Die Versorgung der Geflüchteten aus der Ukraine überfordert die Sozialämter in Berlin

Flucht in den Behördendschungel

Mehr als 200 000 Menschen sind bislang aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Während die Sozialämter in Berlin es derzeit kaum schaffen, die Unterstützungsanträge der Geflüchteten zu ­bearbeiten, ist immer noch offen, ob und wie die Geflüchteten auf die Bundesländer verteilt werden sollen.

Die meisten der mehr als drei Millionen bislang aus der Ukraine geflohenen Menschen halten sich derzeit in den Nachbarländern Polen, Slowakei, Rumänien, Ungarn und Moldau auf. Die Nähe zum Herkunftsort und zu dort verbliebenen Familienangehörigen und die Möglichkeit, bei Verwandten unterzukommen, die schon seit längerem als Arbeitsmigranten in diesen Ländern leben, dürften dafür ausschlaggebend sein. Zudem dürften ­Ukrainerinnen und Ukrainer auch einen leichteren Zugang zu den in Polen, der Slowakei und Moldau gesprochenen Sprachen haben. Es zeigt sich auch am Beispiel der Ukraine ein Muster, das für Fluchtbewegungen im Falle von Kriegen sowie Naturkatastrophen typisch ist: Menschen bringen sich zunächst in benachbarten Ländern in Sicherheit, oft in der Hoffnung auf baldige Rückkehr.

Die etwas mehr als 200 000 Menschen, die bis Ende der vergangenen Woche aus der Ukraine, größtenteils über Polen, nach Deutschland gekommen sind, sind somit nur ein kleiner Teil der durch den Krieg ausgelösten Migrationsbewegung. Für die meisten von ihnen ist Berlin der erste Anlaufpunkt in Deutschland. Das liegt vor ­allem daran, dass dort die meisten Züge und Busse enden, mit denen sie von Polen aus westwärts reisen. Um Berlin zu entlasten, sollen ab dieser Woche Sonderzüge aus Polen auch ins brandenburgische Cottbus fahren. Dort soll neben Berlin und Hannover das dritte Drehkreuz zur Verteilung der Geflüchteten entstehen.

Im Gegensatz zu Asylsuchenden sind Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine nicht verpflichtet, in Sammelunterkünften zu leben. Allerdings dürfte vielen nichts anderes übrigbleiben.

Ob dadurch das Bundesland Berlin deutlich entlastet wird, ist zweifelhaft. Denn dorthin zieht viele auch die Hoffnung, in der Stadt mit ihrer großen postsowjetischen Diaspora leichter Fuß zu fassen. Damit sind aber sowohl die städtische Verwaltung als auch die ehrenamtlichen Gruppen überfordert, von denen einige spontan entstanden sind, während andere auf in den vergangenen Jahren entstandene Netzwerke zur Unterstützung von Geflüchteten zurückgehen.

Die Sozialämter in Berlin schaffen es derzeit kaum, die Unterstützungsanträge der aus der Ukraine Geflüchteten zu bearbeiten. Die Kommunikation der Senatsverwaltung mit ehrenamtlichen Helferinnen wie auch mit den Bezirken wird als ungenügend kritisiert. So sagte der Bezirksstadtrat für Soziales von Berlin-Neukölln, Falko Liecke (CDU), Ende der vergangenen Woche dem RBB: »Das ist abenteuerlich, es ist einfach nicht klar, wo man sich regis­triert. Die Bürgerinnen und Bürger, die helfen wollen, werden mit mangelnden Informationen alleingelassen.« Auch die Frage der langfristigen Versorgung der Schutzsuchenden mit Wohnraum ist ungeklärt.

Die Sorge über einen drohenden staatlichen »Kontrollverlust«, die zuletzt beispielsweise der Landesgruppenchef der CSU im Bundestag, Alexander Dobrindt, zum Ausdruck brachte, sei jedoch eine »Überdramatisierung«, sagt der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, Günter Burkhardt, im Gespräch mit der Jungle World. »Dramatisch ist die Situation der aus der Ukraine Geflohenen, die Hals über Kopf fliehen mussten und ihr Zuhause verloren haben. In so einer dynamischen Situation ist es normal, dass Probleme schrittweise gelöst werden müssen.« Die Fixierung auf die bürokratischen und technischen Probleme, die sich aus der sprunghaften Entwicklung der vergangenen Wochen ergäben, verstelle den Blick darauf, dass für die Betroffenen einige grundsätzlich sehr positive Entscheidungen gefallen seien, so Burkhardt. »Tatsächlich hat die Bundesregierung einiges besser gemacht als 2015, die Menschen werden nicht in ein individuelles Asylverfahren gezwungen, ihnen wird eine aufenthaltsrechtlich gesicherte Ruhepause gewährt. Familiäre Bezüge, die für das Ankommen entscheidend sind, werden besser berücksichtigt.«

