Ein Gespräch mit Lamine Sarr über das Volksbegehren für das Bleiberecht von Migranten in Spanien

»Das Dasein als Straßenhändler ist sehr hart«

Begehren zu bleiben. Lamine Sarr vom Sindicato Top Manta, einem selbstorganisierten Kollektiv von Straßenhändlerinnen und -händlern ohne Bleiberecht in Barcelona, spricht über das von zahlreichen Organisationen vorbereitete Volksbegehren für die Legalisierung von Migranten und Flüchtlingen in Spanien.
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Wie sind Sie und das Kollektiv Sindicato Top Manta mit anderen Organisationen auf die Idee gekommen, mit einem Volksbegehren ein Bleiberecht für Migranten durchzusetzen?

Nachdem der Vorstoß über einen par­lamentarischen Initiativantrag (auf Spanisch proposición no de ley, PNL, zu Deutsch etwa: Antrag ohne Gesetzeskraft), der von über 1 200 Organisationen unterstützt worden war, an den Gegenstimmen und den Enthaltungen, auch in der sozialdemokratischen ­Arbeiterpartei PSOE, gescheitert war, war das Volksbegehren die logische Konsequenz, um unser Ziel zu erreichen, endlich legal in Spanien leben zu dürfen, mit Gesundheitsversorgung, Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zu ­Sozialleistungen. Die Idee kam zu Beginn der Covid-19-Pandemie auf, als bestimmte Parteien (insbesondere die rechtsextreme Partei Vox, aber auch die rechtskonservative Volkspartei PP, Anm. d. Red.) uns als Verantwortliche für die Pandemie hinstellten und regelrecht Hetze betrieben, aus der Notwendigkeit heraus, dass auch wir Migranten ärztliche Hilfe brauchen, bis hin zu Krankenhausaufenthalten. Hinzu kam, dass wir Straßenhändler gänzlich ohne Einkommen auskommen mussten, keine Hilfe bekommen haben außer Lebensmittelspenden von Sozial- und Hilfsorganisationen.

»Exakte Zahlen gibt es nicht, aber wir schätzen, dass 500 000 bis 600 000 Menschen zurzeit ohne Bleiberecht in Spanien leben und arbeiten, viele davon seit mehreren Jahren.«

Wer ohne Bleiberecht in Spanien lebt oder keinen festen Wohnsitz hat, kann auch kein Bankkonto eröffnen, um für schlechte Zeiten Ersparnisse anzulegen – ganz zu schweigen davon, dass er oder sie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe bekäme. Aber nach dem Scheitern der PNL haben wir uns nicht zurückgelehnt, sondern mit dem aktuellen Vorstoß des Volksbegehrens daran angeknüpft. Dafür brauchen wir 500 000 Unterschriften bis Mitte September. Dann muss der Vorschlag für ein Referendum im Par­lament behandelt werden.

Die Unterschriftensammlung für das Volksbegehren läuft erst seit Mitte Februar, immerhin über 40 000 Personen haben bereits unterschrieben. Die halbe Million ­Unterschriften scheint erreichbar. Die linke Regierungskoalition aus PSOE und Unidas Podemos verfügt im Parlament aber nicht über eine Mehrheit. Wie groß ist die Chance, dass der Vorschlag im Parlament angenommen wird?

Uns bleibt nichts anderes übrig, als optimistisch zu bleiben. Mit der linken Regierung, die wir derzeit haben, haben wir wohl die einmalige Chance, dass unsere Anliegen ernst genommen und auch umgesetzt werden. Wir alle haben ja auch in diesen tragischen Tagen nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs gesehen, dass ein anderer Umgang mit Flüchtlingen möglich ist, sogar rasch und unkompliziert. Was für die fliehenden Menschen aus der Ukraine gilt, das sollte auch für all jene gelten, die Europa aus anderen Krisen- und Kriegsgebieten erreicht haben oder aus anderen Gründen, seien es politische oder wirtschaftliche, aus der Misere geflohen sind.

Spanien ist ja bereits einmal mit Flüchtlingen anders umgegangen. Die Regierung unter Minister­präsident José Luis Rodríguez Zapatero (PSOE, 2004 bis 2011) hatte über 800 000 Migrantinnen und Migranten Bleiberecht gewährt, im Zuge der Familienzusammenführung weiteren rund 400 000 Menschen. Nun erreichen uns Bilder von Migranten aus dem subsaharischen Afrika, die am Grenzwall von Melilla von der Polizei verprügelt oder in illegalen »Pushbacks« direkt nach Marokko überstellt werden, aus der Ukraine zudem Videos, die Gewalt und Schikanen gegen aus der Ukraine flüchtende Menschen nichtweißer Hautfarbe zeigen.

