Der russische Angriffskrieg erschüttert linke Überzeugungen

Nato-Kritiker im Niemandsland

Viele Linke und Friedensbewegte, die bisher vor allem die Nato kritisiert haben, orientieren sich wegen des russischen Angriffskriegs neu. Andere bleiben einfach bei ihrer alten Rhetorik.

»Waffen und Ausrüstung für die Ukraine« stand auf einem Schild. Tausende Menschen protestierten am Sonntag am Berliner Alexanderplatz gegen den russischen Angriffskrieg. Zu dem Protest aufgerufen hatte das ukrainische Netzwerk Vitsche Berlin. Überall sah man die Nationalfarben der Ukraine, aber auch einige weißrote Flaggen, wie sie die belarussische Opposition nutzt. »Shelter Ukrainian Sky« wurde in Sprechchören gefordert: »Schützt den ukrainischen Himmel.«

Nur wenige Kilometer entfernt fand gleichzeitig die große Friedensdemon­s­tration mit weit über Hunderttausend Teilnehmern statt. Dort war die Stimmung etwas gesetzter. In den Pausen zwischen den zahlreichen Reden sangen deutsche Liedermacher über ihren Wunsch nach Frieden. Nur die in der Ukraine geborene Oleksandra Bienert forderte in ihrer Rede Waffenlieferungen an die Ukraine. Das Bündnis, das die Demonstration veranstaltete, sehe diese Forderung aber kritisch, teilte Christoph Bautz von der Kampagnenplattform Campact der Taz mit. Zu der Demonstration aufgerufen hatten Gruppen wie Campact, Greenpeace, die Seebrücke, Verdi und die Gewerkschaft der Polizei. Auch altbekannte Akteure der Friedensbewegung wie die Internationalen Ärztinnen für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) nahmen Teil. Ihr Vertreter, Lars Pohlmeier, sprach direkt vor Luise Neubauer von Fridays for Future. Der Angriff auf die Ukraine sei unentschuldbar. »Und doch«, so Pohlmeier, »müssen wir überlegen, wie wir die Zukunft gestalten.« Eine neue europäische Friedensordnung müsse die Sicherheitsinteressen aller anerkennen.

Sanktionen lehnt Wagenknecht ab und denkt dabei nicht nur an den Frieden, sondern auch an deutsche Interessen.

Angesichts des russischen Angriffskriegs orientieren sich Linke und Friedensbewegte neu. Manche – wie Pohlmeier – scheinen einfach weiter die alten Texte zu recyclen. Die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag, Amira Mohamed Ali, gestand zumindest ein, man habe die Absichten der russischen Regierung »falsch eingeschätzt.« Dies sagte sie am Sonntag im Bundestag.

Noch am Dienstag vergangene Woche – also nachdem Russland die sogenannten Volksrepubliken in der Ostukraine anerkannt hatte, knapp zwei Tage, bevor die Invasion begann – forderte der außenpolitische Sprecher der Linkspartei-Bundestagsfraktion, Gregor Gysi, gemeinsam mit der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen »alle Seiten« dazu auf, »nicht weiter zu eskalieren«. Man müsse »einen Umgang« mit Russland finden, dies erfordere die Realpo­litik. »Alle Seiten« müssten »zu Diplomatie und Völkerrecht zurückkehren«.

Nach Beginn der russischen Invasion sagte Gysi im Podcast »Wochentester«, er sei bitter enttäuscht von Putin. »Alles, was ich immer gesagt habe«, um die russische Politik zu erklären, sei »an dem Tag gestorben, an dem ein völkerrechtswidriger Krieg beginnt«. Doch Nord Stream 2 unterstützt er weiterhin. Dass das Projekt gestoppt wurde, finde er falsch – »da versuchen die Grünen, ihr altes politisches Schild durchzusetzen, und die USA versuchen, ihr ökonomisches Interesse daran durchzusetzen«.

Die Spitzen der Partei und der Bundestagsfraktion verurteilten den russischen Angriff in einer gemeinsamen Erklärung. Sanktionen wurden darin nicht erwähnt. Der Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch sagte jedoch am Tag darauf im Deutschlandfunk, die Linkspartei habe Sanktionen zwar immer abgelehnt, dies müsse nun aber neu bewertet werden. Allerdings gebe es nur die Möglichkeit, »Frieden zu schaffen mit Russland«. Man müsse »zu einer Nachkriegsordnung kommen, die Interessen ­berücksichtigt«.

Deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine lehnt die Linkspartei weiterhin strikt ab. Die Parteivorsitzende Janine Wissler begründete diese Haltung am Wochenende gegenüber der NZZ folgendermaßen: »Waffen, die man jetzt in die Ukraine liefert, wären in wenigen Tagen in den Händen der russischen Armee.

Bei einer Friedenskundgebung der Linkspartei am Freitag voriger Woche hatte Wissler betont, es handele sich um einen »Angriffskrieg, der durch nichts zu rechtfertigen ist«. Man müsse solidarisch mit den Menschen sein, die in Russland gegen den Krieg de­mons­­trierten. An der Kundgebung am Rosa-­Luxemburg-Platz in Berlin nahmen knapp 200 Menschen Teil. Viele trugen Fahnen, die eine Friedenstaube zeigten. Nach Wissler sprach Amira Mohamed Ali. Die Reden der beiden Hauptgäste dauerten insgesamt kaum 15 Minuten, der Applaus war gedämpft. Dann wurden die Friedensfahnen wieder eingerollt.

Vor allem Sahra Wagenknecht macht weiterhin die Nato für den russischen Angriffskrieg verantwortlich. Die Bundestagsabgeordnete hat zwar kein offizielles Parteiamt, ist aber nach wie vor eines der prominentesten Gesichter der Linkspartei. In einem Youtube-Video vom Freitag voriger Woche sagte sie, der Krieg Russlands gegen die Ukraine sei genauso zu verurteilen »wie all die völkerrechtswidrigen Kriege, die in den zurückliegenden Jahren von den USA und ihren Verbündeten geführt wurden«. Putin sei mit seinem Angriffskrieg »ein gelehriger Schüler der USA«. Man müsse sich auch erinnern, wie man in diese Situation gekommen sei, nämlich durch die Nato-Osterweiterung. Sanktionen lehnt Wagenknecht ab und denkt dabei nicht nur an den Frieden, sondern auch an deutsche ­Interessen. Wirtschaftliche Sanktionen würden den Frieden nicht befördern, »aber hier gehen die Preise durch die Decke«.

SPD, Union, Grüne und FDP verabschiedeten am Sonntag einen Entschließungsantrag, der unter anderem Sank­tionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine billigte. Aus der Fraktion der Linkspartei stimmte niemand dem Antrag zu. Anschließend zeigte sich jedoch, wie gespalten die Partei in der Bewertung des Kriegs ist. Eine Gruppe von sieben Abgeordneten der Linkspartei, darunter Sahra ­Wagenknecht, Sevim Dağdelen und Klaus Ernst, veröffentlichten nach der Abstimmung eine gemeinsame Erklärung. Darin hieß es, der »Antrag bedeutet die kritiklose Übernahme der vor allem von den USA in den letzten Jahren betriebenen Politik, die für die entstandene Situation maßgebliche Mitverantwortung trägt«.

Darauf reagierte Gregor Gysi in einer Schärfe, die angesichts seiner früheren Positionen überraschte. In einem öffentlich gewordenen Brief schrieb Gysi an die sieben Abgeordneten, sie seien nur daran interessiert, ihre »alte Ideologie in jeder Hinsicht zu retten«. Sie sprächen »der Ukraine faktisch ein Selbstverteidigungsrecht« ab. »Die Nato ist böse, die USA sind böse, die Bundesregierung ist böse und damit Schluss für euch.« Was ihn an der Erklärung wirklich entsetze, schrieb Gysi weiter, »ist die völlige Emotionslosigkeit hinsichtlich des Angriffskrieges, der Toten, der Verletzten und dem Leid«. Und fragte dann: »Müssen nicht auch wir über uns nachdenken, eine gewisse Zäsur begreifen?« Wagenknecht verlautbarte am Montag, Gysis Brief grenze an Rufmord, schließlich hätten sie und die sechs anderen Abgeordneten Russlands Angriff verurteilt.