John McWhorter hält den ­neuen Antirassismus für einen Religionsersatz

Wer’s glaubt, ist auserwählt

John McWhorter hält die antirassistische Ideologie der Woke Left für eine Religion. Die Ansicht wirkt zunächst abwegig, doch der Sprachwissenschaftler legt sie in seinem neuen Buch überzeugend dar.

»Aberglaube, Klerus, Sünden, Missionierungsdrang, der Ekel vor dem Unreinen – es ist alles da«, schreibt John McWhorter, Professor für Linguistik an der Columbia-Universität in New York City, in seinem neuesten Buch. Dessen deutscher Titel »Die Erwählten – Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet« ist unglücklich gewählt, drückt der englische Originaltitel »Woke Racism – How a New Religion Has Betrayed Black America« doch viel deutlicher aus, worum es geht. Im Verlauf des Buchs fordert McWhorter, die antirassistische Ideologie der woke left endlich so zu bezeichnen, wie er sie beweiskräftig darstellt: als eine ­Religion. Er nennt diese Glaubensrichtung Electism, die deutsche Übersetzung »Erwähltismus« klingt reichlich ungelenk.

Was zunächst wie ein weiteres Beispiel der polemischen Metaphorik klingt, mit der andere schon gegen das Phänomen der wokeness an­geschrieben haben, will McWhorter »nicht als rhetorisches i-Tüpfelchen«, als »ein ›so ähnlich wie‹« verstanden wissen. Dass er in der Erscheinung tatsächlich eine Religion erblickt, leuchtet nicht sofort ein. Doch der Erklärungsansatz des Linguisten überzeugt schließlich dank seiner Feinheiten, der passgenauen Begrifflichkeiten sowie seiner theo­retischen und praktischen Anschlussfähigkeit.

McWhorter zufolge sind die antirassistischen »Erwählten« gekommen, um zu bleiben, weshalb man sie am Debattiertisch tolerieren solle. Man müsse ihnen aber entgegentreten, wenn sie für sich beanspruchten, gesellschaftlich richtungsweisend zu sein.

Als Klerus der neuen Religion macht McWhorter, der auch für seine Meinungsbeiträge in der New York Times bekannt ist, drei Kollegen aus, die als Vertreter der Critical Race Theory tonangebend sind und nach deren Schriften die von ihm so bezeichneten »Erwählten« predigen: den Journalisten und Autor Ta-Nehisi Coates, bekannt für Essays wie »The Case for Reparations«, den Rassismusforscher Ibram X. Kendi, bekannt für das Buch »How to Be an Antiracist«, und schließlich die Soziologin Robin DiAngelo, bekannt für das Buch »Wir müssen über Rassismus sprechen« (im englischen Original »White Fragility«), in dem sie den Begriff des »weißen Privilegs« einführt, um – entsprechend der Erbsünde im Christentum – den ewigen Rassisten in »den Weißen« auszumachen.

In dieser für geschichtliche Veränderungen völlig unempfänglichen Theorie bleibt es beim ewig gleichen US-amerikanischen Rassismus. Dieser kann sich höchstens noch verschlimmern, davon sind »Erwählte« McWhorter zufolge überzeugt, trotz schwarzer CEOs, Vizepräsidentinnen und der Präsidentschaft Barack Obamas. »Gesellschaftspolitischer Fortschritt ist für die US-amerikanischen Erwählten und ihr Konzept von race vollkommen irrelevant, und das nicht, weil sie stur sind oder davon profitieren, wenn sie andere aufputschen, sondern weil sie auf religiöse Art und Weise an Antirassismus glauben«, schreibt der Autor.

