Im westukrainischen Lwiw leisten Linke selbstorganisiert Hilfe für Geflüchtete

Aktivismus für alle

Im westukrainischen Lwiw, wo täglich weitere Binnenflüchtlinge ankommen, helfen Linke in Selbstorganisation beim Aufbau humanitärer Hilfe. Die Stadt wird derweil immer häufiger Ziel von Angriffen der russischen Armee.
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Für Denis Pankratow, Serhij Sabakar und die anderen Mitglieder ihrer Wohngemeinschaft fängt der Tag mit ein paar Zigaretten, starkem Kaffee und dem Aufsetzen eines riesigen Topfs Haferbrei an. Der Brei ist nicht für sie selbst gedacht, sondern für die Binnenflüchtlinge in einer der Massenunterkünfte in Lwiw, wo sie derzeit leben. In der neuen, unwirklichen Wirklichkeit, die mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine vor über einem Monat ­begonnen hat, ist dies für sie alltäglich geworden.

Bis vor kurzem teilte sich Pankratow, der eigentlich bei einer Gewerkschaft arbeitet, die schöne, fast 100 Jahre alte Wohnung im konstruktivistischen Stil mit nur einer Mitbewohnerin. Die meisten seiner zurzeit zehn WG-Mitglieder sind selbst erst kürzlich als Flüchtlinge bei ihm eingezogen und wohnten vor dem russischen Einmarsch noch in anderen Städten. Sabakar etwa unterrichtete an der Nationalen Akademie der Bildenden Künste und Architektur in Kiew. Der große weiße Hund, der nun ebenfalls Zuflucht in der WG gefunden hat, ist seinen ursprünglichen Besitzern vermutlich auf der Flucht in den Straßen Lwiws abhandengekommen. Die WG hat ihn kurzerhand adoptiert.

»Ein Großteil dieser Mobilisierung ist eine Art Erbe der Selbst­organisation, die wir während der Maidan-Revolution 2014 erlebten.«
Serhij Sabakar, freiwilliger Helfer

Während der Brei langsam fertig wird, sitzt Pankratow am Tisch und starrt auf den Bildschirm seines Laptops. Sabakar ist am Telefon. Es herrscht eine Art chaotischer Ruhe. Details werden mit anderen freiwilligen Helfe­rinnen und Helfern abgesprochen, die neuesten Meldungen zum Kriegsverlauf diskutiert. Bisher ist Lwiw von den russischen Angriffen weitgehend ­verschont geblieben, wie lange das so bleibt, weiß allerdings niemand. Der Fliegeralarm heult in den vergangenen Wochen fast täglich. In den meisten Fällen war es falscher Alarm, am 18. März allerdings wurde eine Fabrikanlage am Stadtrand von Raketen getroffen. Auch am internationalen Flughafen der Stadt schlugen Raketen ein. Am vergangenen Wochenende erfolgten weitere Raketenangriffe auf militärische Einrichtungen in Lwiw, ein Treibstofflager der Armee und eine Reparaturan­lage für militärisches Gerät; mehrere Menschen wurden verletzt.

Klebeband und Haferbrei
Für den Fall, dass es einmal nahe genug krachen sollte, um die Scheiben zu zertrümmern, haben die Bewohnerinnen und Bewohner der WG sämtliche Fenster mit Klebeband überklebt. »Die Panzerfabrik liegt sechs Kilometer von hier«, murmelt einer der Mitbewohner gedankenversunken mit Blick auf Google Maps. Ob das ein beruhigend großer oder vielmehr beängstigend kurzer Abstand zu diesem potentiellen ­Angriffsziel sein soll, bleibt ungesagt.

Die Atmosphäre in der Stadt ist geprägt von Widersprüchen. Einerseits geht das Leben seinen Gang, Menschen spazieren gemächlich durch den weitläufigen Iwan-Franko-Park, die trendigen Restaurants in Lwiws Innenstadt haben geöffnet, städtische Angestellte reinigen die Straßen. Andererseits ist klar, dass Krieg herrscht. Alkoholverkauf ist verboten, ab 22 Uhr ist Ausgangssperre, mit Maschinengewehren bewaffnete Soldaten bewachen strategische Punkte und kontrollieren vereinzelt die Rucksäcke von Passantinnen und Passanten.

Als der Brei endlich fertig ist, wickelt Sabakar den Topf in ein Handtuch, trägt ihn runter, aus dem Haus zum Auto und verstaut ihn im Kofferraum. Hinter der Windschutzscheibe liegt ein blaues Schild mit gelben Großbuchstaben: »Freiwillige«. Auch andere Autos sind mit einem solchen Schild ausgestattet. In der ganzen Stadt, im ganzen Land wimmelt es von Privatfahrzeugen verschiedener Größe, die Hilfsgüter und Flüchtlinge hin- und hertransportieren. Vielerorts stehend improvisierte Schilder, die für diese Fahrzeuge reservierte Parkplätze ­markieren.

»Ein Großteil dieser ­Mobilisierung ist eine Art Erbe der Selbstorganisation, die wir während der Maidan-Revolution 2014 erlebten«, sagt Sabakar, während er das Auto durch den Vormittagsverkehr steuert. Ein paar Minuten später stellt er den Wagen vor dem Wohnheim Nummer sieben der Staatlichen Universität Lwiws ab. Dort sind rund 50 Binnenflüchtlinge untergebracht. Der Topf mit Haferbrei wird auf einen Tisch im Erdgeschoss gehievt, es bildet sich eine kleine Schlange hungriger Heimbewohnerinnen und -bewohner, Pankratow und Sabakar beginnen mit der ­Essensausgabe.

