Fidesz bedient eine verbreitete ­Ungarn-zuerst-Mentalität

Orbán, der Friedenswächter

Seine demonstrativ gute Beziehung zum russischen Präsidenten Wladimir Putin schadete Viktor Orbán im Wahlkampf nicht. Stattdessen stellte der ungarische Ministerpräsident seinen Konkurrenten als gefährlichen Kriegstreiber dar.

Rechtsextreme Parteien aus ganz Europa, von der FPÖ über die Lega, gratulierten dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu seinem deutlichen Sieg bei der Parlamentswahl am Sonntag. Und noch ein Glückwunsch kam prompt: »Das russische Staatsoberhaupt drückt sein Vertrauen aus, dass trotz der schwierigen internationalen Situation die weitere Entwicklung der bilateralen Partnerschaft den Interessen der Bevölkerungen Russlands und Ungarns nützen wird«, hieß es in einer offiziellen Erklärung am Montagmorgen.

Wer von Orbán nach der Wahl eine deutliche Distanzierung vom russischen Präsidenten Wladimir Putin erhofft hatte, wurde schon von seiner Siegesrede am Sonntagabend enttäuscht. Darin schilderte der Wahlsieger die Kräfte, die seinen Sieg hätten verhindern wollen: »Die Linke zu Hause, die internationale Linke überall, die Brüssel-Bürokraten, das Soros-Imperium mit all seinem Geld, die internationalen Mainstreamme­dien, und schließlich selbst der ukrainische Präsident.«

In den vergangenen Wochen hatte der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, mehrmals öffentlich die ungarische Regierung kritisiert, weil diese in der EU am deutlichsten weitere Sanktionen gegen Russland, insbesondere bei Energieimporten, ablehnt. »Es darf keine russischen Zweigstellen in Europa geben, die die EU von innen spalten«, sagte Selenskyj am 30. März. »Es muss ein Ende haben, dass Europa den Entschuldigungen Budapests Gehör schenkt.«

Ungarn bezieht Orbán zufolge 85 Prozent seines Erdgases und 65 Prozent seines Erdöls aus Russland. Doch gehen die Verbindungen noch tiefer: Als Politiker hat Orbán in den vergangenen Jahren immer wieder demonstrativ sein gutes Verhältnis zu Wladimir Putin zur Schau gestellt und die seit 2014 von der EU verhängten Sanktionen gegen Russland kritisiert. Noch am 1. Februar, 23 Tage vor der russischen Invasion, war Orbán, offenbar auch mit Blick auf den Wahlkampf, für ein Treffen mit Putin nach Moskau gereist und handelte unter anderem eine Erhöhung der Erdgaslieferungen aus. Wie Putin damals sagte, könne Ungarn wegen seines im vergangenen Oktober mit Russland geschlossenen langfristigen Liefervertrages trotz der hohen Energiepreise preisgünstiges Erdgas aus Russland beziehen. Den Vertragsabschluss hatte die Ukraine kritisiert, weil Gazprom das Erdgas nicht mehr wie zuvor über die Ukraine nach Ungarn liefert, sondern unter anderem über Serbien. Das Lieferabkommen ist bis 2036 gültig.

»Orbán und Putin oder der Westen und Europa – das ist die Frage«, schrieb der konservative Opposi­tionskandidat Márki-Zay.

Viele Jahre lang funktionierte Orbáns zweigleisige Politik von EU-Mitgliedschaft und Partnerschaft mit Russland reibungslos. Doch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine verurteilte auch Orbán Putins Vorgehen und folgte den EU-Staaten bei der Verhängung umfassender Sanktionen. Nur Energiesanktionen lehnte er ebenso wie Waffenlieferungen an die Ukraine über ungarisches Territorium nach wie vor ab. Diese Positionen isolierten Ungarn in der Region. Das für vergangene Woche geplante Treffen der Visegrád-Gruppe fand nicht statt, da Polen und die Tschechische Repu­blik angekündigt hatten, aus Protest nicht nach Ungarn zu reisen.

Im Wahlkampf musste Viktor Orbán ebenfalls einen schwierigen Spagat machen: Weder durfte er die Kriegsgegner unter seinen Wählern verlieren, noch wollte er seine langjährige Politik der Zusammenarbeit mit Russland ­revidieren. Die Opposition bezeichnete ihrerseits die engen Beziehungen zu Russland als gefährlich. »Orbán und Putin oder der Westen und Europa – das ist die Frage«, schrieb der konservative Oppositionskandidat Péter Márki-Zay in den sozialen Medien. Es sei »eine Wahl zwischen der dunklen oder der guten Seite der Geschichte«.

Orbán hielt hingegen einen Kurs, den er als Äquidistanz zwischen den Kriegsparteien bezeichnete: Oberste Priorität sei es, ungarische Interessen zu schützen. Um diese Argumentation zu verbreiten, half auch die faktische Kontrolle der Partei Fidesz und ihrer Verbündeten über einen Großteil der ungarischen Medien, einschließlich des staatlichen Fernsehens. Die Regierungspartei begann eine Kampagne, der zufolge Orbán Ungarn vor dem Konflikt im Nachbarland schützen werde, denn anders als die Opposition werde er keine Waffen in die Ukraine schicken. Unter Márki-Zay hingegen würde Ungarn in einen »grausamen, langwierigen und blutigen Krieg« verwickelt werden, sagte Orbán am Nationalfeiertag am 15. März. Die Rede des Ministerpräsidenten wurde innerhalb von 24 Stunden neunmal im öffentlich-rechtlichen Sender M1 wiederholt. Am Freitag vor der Wahl schrieb Orbán auf ­Facebook über »die Linke«, wie er die gesamte Oppo­sition bezeichnet, sie habe »einen Deal mit den Ukra­inern gemacht. Wenn sie gewinnen, werden sie mit Waffenlieferungen beginnen, das Gas abstellen und die Wirtschaft zerstören.«

