Putins Herrschaft wird oft als Zeit der Stabilität beschönigt

Dauerhafte Gewalt

Die Brutalisierung des russischen Regimes und seiner Methoden hat sich nicht über Nacht vollzogen. Auch das Scheitern der demokratischen Opposition hat eine lange Vorgeschichte.
Disko Von

Nach einer Katastrophe oder gesellschaftlichen Krise drängt sich unweigerlich die Frage auf, wie es so weit kommen konnte. Russlands Position in einer sich verändernden Weltordnung oder die Auswirkungen der Nato-Osterweiterung zu analysieren, liefert sicher wertvolle Erkenntnisse, um die fatale Ukraine-Offensive des Kreml zu erklären. Aber es ist auch sinnvoll, die innere Verfasstheit Russlands genauer zu untersuchen und skizzenartig einige Ereignisse zu rekapitulieren, die in den westlichen Ländern weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein scheinen.

Schiefgelaufen ist im postsowjetischen Russland so manches. Nur zur Erinnerung: Im Herbst 1993 löste der damalige Präsident Boris Jelzin zunächst das Par­lament auf. Als dieses sich verweigerte, ließ er wenig später den Sitz des Obersten Sowjets vom Militär beschießen. Damals kam es nicht zu einem Bürgerkrieg. Aber es blieben keine Zweifel daran, wie sich die inzwischen nominal demokratische russische Führung den Umgang mit einer Opposition vorstellte, sollte diese sich nicht als handzahmes Anhängsel der neuen Nomenklatura instrumentalisieren lassen. 1996 gewann Jelzin die Präsidentschaftswahl ein weiteres Mal, nicht zuletzt aufgrund der eilig beschlossenen Auszahlung hoher Lohnrückstände. Bevor er Ende des Jahrzehnts in Rente ging, hatte Jelzin Wladimir Putin zu seinem Nachfolger bestimmt, der 1999 Ministerpräsident und im folgenden Jahr Präsident wurde.

Putins Regierungszeit wird gerne mit dem verharmlosenden Wort Stabilität umschrieben, tatsächlich ist es die unrühmliche Geschichte eines ununter-brochenen Ausnahmezustands.

Damit setzte eine bis heute andauernde Phase ein, die gerne mit dem verharmlosenden Wort »Stabilität« umschrieben wird, tatsächlich aber nichts anderes ist als die unrühmliche Geschichte eines ununterbrochenen Ausnahmezustands. Der Beginn des mit großer Brutalität geführten zweiten Tsche­tschenien-Kriegs, durch den sich gewaltvolle Polizeipraktiken in den folgenden Jahren über das ganze Lande ausbreiteten, fiel zusammen mit Putins Aufstieg vom Leiter des Inlandsgeheimdiensts zum Ministerpräsidenten im August 1999. Wenige Wochen nach seiner Amtseinführung, im September, kamen bei Explosionen in Wohnhäusern in Moskau, Wolgodonsk und Bujnaksk mehr als 300 Menschen ums Leben. Es wurde nie eindeutig geklärt, wer hinter den Anschlägen steckte, doch im damals noch von sogenannten Oligarchen betriebenen Fernsehen durfte, anders als heutzutage, noch darüber diskutiert werden, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Auch über hochverdächtige Indizien für eine missglückte Geheimdienstoperation in Rjasan, die der damalige Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, Nikolaj Patruschew, im Nachhinein als »Übung« bezeichnete. Dort war im Keller eines weiteren Wohnhauses Sprengstoff entdeckt worden.

Als im Oktober 2002 der FSB versuchte, Geiseln islamistischer tschetschenischer Terroristen in einem Moskauer Musicaltheater zu befreien, starben 130 Menschen an einer Gasvergiftung. Die Behörden haben die genaue Zusammensetzung des vor der Stürmung zur Überwältigung der Geiselnehmer eingesetzten Gases nie öffentlich gemacht. Im September 2004 starben nach einer weiteren Geiselnahme durch nordkaukasische Terroristen in einer Schule in Beslan über 300 Menschen. Wie viel dem russischen Staat ein Menschenleben wert ist, ließ sich nicht nur an den hohen Opferzahlen bei den Befreiungen festmachen, sondern auch an den intensiven Bemühungen, die Aufarbeitung weitestmöglich zu behindern. Solche Gewalterfahrungen bleiben für lange Zeit im Gedächtnis der Öffentlichkeit. Repression gab es auch in der unabhängigen Ukraine, aber nie in einem vergleichbaren Ausmaß.

Nur wenig später, im Jahr 2004, schreckte die sogenannte Orangene Revolution in der Ukraine den russischen Machtapparat auf. Bezeichnenderweise trafen die Ereignisse des ersten Maidan in der russischen Gesellschaft auf eher verhaltene Neugier. Peter Korig vertrat an dieser Stelle die Ansicht, die Welle der sogenannten Farbenrevolutionen sei vor allem deshalb nicht auf Russland übergeschwappt, weil der Kreml einige von deren Zielen bereits erreicht hatte, beispielsweise die pünktliche Auszahlung von Löhnen und Gehältern. Tatsächlich stand es damit in Putins erster Amtszeit besser als in den wilden neunziger Jahren, doch gelöst war das Problem bei weitem nicht. Zeitweilig wuchsen sogar wieder Rückstände an.