»Anfangs versorgten wir auch am Bahnhof die dort wartenden Flüchtlinge«, sagt Pankratow, während er Brei in Schüsseln löffelt und Sabakar diesen mit Obststückchen garniert. »Inzwischen ist der Bedarf dort aber halbwegs gedeckt, und wir konzentrieren uns nun stattdessen auf diese und eine weitere Massenunterkunft.« Die Heimbewohnerinnen und -bewohner bedanken sich mit einem müden Lächeln und murmeln »djakuju« oder »spasibo« – »danke« auf Ukrainisch und Russisch.

Die hier untergebrachten Menschen kommen aus verschiedenen Städten der östlichen und südlichen Ukraine, ältere Frauen und Männer, eine junge Mutter mit ein paar Kindern im Schlepptau. Manche wollen vorerst in Lwiw bleiben, andere sind auf der Durchreise und wollen weiter nach Westen, ins Ausland. Unter ihnen ist auch ein älterer US-Amerikaner mit zitternden Händen und vergilbtem Schnurrbart, der sich als Carl vorstellt. Er erzählt, er habe eine Beziehung mit einer Ukrainerin gehabt, die vor einigen Wochen im Krieg umgekommen sei. Nun wolle er sich rächen und die Russen bekämpfen, allerdings habe ihn die ukrainische Armee wegen mangelnder militärischer Erfahrung leider abgewiesen.

Große Solidarität
Nachdem der Brei verteilt ist, fährt Sabakar weiter zur nächsten Aktivisten-WG. Dort steht eine andere Truppe Freiwilliger und kocht Mittagessen für ein anderes Wohnheim. Unter ihnen ist Jaroslaw Futymskyj. Er ist Punk, Künstler, arbeitet gelegentlich auf dem Bau und wohnt seit vielen Jahren in Lwiw. »Küche für alle« (Küfa) ist für ihn nichts Neues, schon vor Jahren war er unter anderem in einer lokalen Food-Not-Bombs-Gruppe tätig. In der derzeitigen humanitären Krise wurde diese Erfahrung besonders wertvoll.

»Wir haben im Grunde sofort losgelegt und sind jetzt seit über drei Wochen aktiv«, erzählt Futymskyj, während er in einem großen Topf dampfenden Buchweizen umrührt. »Viele Freunde haben sich sofort gemeldet und wollten sich auch engagieren. Unser Kollektiv half ihnen mit Rat dazu, wie man gute Strukturen etablieren kann.« Er richtet seine Aufmerksamkeit auf einen Topf mit Pilzsuppe. Die Pilze haben lokale Bauern gespendet. Als Pilzsuppe und Buchweizen fertig sind, werden beide Gerichte in große Thermobehälter abgefüllt. Auf den Deckeln kleben Aufkleber mit Tierrechtsslogans. »Diese Behälter gehören der Ökologischen Plattform, einer lokalen antifaschistischen Umweltbewegung, die normalerweise samstags Obdachlosen vegetarisches Essen serviert«, erklärt Futymskyj. Die nun befüllten Behälter werden in Sabakars Auto verfrachtet, dann fährt er sie zu der Flüchtlingsunterkunft, für die sie vorgesehen sind.

»Ich war nie besonders optimis­tisch, aber irgendwie habe ich gerade mehr Hoffnung als je zuvor.« Jaroslaw Futymskyj, Punk, Künstler und freiwilliger Helfer

Die humanitäre Hilfe der WGs beschränkt sich nicht allein aufs Essenkochen. Da die Nahrungsmittelversorgung der Geflüchteten in Lwiw inzwischen relativ gut gewährleistet ist, haben Futymskyj und seine Mitbewohnerinnen und Mitbewohner angefangen, sich vermehrt auch auf andere Bereiche zu konzentrieren. »Zurzeit sind wir ­dabei, Wohnungen für Menschen zu organisieren, die vorhaben, erst einmal in der Stadt zu bleiben«, sagt Olja Marusin, die normalerweise im Bereich Graphikdesign arbeitet. »Wir wollen ihnen damit helfen, sich hier in der Stadt zu integrieren.«

Außerdem ist ihre Gruppe damit beschäftigt, Hilfstransporte in Gebiete zu organisieren, die vom Krieg schlimmer getroffen sind, wie etwa Charkiw. Dabei arbeitet sie mit polnischen Genossinnen und Genossen aus der Bewegung No-Borders-Team zusammen. Die Gruppen aus Lwiw schicken Listen benötigter Produkte, beispielsweise Nudeln, Tomatensoße, Medikamente, und bekommen, wenn alles nach Plan läuft, innerhalb von ein paar Tagen die gewünschten Waren zum Weitertransport geliefert.

Für die Freiwilligen ist die enorme Welle der Solidarität und des freiwilligen ­Engagements für fremde Menschen ein Hoffnungsschimmer. Auch viele gesellschaftlich bislang nicht ­aktive Mitbürgerinnen und Mitbürger beteiligen sich. Das macht den Grauen des Kriegs etwas erträglicher.

Futymskyj zufolge florieren in der derzeitigen Notversorgungsökonomie nichtkapitalistische Wirtschafts- und Verhaltensformen. Selbst auf institutionellem Niveau lässt sich ein solcher Prozess beobachten. Zugfahren zum Beispiel ist seit Beginn der Invasion im Prinzip kostenlos, Handynutzung ebenfalls. »Ich hoffe, es bleibt etwas davon übrig und führt am Ende auch zu etwas Gutem«, sagt er. »Ich war nie ­besonders optimistisch, aber irgendwie habe ich gerade mehr Hoffnung als je zuvor.«