zufolge eine Erklärung der Union Internationaler Demokraten (UID) verlesen. Die UID ist eine Vorfeldorganisation der AKP in Europa und hat in Deutschland maßgeblich den Wahlkampf für Recep Tayyip Erdo­ğan getragen. Die Organisation betreibt Lobbyarbeit im Interesse des Erdoğan-Regimes und versucht, politischen Einfluss auf die türkische Dia­spora in Europa zu nehmen. Ihrer Arbeit liegt die Idee des »Europäischen Türkentums« zugrunde, die auf die nationalistische Mobilisierbarkeit der so­genannten Auslandstürken zielt. Diese sind für Erdoğan eine relevante Wählergruppe, seit den türkischen Staatsbürgern mit einer Gesetzesänderung im Jahr 2008 erlaubt ist, im Ausland an türkischen Wahlen teilzunehmen. Die UID versuchte unter anderem, die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch den Bundestag zu verhindern. Sie wurde im Verfassungsschutzbericht 2020 als »der größte türkisch dominierte staats- beziehungsweise regierungsnahe Interessenverband« aufgeführt.

Einiges spricht dafür, dass für die Kundgebung am Heumarkt dieselben Kreise verantwortlich sind wie für den großen Trauermarsch von Hanau 2020, an dem über 10 000 Menschen teil­ge­nommen hatten. Damals sprachen der türkische Botschafter sowie Vertreter der türkischen Religionsbehörde Ditib und der islamistischen Bewegung Mil­lî Görüş – und Teyfik Özcan. Er wurde in Medienberichten als Organisator des Trauermarschs bezeichnet.

Einem Beitrag des Magazins »Defacto« vom Hessischen Rundfunk zufolge war die Initiative für den damaligen Trauermarsch auf ein Treffen des türkischen Unternehmerverbandes Müsiad zurückgegangen. Ein Foto auf Facebook zeige die Zusammenkunft von Vertretern von UID, AKP und Müsiad in deren Räumlichkeiten. Der Unternehmerverband Müsiad propagiert eine Verschmelzung von Islam und Wirtschaftsliberalismus und gilt wie die UID als AKP-Vorfeldorganisation. Zur neoosmanischen Ideologie Müsiads gehören eine religiös-fundamentalistische antiwestliche Ausrichtung, die sich gegen »Imperialismus« und »Dekadenz« richtet, sowie ein von Verschwörungstheorien strukturiertes Weltbild, welches die Türkei unter dauerhafter Bedrohung durch »ausländische Kräfte« wähnt, denen auch die Verantwortung für innenpolitische Konflikte wie beispielsweise die Gezi-Proteste von 2013 oder den gescheiterten Putschversuch von 2016 zugeschrieben wird.

Schon der Trauermarsch 2020 wurde als Versuch türkisch-nationalistischer und islamistischer Kräfte kritisiert, die Opfer des Anschlags zu vereinnahmen. Murat Yörük schrieb damals in der Jungle World, das »türkisch-islamische Schaulaufen, das wenig mit einem Trauermarsch zu tun hatte«, demons­triere, »was passiert, wenn die hiesige Gesellschaft die Toten nicht als ihr zugehörige, aus rassistischen Motiven ermordete Bürger erkennt, sondern solchen besitzergreifenden Verbandsvertretern überlässt.«

Der Versuch der UID und verwandter Organisationen, den rassistischen Anschlag von Hanau vor allem als Tat eines antimuslimischen Rassismus und Angriff auf den Islam darzustellen, ist wohl von dem Interesse geleitet, sich der deutschen Politik und Öffentlichkeit als Interessenvertretung der Betroffenen zu empfehlen und politischen Profit aus dem Leid der Hinterbliebenen zu schlagen. Es geht hier um ein nationalistisches Identitätsangebot im Sinne der Politik des Europäischen Türkentums. Der Rassismus in Deutschland wird als Ausdruck eines vom Westen geführten Kulturkampfs gegen die Türkei und den Islam gedeutet; das türkische Regime sei es hingegen, auf das sich die Betroffenen verlassen könnten.