Größere Proteste fanden in Russland allerdings durchaus statt – auch wenn diese von der Linken im Westen kaum beachtet wurden. Dass sie die Dimension eines »Euromaidan« nicht erreichten, hat eine Reihe von Gründen, wobei die Furcht vor blutigen Konsequenzen immer mitschwang. Nicht zuletzt lag es auch an den antisozialen Zielen der liberalen russischen Opposition. Als 2005 landesweit Rentnerinnen und Rentner wegen Putins Sozialreformen fast buchstäblich auf die Barrikaden gingen – im sibirischen Tomsk stürmten sie die Stadtverwaltung –, blieben die politisch damals noch nicht komplett demontierten demokratischen Kräfte weitgehend stumm.

Deren große Stunde schlug erst nach den Parlamentswahlen im Dezember 2011 und den darauffolgenden Massenprotesten für faire Wahlen, wobei es ihnen vorrangig um ihre Reintegration in politische Entscheidungsprozesse ging. Sobald die Forderungen der oppositionellen Bewegung drohten, auf Bestreben linker und gewerkschaftsnaher Gruppen hin sich um sozioökonomische Inhalte zu erweitern, erklärten die liberalen Meinungsführer die Proteste für beendet. Einzig Boris Nemzow, der in den neunziger Jahren reichlich politische Erfahrung gesammelt hatte, erkannte damals die Sprengkraft sozialer Forderungen und Proteste. 2015 wurde er unweit der Kremlmauern ermordet.

Aleksej Nawalnyj mit seinem Antikorruptionsprogramm entwickelte zwar ein beachtliches Mobilisierungspotential, aber gegen Putins Herrschaftsmodell des kontrollierten Ausnahmezustands kam auch diese Protestbewegung nicht an. Der Machtwechsel in der Ukraine 2014 entzog dem Kreml fast alle bislang erprobten Einflussmöglichkeiten auf den Nachbarn, weshalb Putin mit der Annexion der Krim und dem Anfachen separatistischer Bestrebungen im Donbass einen weiteren gewagten Schritt Richtung Eskalation ging. Mit der Krim scheffelte er zudem Punkte an der ideologischen Heimatfront, denn ein Großteil der russischen Bevölkerung ließ sich in ihrer trägen Politikabstinenz von dem geschickt inszenierten Manöver beeindrucken.

Das Fatale an Putins Vorgehen ist, dass jedes Zugeständnis und jeder Rückschritt hinter bereits Erreichtes als Schwäche gedeutet würde. Wie seinerzeit Jelzin musste Putin sich außerdem mit dem Gedanken beschäftigen, seine Zukunft und seine Nachfolge zu regeln. In einer Blitzaktion ließ er im ersten Pandemiesommer 2020 die Bevölkerung über eine Verfassungsänderung abstimmen, um weitere Amtszeiten absolvieren zu können. Gleichzeitig gab seine in den vergangenen zwei Jahren deutlich verminderte Präsenz in der Öffentlichkeit Anlass zu Spekulationen über einen eventuell bevorstehenden Machttransfer; anstelle des medial vermittelten Bildes eines weisen Präsidenten, der durch wohlinszenierte Staatslenkung imponiert, trat ein medial unspektakulärer Verwaltungsapparat, der offenbar auch ohne täglich im Fernsehen übertragene Anweisungen des Präsidenten seine Arbeit erledigte. Nun aber ist an einen baldigen Altersruhestand des 69jährigen Putin nicht mehr zu denken.

Es ist ein gerne kolportierter Irrtum, dass Putin versuche, die Sowjetunion wiederherzustellen, und sei es unter dem Vorzeichen einer »russischen Welt«, also einer von Russland kontrollierten Einflusszone. Zwar versucht er, an der Peripherie einzusammeln, was sich einsammeln lässt, ein Gebilde mit einem gemeinsamen Zukunftskonzept entsteht daraus nicht. In Putins Vorstellung führt er als Herrscher einer Großmacht schon längst einen Verteidigungskrieg gegen die vordrängenden USA, mit der Ukraine als Schlachtfeld. Über die Jahre wurde es immer dringlicher, Sicherheitsgespräche mit den USA wiederaufzunehmen, aber Putin hat durch sein Vorgehen in der Ukraine die Grundlage dafür zerstört. Man kann darüber spekulieren, ob sich der jetzige Krieg durch eine aufrichtige Verhandlungsbereitschaft der USA hätte vermeiden oder aufschieben lassen. Doch wäre selbst nach einem Waffenstillstand, über den Russland mit der Ukraine gerade verhandelt, die Gefahr eines möglichen Folgekriegs nicht gebannt.

Moralisch betrachtet wäre es für einen zukünftigen Dialog mit der Ukraine und die Beziehungen der zwei Länder existentiell wichtig, dass die russische Antikriegsbewegung stärker würde, doch für die Haltung des Kremls bliebe diese ohnehin unwahrscheinliche Entwicklung vermutlich bedeutungslos. Auch schert sich der Putin wenig um die Meinung der unter Jelzin reich, und unter ihm selbst noch reicher gewordenen Oligarchen. Anders als die konservative Führungsschicht in den Militär-, Geheimdienst- und anderen staatlichen Apparaten halten diese mit ihrem Missmut über Putins Alleingang immerhin nicht hinter dem Berg. Doch selbst wenn es im Apparat langsam zu brodeln beginnen sollte, bleibt nur zu hoffen, dass Putins Streitkräfte eine Niederlage erleiden und das Reservoir, aus dem er seine Ideen schöpft, im Schmelzwasser der nordsibirischen Permafrostböden versinkt.