Da sich nichts ändern kann, erscheint auch die Zukunft bereits als verdammt. Die Glorifizierung der Vergangenheit schwarzer Menschen auf dem afrikanischen Kontinent, die McWhorter als Aspekt eines religiösen Schöpfungsmythos einordnet, und die Darstellung der Gegenwart als »Jauchegrube« gelinge den »Erwählten« mit Simplifizierungen. Solche biete das religiöse Denken, weshalb es Menschen eher liege als mühsame Wissenschaft. »Das erklärt, warum es so reizvoll ist, einen weißen Teufel an die Wand zu malen, obwohl man ansonsten gegen Essentialismus ist. Der religiöse ­Imperativ überschreibt den wissenschaftlichen, der weniger natürlich für uns ist. Deswegen fühlen sich die Erwählten so wohl damit, dass sie klingen wie Louis Farrakhan, der Führer der Nation of Islam.«

So geraten Begriffe wie »struktureller Rassismus«, »institutionalisierter Rassismus« und »systemimmanenter Rassismus« McWhorter zufolge zu religiösen Anthropomorphismen: »Erwählte« schrieben Strukturen, Systemen und Institutionen auf vereinfachende Weise menschliche Eigenschaften zu. Statt tatsächlichen Rassismus, Armut und Bildungsungleichheit zu bekämpfen, sännen »Erwählte« lieber selbstgefällig über solche Scheingegner nach, wodurch Veränderungen ausblieben. So erscheine die Lage als ausweglos, was »Erwählte« wiederum als Beweis für die Ewigkeit des Rassismus heranzögen.

Die zentralen Glaubenssätze legt der Autor in den zehn Punkten ­eines »Katechismus der Widersprüche« dar. So heißt es beispielsweise in Punkt drei: »Zu Rassismus zu schweigen, ist Gewalt. / Die Stimme der Unterdrückten muss lauter zu hören sein, als Ihre eigene.« Unter dem neunten Punkt steht: »Schwarze Menschen dürfen nicht für alles verantwortlich gemacht werden, was andere Schwarze Menschen tun. / Allen Weißen muss bewusst sein, dass sie persönlich verstrickt sind in die historisch gewachsene Perfidie von ›Weißsein‹.« Nach solch widersprüchlichen Vorgaben fromm handeln zu können, ist McWhorter zufolge eine Glaubens­prüfung. Mit dem »Aussetzen der Ungläubigkeit« verdrängten »Erwählte« jede Logik und müssten glauben wollen, das Unlösbare lösen zu können.

Darin sieht McWhorter eine fundamentale religiöse Handlung: dem Unglauben abschwören und sich Gott unterwerfen. Bei Weißen arte die Selbstkasteiung gar in rituelle Waschungen der Füße schwarzer ­Demonstranten aus, wie eine der vielen Anekdoten des Buchs verrät. ­Einen weiteren Beweis dafür, dass der »Erwähltismus« an die Stelle ­älterer Religionen tritt, sieht der Autor im inquisitorischen Vorgehen der »Erwählten«, in ihrer rigiden Diskurshygiene, in der jede abweichende Meinung als Gotteslästerung gelte, in den Shitstorms auf Twitter und der cancel culture.

Weiße ließen sich von DiAngelo darüber belehren, dass sie »rassistische Zahnrädchen in einer rassistischen Maschinerie sind und dass gesellschaftliche Veränderung nur möglich ist, wenn sie das zugeben und ihren Rassismus abschütteln«, schreibt McWhorter und schiebt eine entscheidende rhetorische Frage nach: »Was arme schwarze Menschen wann und wie genau weniger arm sein lässt?«

Dem Autor zufolge ist die neue antirassistische Religion nicht nur nutzlos, sondern schadet der schwarzen Bevölkerung sogar. McWhorter liefert etliche empirisch untermauerte Beispiele. Antirassismus, wie ihn der »Erwähltismus« proklamiere, halte Schwarze dazu an, sich immer als Opfer zu sehen. Die Aufklärung mit ihrem Fokus auf dem Individu­alismus löse sich in »Einzelteile auf angesichts dieser Idee: dass man sich, will man etwas anderes sein als weiß, obsessiv mit der Tatsache beschäftigen muss, eben nicht weiß zu sein«.

Akademische Kollegen infantilisierten Schwarze, indem sie ihnen inhaltliche Kritik an ihrer intellektuellen Arbeit verwehrten unter Verweis auf eine vermeintlich antirassistische Haltung, die eine »schwarze Perspektive« in der Wissenschaft verlange. »Und was die Forderung an­belangt, dass sich beispielsweise in der Physik die Vorstellung davon ­ändern muss, was als echte Forschung zählt, und dass eine ›Schwarze Perspektive‹ zugelassen werden muss: Es ist schon herablassend, darüber auch nur ein weiteres Wort zu verlieren«, schreibt McWhorter.