Im Gegensatz zu der verlautbarten Neutralität Orbáns wird auf den von Fidesz kontrollierten Fernsehsendern die russische Invasion gerechtfertigt und gegen die Ukraine polemisiert. Zudem behauptete der ungarische Außenminister Péter Szijjártó in einem Video in den sozialen Medien, die Ukraine habe versucht, die Wahlen zugunsten der Opposition zu beeinflussen. Es habe eine »laufende Koordinierung zwischen der ungarischen Linken und Vertretern der ukrainischen Regierung« gegeben.
Die seit 2010 geknüpften Verbindungen zu Russland waren für die Fidesz-Regierung auch deshalb interessant, weil sie eine gewisse Unabhängigkeit von der EU versprachen. Orbán konnte neben den EU-Krediten auf russische Kredite zurückgreifen, deren Gewährung nicht an die Achtung der EU-Rechtsnormen oder an fiskalische Anforderungen gebunden waren. So finanzierte Ungarn etwa ab 2014 mit einem Kredit über zehn Milliarden Euro aus Russland den Bau von zwei Reaktoren im Atomkraftwerk Paks.

Was Orbán damals als seinen »Befreiungskrieg« gegen die fiskalische Kontrolle durch die EU und den Inter­nationalen Währungsfonds bezeichnete, den seine Regierung 2013 demonstrativ aus dem Land verwies, lief parallel zur Umwandlung des politischen Systems hin zu einem autokratischen Regime, das sich an Putins Vorgehen orientierte, im formellen Rechtsrahmen einer Demokratie die Macht der Regierungspartei zu festigen. Eine Zweidrittelmehrheit im Parlament war deshalb für die Fidesz immer wichtig, um mit verschiedenen Verfassungsänderungen und Gesetzesreformen die »illiberale Demokratie« zu bauen, wie Orbán sie bald nannte. Beispielsweise wurde wenige Jahre nach Orbáns Wahl zum Ministerpräsidenten 2010 die Zahl der Richter am Verfassungsgericht von elf auf 15 erhöht und die neuen Stellen mit Parteianhängern besetzt, um die Kon­trolle über das höchste Justizorgan zu erlangen. Das in Abhängigkeit gebrachte Justizsystem ermöglichte das Vorgehen gegen die zivilgesellschaftliche Organisationen. Es wurden neue Regierungsbehörden geschaffen – insbesondere die Nationale Behörde für Medien und elektronische Kommunikation und ihr Leitungsorgan, der Medienrat –, die es Fidesz ermöglichten, die öffentlichen Medien zu kontrollieren. Währenddessen kauften Fidesz nahestehende Milliardäre private Medien auf und nahmen Einfluss auf die Berichterstattung – die nach Maßgaben der Partei ­Fidesz agierende staatliche Medienregulierung förderte Fusionen, Übernahmen und die Gründung neuer Medienunternehmen durch regierungsnahe Personen. Auch die Angriffe auf unliebsame Nichtregierungsorganisationen, insbesondere aus dem Ausland finanzierte, folgten mit der 2017 erlassenen und im vorigen Jahr aufgehobenen ­sogenannten Lex NGO dem Vorbild der russischen Brandmarkung von NGOs als »ausländische Agenten«. Die schärfsten Angriffe fanden auf George Soros und dessen Open Society Foundation statt, die demokratische Kräfte in Staaten der ehemaligen Sowjetunion und des Warschauer Pakts unterstützt; ­diese Angriffe bedienten sich klassisch antisemitischer Muster. Im Jahr 2019 verließ die Stiftung Ungarn und verlegte ihr Büro nach Berlin; in Russland ist sie seit 2015 als unerwünschte Organisation verboten.

Die Zukunft der ungarisch-russischen Beziehungen hängt vom Verlauf des Kriegs in der Ukraine und möglichen neuen Sanktionen der EU ab. Aber auch wenn Russland derzeit interna­tional stark isoliert ist, gibt es andere autoritäre Regime, allen voran China, die als alternative Partner für Ungarn in Frage kommen. Das chinesische In­frastrukturprojekt der »Neuen Seidenstraße«, mit dem Ungarn seit Jahren kooperiert, verspricht willkommene Investitionen. Nachdem die eng mit der Open Society Foundation von George Soros verbundene Central European University 2018 bekanntgegeben hatte, sie müsse Budapest verlassen und nach Wien umsiedeln, plante Orbán, einen Campus der Shanghaier Fudan-Universität in Budapest anzusiedeln. »Zwar unterhalten fast alle EU-Länder gute wirtschaftliche Beziehungen zu China«, sagt voriges Jahr der Buda­pester Politologe Péter Krekó der Deutschen Welle, »aber in keinem anderen Mitgliedsland der Union ist der politische Einfluss Pekings so groß wie in Ungarn.«

In der EU sehen viele Regierungen diese Partnerschaften mit Sorge, weil sie eine einheitliche Außenpolitik gegenüber Russland und China erschweren. Russland und China profitieren davon, sich als Partner für Autokraten weltweit anzubieten, aber auch Ungarn profitiert, weil es bei Konflikten mit der EU an Rückhalt gewinnt. »Senden Sie am 3. April eine Botschaft: Wir sind keine hoffnungslosen Verlierer, die Angst vor den internationalen Medien oder Brüssel haben. Wir werden kämpfen!« schrieb Orbán vor der Wahl in den sozialen Medien.