Der »Freedom Day« naht, doch das Virus hat andere Pläne

Das Thema ist durch

Am Sonntag sollen die meisten Maßnahmen zum Infektionsschutz wegfallen. Es gibt nur ein Problem: Die Infektionszahlen sind so hoch wie nie zuvor.
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Wie desolat die öffentliche Diskussion über die Covid-19-Pandemie in letzter Zeit verlief, erkennt man daran, dass jemand wie Markus Söder (CSU) sich als Stimme der Vernunft geben konnte. »Wenn es nach dem Willen der Ampel geht, ist Corona ab nächster Woche Geschichte. Aber das ist doch nicht die Realität.« Das sagte der bayerische Ministerpräsident am Wochenende – eine Woche vor jenem Termin, der von der Regierung zwar nicht als »Freedom Day« beworben wird, aber faktisch genau das sein soll. Am 20. März sollen die meisten Coronaschutzmaßnahmen auslaufen. Die Maskenpflicht in Schulen, in der Gastronomie und im Einzelhandel soll wegfallen, ebenso die Pflicht der Arbeitgeber, wo immer möglich Homeoffice anzubieten. Einzelne Bundesländer sollen nur noch im Notfall lokale und regionale Verschärfungen der Schutzmaßnahmen beschließen können.

Der 20. März wurde als Termin nicht mit wissenschaftlicher Expertise gewählt, es dürfte sich nicht zufällig um den kalendarischen Frühlingsanfang handeln. Das Signal ist klar: Es ist vorbei – der Winter, die Omikron-Welle, eigentlich die ganze Pandemie. Nur will die Realität dabei nicht mitspielen. Vergangene Woche war die Infektionszahl mit mehr als 250 000 Neuinfektionen an einem Tag so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Pandemie. Am Dienstag teilte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mit, es seien noch Änderungen am Entwurf des neuen Infektionsschutzgesetzes möglich, das am Freitag beschlossen werden soll. Lauterbach hatte freilich schon einige Tage zuvor gewarnt, die Pandemie sei noch nicht vorbei, deshalb könne es »keinen Freedom Day« geben – während seine Regierung genau das anstrebte. Die Coronapolitik der Ampelkoalition wird anscheinend vor allem von der FDP bestimmt, eine grundlegende Kursänderung ist wohl kaum zu erwarten.

De facto wird es wohl eine langsame »Durchseuchung« geben; nicht jeder wird an Corona erkranken, aber alle müssen damit rechnen – auch die, für die es wirklich gefährlich ist. Dieses Risiko wird achselzuckend hingenommen. Die Verantwortung dafür sollte man jedoch nicht, wie manche Linke das gerne tun, einfach der Macht von Wirtschaftsinteressen zuschreiben. Die Ampelkoalition würde diesen Kurs kaum einschlagen, ginge sie nicht davon aus, dass ihre Wählerinnen und Wähler es sich so wünschten. Bei Umfragen hat zwar im Februar noch eine Mehrheit angegeben, die Coronamaßnahmen seien angemessen, aber ob das genauso viele über den März hinaus auch noch so sehen würden, ist fraglich; bereits im Fe­bruar stieg der Anteil derjenigen, die sagten, die Maßnahmen gingen zu weit, auf 31 Prozent.

Man kann es den Menschen auch kaum verdenken – wer hat nicht die Nase voll von all den Einschränkungen? Auch eine höhere Impfquote würde die Pandemie wohl nicht beenden. Derzeit sterben noch mehr als 200 Menschen täglich an Covid-19, aber das Gesundheitssystem hält es aus – der komplette Zusammenbruch droht nicht. Vor allem aber scheint niemand so genau zu wissen, was es langfristig für eine Alternative zum derzeit eingeschlagenen Kurs geben könnte. Kaum jemand vertritt noch »Zero Covid« als praktische Option, also die Forderung nach einem wirklich harten Lockdown, der dauerhaft die Infektionszahlen senken würde. Was aber wäre die Alternative zu dem Kurs der langsamen Durchseuchung, den die Regierung nun mit großem Rückhalt in der Bevölkerung einschlägt? Dass auch die kommenden Winter wieder »Corona-Winter« werden, also mit einschneidenden Maßnahmen, um die Inzidenzen niedrig zu halten? Das ist ein deprimierender Gedanke. Und eine politische Chance hätte dieser Kurs ohnehin kaum, man muss nur ins Ausland schauen, wo vielerorts bereits ein »Freedom Day« ausgerufen wurde – es gibt viele Argumente, mit denen man sich einreden kann, dass man eigentlich nur noch resigniert zuschauen kann.

Dass es vielen Menschen so leichtfällt, sich genau das einzureden, hat vielleicht einen ganz banalen, wenig schmeichelhaften Grund: Die Angst vor Covid-19 ist vielerorts weg. Die Maßnahmen der vergangenen zwei Jahre konnten vielleicht auch deshalb politisch durchgesetzt werden, weil die Mehrheit der Bevölkerung schlicht Sorgen um die eigene Gesundheit hatte. Das ist inzwischen vorbei. Wer zu keiner Risikogruppe gehört und dreimal geimpft ist, und wer dann sogar schon Covid-19 hatte – wie es inzwischen ja unzähligen Menschen passiert ist – oder im Umfeld erlebt hat, dass eine Covid-19-Erkrankung für einen geimpften, gesunden Menschen nur unan­genehm, aber zumindest nicht akut gefährlich ist, der fürchtet sich nicht mehr vor dieser Krankheit. Damit haben die meisten, wenn man ehrlich ist, mit dem Thema größtenteils abgeschlossen. Es wächst dann die Ungeduld, dass alle anderen das endlich auch tun, auch die, die weiterhin aus guten Gründen Angst haben. Deren Ansprüche stören nur noch. Das Thema Corona ist durch und jeder muss nun selbst schauen, wo er bleibt – ab jetzt zählt wieder die »Eigenverantwortung«, wie es Andrew Ullmann (natürlich FDP) am Dienstag forderte.