Viele Schwarze lehnten es ab, der Polizei Gelder zu entziehen, weil ­ihnen das in Stadtvierteln mit hohen Kriminalitätsraten schade. Dennoch forderten »Erwählte« weiterhin, der Polizei Gelder zu kürzen. McWhorter spricht von »brutaler Herablassung« und ergänzt: »Die Begeisterung darüber, eine Ordnung der Dinge iden­tifiziert zu haben und sich wichtig zu fühlen, bekommt größeres Gewicht als das, was schwarze Menschen tatsächlich empfinden.«

Der Autor schlägt vor, stattdessen erstens den »war on drugs« zu be­enden und zweitens Schwarzen alternative Bildungs- und Berufswege zu eröffnen, die nicht zwingend durch Colleges führen müssten. An diesen würden zurzeit viele Schwarze wegen für sie vereinfachter Eignungs­prüfungen zugelassen – ein Ergebnis »woker« Universitätspolitik –, die dann jedoch an den Curricula scheiterten und durchfielen. Da Studien­abbrecher statistisch mehr Ärger mit der Polizei hätten, hält McWhorter beide Punkte für wichtig. Drittens fordert er, Schulen sollten nach phone­tischer Methode das Lesen unterrichten, mit der schwarze Kinder nachweislich schneller lernten als mit der Ganzwortmethode, die einen Wortschatz voraussetze, den schwarze Kinder aus ihren Familien häufig nicht mitbrächten.

McWhorters auf Erfahrung und Fakten beruhender Pragmatismus gleicht die Polemik aus, in die er trotz der Ankündigung, sie im Zaum zu halten, stellenweise verfällt. An ihr zeigen sich aber die Dringlichkeit seiner Schrift und die Wut, die er sich als ein der Aufklärung verpflichteter Angestellter einer für ihre wokeness berüchtigten Universität wohl vom Leib schreiben musste. Das Buch ist dank seiner stilistischen Klarheit und Fülle an Alltagsbeispielen eine Handreichung für Verunsicherte oder Eingeschüchterte – vor allem außerhalb der Akademien, worauf McWhorter großen Wert legt.

Zum Abschluss kommt der Autor darauf zu sprechen, »was wir nicht tun sollten«, und führt zuerst an: »nicht diskutieren«. Die »Erwählten« glaubten nicht, dass sie lediglich eine ›Meinung‹ hätten. »Sie argumentieren mit dem Evangelium«, schreibt McWhorter. Und darin liegt die ­große Erleichterung, die der Schritt bringt, der woke left den Religions­status zuzuerkennen: So wie man weder in der Universität noch in der Küche mit christlichen Fundamen­talisten darüber reden muss, warum wer ein Sünder ist oder nicht, weil man weiß, dass man mit Logik das Gegenüber nicht überzeugen wird, so muss man mit »Erwählten« nicht darüber reden, wer ein Rassist ist und wer nicht. Kurz: Erkenne ihre Schlagworte und geh!

McWhorter zufolge sind die »Erwählten« gekommen, um zu bleiben, weshalb man sie als religiöse Vertreter am Debattiertisch tolerieren solle. Man müsse ihnen aber ent­gegentreten, wenn sie für sich beanspruchten, gesellschaftlich richtungsweisend zu sein. Andere dann und wann als rassistisch zu beschimpfen, gehöre zur Methode der »Erwählten«. Das beeindruckt den schwarzen Linguisten aber kaum: »Aufgeklärte Menschen in den USA müssen sich – zusätzlich zu allem, was sie sonst noch hinbekommen sollten – daran gewöhnen, in aller ­Öffentlichkeit als Rassistinnen und Rassisten bezeichnet zu werden.«

John McWhorter: Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft ­spaltet, Hoffmann und Campe, Hamburg 2022, 255 Seiten, 23 Euro