Es ist eine unglaubliche und untragbare Heuchelei, die Europa hier an den Tag legt. Natürlich muss ein jeder, der zur Flucht gezwungen wird, aufgenommen werden und Hilfe bekommen. Was den afrikanischen Kontinent betrifft, hat Europa anscheinend vergessen, dass die Krisen und Kriege und humanitären Katastrophen nicht zuletzt auch dar­auf fußen, dass man einen ganzen Kontinent unterworfen, seine Rohstoffe geplündert, seine Menschen versklavt und zudem autokratische, diktatorische Regierungen an die Macht gebracht hat, die den wirtschaftlichen Interessen Europas dienlich sind. Man darf aber auch all die Menschen nicht vergessen, die aus Syrien oder dem Irak geflohen sind. Sie sitzen jetzt in der Türkei oder Griechenland fest und kommen keinen Schritt weiter. Warum? Nur weil sie keine Europäer sind! Das ist eine Schande. Tagtäglich sterben Menschen beim Versuch, nach Spanien zu gelangen, und andernorts an den Grenzen der »Festung Europa«, sie ertrinken auf dem Weg zu den Kanaren, im Mittelmeer oder ziehen sich an den Grenzwallanlagen von Ceuta und Melilla schwerste Verletzungen zu. Es scheint, als wären wir für Europa keine menschlichen Wesen; das sind für Europäer eben nur Europäer. Genau das ist das Problem.

Wie viele Menschen könnten nach einem Erfolg des Volksbegehrens in Spanien ein Bleiberecht erhalten?

Exakte Zahlen gibt es nicht, aber wir schätzen, dass 500 000 bis 600 000 Menschen zurzeit ohne Bleiberecht in Spanien leben und arbeiten, viele davon seit mehreren Jahren. Dabei machen wir Straßenhändler nur einen verhältnismäßig kleinen Teil aus. Die meisten arbeiten in der Landwirtschaft, wo sie ausgebeutet werden, aber auch als illegale Beschäftigte in der Betreuung von alten und pflegebedürftigen Menschen oder als Reinigungskräfte.

Wie steht es derzeit um das Sindicato Top Manta in der auslaufenden sechsten Welle der Covid-19-Pandemie?

Beim Sindicato Top Manta haben wir nie auch nur eine Sekunde Pause gemacht. Wir haben stets Projekte am Laufen, etwa unsere Top-Manta-Mode­linie mit unserer Schneiderei. Und das neben all der Unterstützung, die wir dem Kollektiv und anderen Bedürftigen bieten. Dazu kommt die gesellschaftliche und politische Arbeit, damit wir unser Volksbegehren starten konnten.

Hat sich die Situation der Straßenhändler im Verlauf der Pandemie ökonomisch wieder etwas gebessert?

Natürlich war es uns über die Zeit der »harten Lockdowns« ab März 2020 unmöglich, unserer Arbeit auf den Straßen und Plätzen nachzugehen. Aber auch derzeit ist es sehr schwer, einerseits wegen der weit höheren Präsenz der Polizei, die die Straßenhändler stets besonders im Auge behält, auf der anderen Seite trifft auch uns das Ausbleiben der Touristen, die Barcelona sonst in Millionen besuchen. Das Dasein als Straßenhändler ist nach wie vor sehr hart.

Hat sich die Stimmung gegenüber Migranten in Spanien verschlechtert im Laufe der Pandemie und mit dem Erstarken der Partei Vox?

Der Rassismus war immer da und ist allgegenwärtig. Dass er wegen der Pandemie und Vox stärker geworden ist, würde ich nicht sagen. Die Ressentiments gegen uns sind gleich geblieben. Es scheint, als wäre das etwas Natürliches und gesellschaftlich Normales in Europa.

Haben Sie sich beim Sindicato Top Manta Möglichkeiten überlegt, wie Sie ukrainischen Flüchtlingen helfen können, wohl wissend, dass Sie selbst um das wirtschaftliche Über­leben kämpfen?

Wir wollen helfen und geben, was wir können. Das ist in erster Linie natürlich unsere Solidarität, aber auch Nahrungsmittel und Kleidung, Dinge des täglichen Bedarfs, die den Flüchtenden fehlen und die wir bereitstellen können. Von ökonomischer Seite fehlen uns aber schlichtweg die Mittel. Wir haben hier in Spanien Menschen, denen wir helfen müssen, die seit über 15 Jahren hier leben, die sich zumindest ökonomisch in einer schlimmeren Situation befinden als manche derjenigen, die aus der Ukraine fliehen. Und die ebenso mit den Traumata des Erlebten, in der Heimat oder auf der Flucht, zu kämpfen haben.

Haben Sie Kontakt zu afrikanischen Flüchtlingen, die an der ukrainisch-polnischen Grenze festsitzen?

Ja, wir stehen in Kontakt mit Menschen aus Afrika, die aus der Ukraine fliehen. Erst vergangene Woche haben wir ein Video von einem unserer Kontakte, ­einem Freund von mir, auf unserem Instagram-Account veröffentlicht. Es ist eine Katastrophe, wie man mit ­ihnen an der ukrainisch-polnischen Grenze verfährt. Einfach unmenschlich ist das.

 

Lamine Sarr

Lamine Sarr ist Vorsitzender des Sindicato Top Manta, eines selbstorganisierten Kollektivs von Straßenhändlerinnen und -händlern ohne Bleiberecht im spanischen Barcelona. Zudem ist er Mitinitiator des Volksbegehrens #Esenciales (#Überlebenswichtige, bezogen auf ­wichtige Arbeitskräfte), mit dem das Bleiberecht für bis zu 600 000 Migranten und Flüchtlinge erreicht ­werden soll. Sarr lebt seit über 15 Jahren in Spanien.