Das neue Album von Placebo lebt von der rätselhaften Stimme Brian Molkos

Auf Rätseljagd

Nach neun Jahren haben Placebo ein neues Album aufgenommen, auf dem es rätselhaft zugeht. Eine beachtliche Stellung kommt der Stimme des Sängers Brian Molko zu.

1973 erläuterte der französische Zeichen- und Kulturtheoretiker Ronald Barthes in einem Interview, was er unter der »Körnung der Stimme« verstand. Mit Hilfe dieser Metapher versuchte er, der Eigenheit einer Stimme nahezukommen, und zwar, indem er sie mit einer Vokabel belegte, mit der man üblicherweise Visuelles (die Körnung einer Fotografie) oder Haptisches (die Körnung einer Oberfläche) beschreibt. Die Materialität der Stimme ist für Barthes, was hörbar wird, wenn man nicht mehr auf das hört, was die Stimme sagt, die Bedeutung, sondern auf die Textur der Stimme selbst, die Bildung von Tonhöhen, Färbungen, Modulationen, konsonantischer Artikulation, vokalischen Schattierungen. Barthes charakterisierte die Körnung der Stimmen von Operndiven seiner Zeit etwa im Rückgriff auf das Bild der »Pflanzenmilch« oder als »perlmutterne Schwingung«. Die Körnung der Stimmen könne uns in ein anderes Verhältnis zur Sprache einführen: in eine Konfrontation mit der Materialität der Sprache und mit der jouissance, dem Genießen in und an der Sprache.

Die Rockband Placebo ist in besonderem Maße geprägt von der Körnung der Stimme ihres Sängers Brian Molko. Die Band, die seit 2015 nur noch aus ihm und dem Bassgitarristen Stefan Olsdal besteht, hat seit ­ihrem Debütalbum 1996 eigentlich durchgehend Alben veröffentlicht. Nun ist nach neunjähriger Pause das achte Studioalbum »Never Let Me Go« erschienen, und man kann sich erneut von der Körnung von Molkos Stimme verführen lassen.

Man hört dieses Album am besten, wenn man es
als kunstvollen Parcours auf dem Weg zum Wunder und zum Rätsel der Stimme
hört – ein Rätsel, das eigentlich alle seit ihrer ersten Sekunden umtreibt.

Diese Stimme, die auf dem neuen Album deutlich freier schwingt als auf dem Vorgänger »Loud Like Love«, wo sie zuweilen etwas gepresst klang, trägt das Album in genauer Abstimmung mit dem Sound, der nach dem streckenweise poppigen Maximalsound (samt Bläsern) der vorigen beiden Alben zum elegischen Band-Klang der Jahrtausendwende zurückfindet – einschließlich eines genau dosierten Einsatzes von Synthesizern und Streichern. Einige der Songs des Albums arbeiten sich an Themen ab, für die Placebo schon immer bekannt waren: Drogen, Identitätskrisen und Verlust. Dazu gehört auch eine oft etwas flache Gesellschafts- und Medienkritik einschließlich schaler ethischer Merksätze: »A hug is just another way of hiding your face.« Auf die Schärfe der politischen Kritik durfte man sich in Texten von Placebo noch nie verlassen. Der postapokalyptische Klima-Song »Try Better Next Time« legt auch auf diesem Album Zeugnis davon ab.

Wie so oft sind es dann nicht die geäußerten Überzeugungen, sondern ist es die Eigendynamik des ästhetischen Programms, die überzeugt, indem sie die Band mehr sagen, mehr singen lässt, als ihren ­Mitgliedern bewusst sein dürfte. Im Zuge der flachen Medienkritik kommt auf »Never Let Me Go« ein Komplex ins Spiel, der in der Luft liegt und den die Ästhetik dieses Albums für ihre Zwecke in Dienst nimmt: die Verschwörung. So heißt es in »Sad White Reggae« grobschlächtig-ironisch: »They took my Mum away / Illuminati.« Und ein anderer Song trägt den Titel »Chemtrails«. In ihm wird die Brücke von der Verschwörung zum Wahn geschlagen: »I’m gonna hire me a pilot / To drop me at your door / Then I’ll consult a psy­chiatrist / To understand what for.«