Im Gegensatz zu den Menschen, die 2015 über die Balkanroute kamen, müssen die derzeit Flüchtenden nicht individuell Asyl beantragen und ihre Fluchtgründe darlegen. Der Nachweis, aus der Ukraine zu kommen, genügt, um erst einmal für ein Jahr einen Aufenthaltstitel zu erhalten. Das ist möglich, weil der Rat der Europäischen Union am 3. März einstimmig die Richtlinie 2001/55/EG aktiviert hat, deren sperriger Titel »Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten« zumeist mit »Massenzustromrichtlinie« abgekürzt wird. Diese wurde 2001 in Reaktion auf die durch die jugoslawischen Zerfallskriege ausgelösten Fluchtbewegungen geschaffen, allerdings bislang noch nie angewandt. Sie ermöglicht die Aufnahme einer Vielzahl von Menschen in den Mitgliedstaaten der EU, ohne dass individuelle Antragsverfahren durchlaufen werden müssen. Nach dem Beschluss des Rats der Europäischen Union gilt dies nicht nur für ukrainische Staatsangehörige, sondern auch für Bürgerinnen und Bürger anderer Staaten oder Staatenlose, die als anerkannte Flüchtlinge in der Ukraine lebten oder die eine unbefristete ukrainische Aufenthaltserlaubnis haben und denen es nicht möglich ist, »sicher und dauerhaft« in ihr Herkunftsland zurückzukehren.

Günter Burkhardt von Pro Asyl weist darauf hin, dass damit für zwei Gruppen von aus der Ukraine flüchtenden Menschen noch Regelungslücken bestünden. »Es braucht eine Lösung für Studierende aus Drittstaaten, die ihr Studium in Deutschland oder anderen EU-Staaten fortsetzen wollen. Anstatt diese vor die Wahl zwischen aussichtslosen Asylverfahren oder der Rückkehr ins Herkunftsland zu stellen, sollten sie die Möglichkeit erhalten, hier weiterzustudieren.« Ungelöst sei zudem die Situation sogenannter Transitflüchtlinge, die sich in der Ukraine aufgehalten hatten, dort noch nicht anerkannt waren und nun nach Deutschland weiterfliehen, so Burkhardt.

Den nach den Regelungen der »Massenzustromrichtlinie« aufgenommenen Menschen ist es erlaubt, sich in der EU frei zu bewegen und sich in einem Land ihrer Wahl niederzulassen. Dort steht ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt offen und sie haben das Recht, Familienangehörige nachzuholen. Die konkrete Ausgestaltung der Aufnahme überlässt die Richtlinie jedoch den Mitgliedstaaten. In Deutschland ist dafür der Paragraph 24 des Aufenthaltsgesetzes einschlägig. Aus diesem lässt sich ersehen, wie sich das weitere Verfahren zur Unterbringung gestalten dürfte. Nach den Bestimmungen dieser Vorschrift sind die Schutzsuchenden auf die Bundesländer zu verteilen, deren Behörden sie dann mittels »Zuweisungsentscheidungen« auf die Kommunen verteilen.

Im Gegensatz zu Asylsuchenden sind Kriegsflüchtlinge nicht verpflichtet, in Sammelunterkünften zu leben. Allerdings dürfte vielen nichts anderes ­übrigbleiben. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass Menschen, die dauerhaft von Familienangehörigen aufgenommen werden können oder selbst in der Lage sind, eine Wohnung zu finanzieren, dort bleiben dürfen. Aber auf viele wird das nicht zutreffen und gerade in Regionen, in denen es ohnehin an Wohnraum mangelt, dürften die Kommunen auf die Unterbringung in Sammelunterkünften zurückgreifen. Damit wurde in den vergangenen Tagen bereits begonnen.

Aus verschiedenen Regionen gebe es in diesem Zusammenhang Berichte darüber, so Burkhardt, dass in Sammelunterkünften lebende Asylsuchende aus Afrika und Asien in andere, zum Teil schlechter gelegene oder ausgestattete Heime verlegt würden, um Platz für Ukrainerinnen und Ukrainer zu schaffen. Dies sei nicht zu rechtfertigen. »Es darf jetzt keinen Verdrängungswettbewerb unter den Schwächsten geben«, sagt Burkhardt. »Sprach- und Integrationsmöglichkeiten, Schul­besuch, Arbeitsmöglichkeiten und soziale Bindungen, die in den vergan­genen Jahren hierher geflüchtete Menschen aufgebaut haben, dürfen nicht durch eine Zwangsumsiedlung zerstört werden.«

Mit den Schwierigkeiten, die Staat und Gesellschaft Migrantinnen in Deutschland machen können, werden sich in Zukunft wohl auch viele der heutigen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine auseinandersetzen müssen.