Die zögerliche Reaktion auf die russische Aggressionspolitik rächt sich nun

Tödliches Zögern

Wegen der zuvor zaghaften Reaktion auf die russische Expansionspolitik haben die westlichen Staaten nun wenige Optionen.
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Derzeit kursieren zahlreiche mehr oder minder passende Vergleiche der Ukraine-Invasion mit anderen Kriegen, selten aber wird der für die Analyse des russischen Vorgehens signifikanteste genannt: der zweite Tschetschenien-Krieg 1999/2000, dem neun Jahre Guerillakrieg folgten. Bei der knapp sechswöchige Belagerung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny gingen der Erstürmung Artilleriebeschuss und ein Flächenbombardement voraus, kaum ein Haus blieb unbeschädigt. Bereits damals schossen russische Truppen auf flüchtende Zivilisten, die sie zuvor zum Verlassen der Stadt aufgefordert hatten. Obwohl eine Nachrichtensperre besser durchgesetzt werden konnte als heute, gelangten die derzeit erneut zu beobachteten Schwächen der russischen Armee an die Öffentlichkeit: mangelnde Kampfbereitschaft insbesondere der Wehrpflichtigen, schlechte Ausrüstung und Planung, chaotische Logistik.

Im zweiten Tschetschenien-Krieg wurden 25 000 bis 80 000 Zivilisten getötet, etwa 500 000 der rund 1,2 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner flohen, meist in andere Gebiete Russlands. Mit diesem Krieg, dem eine Kampagne von fake news und dubiosen Geheimdienstoperationen vorausgegangen war, wurde der damalige Ministerpräsident Wladimir Putin der russischen Öffentlichkeit als erfolgreicher Feldherr vorgestellt und ins Präsidentenamt gehievt. Bereits das hätte misstrauisch stimmen sollen, man hätte den neuen Präsidenten ja auch mit einem Sozialprogramm antreten lassen können. Wenngleich es anders als im Fall des ukrainischen Widerstands damals keinen Grund gab, sich mit den tschetschenischen Jihadisten zu solidarisieren, die gegen Russland kämpften, war die westliche Toleranz für die Brutalität der russischen Kriegführung ein erstes Zeichen für den neuen Machthaber, dass man ihn gewähren lassen würde.

Im Westen ging man fast einhellig davon aus, dass der neue »starke Mann« allein den russischen Staat ordnen und zentralisieren sollte, was vor allem bedeutete, die damals politisch sehr umtriebigen Oligarchen unter Kontrolle zu bringen. Ob es bereits lang­fristige Expansionspläne gab, ist unklar. Entsprechende Äußerungen Putins, der etwa 2005 den Zerfall der Sowjetunion als »die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnete, wurden als Propaganda für den innenpolitischen Gebrauch abgetan. Der Georgien-Krieg 2008 galt nicht als Warnsignal, da die ersten Schüsse von georgischer Seite abgefeuert worden waren.

Spätestens mit dem Angriff auf die Ostukraine und der Annexion der Krim 2014 hätte jedoch klar sein müssen, dass Russland territoriale Expansion anstrebt. Doch man schloss Verträge, die auf russischen fake news beruhen; Russland gilt in den Minsker Abkommen zur Befriedung der Ostukraine nicht als Kriegspartei, sondern als Garantiemacht. Damals hätten harte Wirtschaftssanktionen zwar wohl keinen Rückzug erwirkt, aber abschreckende Wirkung im Hinblick auf zukünftige Aggressionen entfaltet. Die wirtschaftliche Kooperation mit Russland wurde in vielen Bereichen jedoch noch verstärkt, so etwa die strategische Partnerschaft in Energiesektor zwischen Deutschland und Russland unter anderem mit dem Bau der Pipeline Nord Stream 2.

Nunmehr sind die Optionen der westlichen Staaten begrenzt, wenn sie keine nukleare Konfrontation riskieren wollen. Viele der nun vorgeschlagenen oder beschlossenen Maßnahmen sind, wie die für die Bundeswehr vorgesehenen 100 Milliarden Euro, eher ideologische Überkompensation vorheriger Inkonsequenz, als dass sie dem ukrainischen Widerstand nützen würden – und sie verdecken, dass man insbesondere, aber nicht nur in Deutschland noch immer nicht bereit ist, die Geschäfte mit Russland zu beenden. Und nach einer Schamfrist dürften die Stimmen derer lauter werden, die eine baldige Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen fordern.