Die Ziele der westlichen Staaten im Konflikt mit Russland sind unklar

Die Risiken des Wandels

Waffenlieferungen dürften die Ukraine befähigen, sich zu behaupten. Doch die westlichen Staaten haben keine Strategie für den Umgang mit Russland.

Die Bidenisms, an denen die US-Medien bereits viel Freude hatten, als der derzeitige Präsident noch Senator war, fallen in drei Kategorien. Manchmal verplappert sich Joe Biden (»Wir ziehen die Wahrheit den Fakten vor«), manchmal drückt er sich entgegen diplomatischen Regeln fucking offen aus und manchmal erzählt er etwas, das internen Beratungen vorbehalten sein sollte.

Nun wird eifrig darüber spekuliert, wie der jüngste Bidenism zu deuten ist. »Um Gottes Willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben«, sagte Biden am Samstag am Ende seiner in Polen gehaltenen Rede über den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Umgehend erfolgte die Klarstellung aus dem Weißen Haus, dass der US-Präsident keinesfalls einen regime change in Russland propagiere.

Tatsächlich dürfte es sich um den Stoßseufzer eines gestressten Präsidenten und nicht um die unfreiwillige Enthüllung eines Plans gehandelt haben. »Wir haben keine Strategie für regime change in Russland oder irgendwo sonst«, sagte US-Außenminister Antony Blinken. Die Nordkorea-Politik bestätigt das. Es geht um Eindämmung, und es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die US-Politik gegenüber Russland, das über weitaus mehr und gefährlichere Atomwaffen verfügt, ein anderes Ziel verfolgt.

Der bisherige Kriegsverlauf lässt darauf schließen, dass die Ukraine gute Chancen hat, zumindest nicht zu unterliegen. Aber eine Teilung des Landes wäre keine Lösung, sondern nur ein Waffenstillstand.

Die Frage nach den Folgen des Ukraine-Kriegs für die Machtverhältnisse in Russland ist damit allerdings nicht beantwortet. Der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats, Dmitrij Medwedjew, ehemals Präsident und Ministerpräsident, prophezeite kurz vor Bidens Rede die Apokalypse, falls Putin stürze, wenn also »die größte Atommacht mit einer instabilen politischen Führung« dastehe. Russland werde in fünf oder sechs Staaten zerfallen, »die Atomwaffen besitzen und von Freaks, Fanatikern und Radikalen« regiert würden.

Damit stellt er dem politischen und militärischen Führungspersonal seines Landes kein gutes Zeugnis aus, zweifellos übertreibt er in propagandistischer Absicht – und langfristig ist ein Machtwechsel ohnehin unvermeidlich, da Putin nicht unsterblich ist. Doch hat Medwedjew insofern recht, als hinter der Fassade imperialen Gehabes ein undurchschaubares Gerangel um die Macht stattfindet, das eskalieren kann. Diese Unsicherheit ist wohl ein Grund dafür, dass sich Biden und andere westliche Regierungschefs zieren, klare Ziele im Umgang mit Russland zu nennen, etwa Bedingungen für die Milderung oder Aufhebung der Sanktionen. Der andere Grund ist die Uneinigkeit der westlichen Staaten.

Bei seiner Europa-Reise in der vergangenen Woche war Biden bemüht, wenigstens den Anschein einer einheitlichen westlichen Position zu erwecken. Das war keine einfache Aufgabe. Der französische Präsident Emmanuel Macron befindet sich im Wahlkampf und schwankt zwischen Gesten militärischer Stärke – in der vergangenen Woche ließ er drei mit Atomwaffen bestückte U-Boote auf Tauchfahrt gehen – und Mahnungen zur Wiederaufnahme des Dialogs mit Putin. Deutschland will an Energieimporten aus Russland festhalten und ist weiterhin zögerlich bei den Waffenlieferungen an die Ukraine.

Die polnische Regierung hingegen bereitete Biden Anfang März mit dem öffentlich vorgebrachten Vorschlag, Kampfflugzeuge aus eigenen Beständen an die Ukraine zu liefern, die Übergabe aber den USA zu überlassen, innenpolitische Probleme. 40 republikanische Senatoren unterstützten den Vorstoß, um Biden schwach erscheinen zu lassen. Da die offizielle Überführung der Flugzeuge durch Piloten eines Nato-Staats als Kriegshandlung hätte gewertet werden können, war die Ablehnung Bidens vorhersehbar und der polnische Vorschlag ebenso wie dessen republikanische Unterstützung waren wohl nur Profilierungsversuche.

Biden dürfte die auch von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg vertretene Linie bekräftigt haben, mehr Soldaten in Osteuropa zu stationieren, die Ukraine in jeder Hinsicht zu unterstützen, aber alles zu vermeiden, was als direkte Beteiligung der Truppen eines Nato-Staats an Kampfhandlungen gelten könnte. Da ohne die USA in der Nato nichts geht, dürfte diese Politik Bestand haben – weitere unwillkommene Vorschläge sind dennoch zu erwarten.

Die US-Regierung hat weitere Sanktionen gegen russische Politiker und Rüstungsunternehmen verhängt und Biden dürfte die EU-Staaten gedrängt haben, auch noch einmal nachzulegen. Ebenso verhält es sich mit der Militärhilfe, die seitens der USA mit der jüngst beschlossenen Bereitstellung von 800 Millionen Dollar seit 2020 eine Gesamthöhe von zwei Milliarden US-Dollar erreicht hat. Die EU hat 500 Millionen Euro für die Lieferung von Waffen und Ausrüstung an die ukrainischen Streitkräfte zugesagt. Da der Ukraine überwiegend vergleichsweise billige Abwehrwaffen geliefert werden – eine Stinger-Luftabwehrrakete aus den USA kostet etwa 120 000 US-Dollar, ein russischer Su-34-Jagdbomber hingegen 36 Millionen US-Dollar –, kann diese Militärhilfe das Kräfteverhältnis entscheidend beeinflussen.

Die improvisierte Strategie der westlichen Staaten funktioniert in dieser Hinsicht. Der bisherige Kriegsverlauf lässt darauf schließen, dass die Ukraine gute Chancen hat, zumindest nicht zu unterliegen. Dass der stellvertretende Generalstabschef Russlands, Sergej Rudskoj, am Freitag voriger Woche sagte, die russische Armee könne nun »den Großteil ihrer Anstrengungen auf das Hauptziel richten: die Befreiung des Donbass«, könnte einen Strategiewechsel andeuten. Putin hat keine klaren Kriegsziele genannt, die Besetzung großer Teile der Ostukraine wäre vermutlich ausreichend, um die »Sonderoperation« für siegreich beendet zu erklären. Um größere Geländegewinne zu erzielen, müsste Russland wohl so viel teures Militärgerät opfern, dass es einer unfreiwilligen Abrüstung gleichkäme, oder geächtete Waffen wie chemische Kampfstoffe einsetzen, was auch zögerliche westliche Staaten zwingen dürfte, die Geschäftsbeziehungen abzubrechen.

Es ist möglich, dass Putin sich in Folge der Sanktionen wieder stärker auf kapitalistische Rationalität besinnt oder dazu gezwungen wird. Aber eine Teilung der Ukraine wäre keine Lösung, sondern nur ein mehr oder weniger dauerhafter Waffenstillstand, und es ist weiterhin unklar, ob Putins völkischer Nationalismus Mittel zum Zweck oder Überzeugung ist. Möglicherweise befinden sich die russischen Atomwaffen bereits in den Händen eines Fanatikers.