Die Verschwörungstheorie und der Wahn sind Reaktionen auf die Undurchdringlichkeit der Wirklichkeit. Placebo setzen sie in ein Verhältnis zur Rätselhaftigkeit ihrer poetischen Sprache. Im Song »Beautiful James«, einer für Placebo-Verhältnisse gutgelaunten Uptempo-Nummer, werden Wünsche von existentieller Größenordnung geäußert – »Bring me back to life«, »Take me by the hand / As we cross through battlefields« –, Wünsche, die sich an einen »Beautiful James« richten. Dieser Name James bleibt rätselhaft, wie es der Name der oder des Angesprochenen in der Lyrik immer tut; denn ein Eigenname scheint auf eine Wirklichkeit zu verweisen, die außerhalb des Texts oder Lieds liegt und zu der die Leserinnen und Hörer keinen Zugang ­haben. Natürlich wurde Molko von der Musikpresse, die nicht von diesem Spiel lassen kann, gefragt, wer James sei. Der Sänger und Texter antwortete souverän, indem er die Aussage verweigerte und seinen Hörerinnen empfahl, ihre »persönliche ­Story zu meinen Liedern zu finden«.

Auf die erste Single »Beautiful James« folgte mit »Surrounded by Spies« als zweiter Single eine eindringliche düstere Nummer, die sich mit sturem Beharren in den Gehörgang bohrt. Die Melodie besteht aus exakt drei Tönen, die sich unablässig wiederholen, und doch folgt man dem Song von der ersten bis zur letzten Sekunde atemlos. Zur repetitiven Musik passt der repetitive Text, der die Form einer Beschwörung hat. Die Verse wirken wie Fragmente einer Wirklichkeit, die zusammen kein Bild mehr ergeben. Der Song selbst ist es, der in der Beschwörung einen Zusammenhang herzustellen versucht, der die fragmentierten Bedeutungen zusammenzwingt. Zwischendurch kommt es zu entwaffnenden Emotionsausbrüchen, und auch der Wahn meldet sich wieder: »I am surroun­ded by spies.« Dieser Song lässt sich­ nur sehr bedingt als ein Kommentar zur »digitalen Überwachung durch Großkonzerne« (Musikexpress) verstehen – denn dieser Interpretation steht die forcierte Rätselhaftigkeit des Textes entgegen. Es scheint vielmehr so, als würde der Song und mit ihm das Album einen Zusammenhang zwischen der Undurchdringlichkeit der Welt (mitsamt den wahnhaften Reaktionen auf sie) und der Rätselhaftigkeit der poetischen Sprache herstellen.

Und so ist man am Ende wieder auf die Stimme verwiesen, die gelockt, die verführt hat. Die mit dem Wahn verschwisterte Suche nach dem Sinn – »This search for meaning is killing me« – muss man schließlich verlassen und sich wieder der Wirklichkeit in ihrer zugleich kruden und delikaten Phänomenalität zuwenden. Am Ende, nach dem Sinn und dem Wahn, steht wieder die Stimme, mit ihrer einzigartigen Körnung, ja, das Scheitern der Bedeutungsjagd wird zum Verweis auf das Rätsel der Stimme, dieser Stimme, die zugleich nasal verengt und sonor freischwingend ist, zugleich fragil und durchdringend. Ihre Körnung lässt sich nur mit Hilfe von Metaphern beschreiben. Man hört dieses Album am besten, wenn man es als kunstvollen Parcours auf dem Weg zum Wunder und zum Rätsel der Stimme hört – ein Rätsel, das alle Menschen seit ihren ersten Sekunden umtreibt.

Besonders anrührend ist der Song »Happy Birthday in the Sky«, in dem Trauerarbeit nach dem Verlust einer geliebten Person geleistet wird. Wenn die Singstimme in der zweiten Strophe die Melodie auf die Worte »Now I fade and fade« anders führt als in der ersten Strophe, ihr einen für Molko typischen arabesken Schlenker nach unten verleiht, dann kann man sich von der melancho­lischen Schönheit, die sich plötzlich offenbart, »wegblasen« lassen, so wie das besungene Gegenüber weggeweht wurde (»You were blown away / I don’t know why«) – und man kann dann im Refrain mit Molkos fragiler Stimme nach der »Medicine« schreien, dem Remedium gegen die Schönheit, die todbringend und rätselhaft ist wie eine Sphinx.

Placebo: Never Let Me Go (So Recordings/Elevator Lady/Rise)