Martin Mittelmeier schildert die Entstehung der »Dialektik der Aufklärung«

Thomas Mann wohnte nebenan

Der Autor Martin Mittelmeier hat ein Buch über die Entstehung der »Dialektik der Aufklärung« geschrieben. Während die von ihm ausgebreiteten Anekdoten lesenswert sind, lässt sein theoretischer Zugang zu den »Philosophischen Fragmenten« von Horkheimer und Adorno zu wünschen übrig.

Die Entstehungsgeschichte der »Dialektik der Aufklärung« von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno nachzuzeichnen, klingt nach einem ausufernden Projekt – jedenfalls nach keinem, das eine Person allein in einem einzelnen Buch zum Abschluss bringen könnte. Zu dieser Entstehungsgeschichte gehörten auch die philosophischen, wissenschaftlichen und politischen Dis­kussionen über die Traditionen, zu denen die »Philosophischen Fragmente«, so der Untertitel, sich verhalten. Im Lauf der Zeit haben viele Autorinnen und Autoren ihren Teil zum Verständnis der »Dialektik der Aufklärung« beigetragen, indem sie die von Horkheimer und Adorno dargestellten Motive weiter entfal­teten und deren Quellen bargen.

Der Autor Martin Mittelmeier wählt in seinem Buch »Freiheit und Finsternis« einen eher, aber nicht ausschließlich anekdotischen Zugang zur Entstehung des – so im Untertitel – »Jahrhundertbuchs«. Im besten Fall erlaube solch ein Zugang es, die von Erfahrung gesättigte Theorie nachzuvollziehen. Im Vergleich zu einem allgemein gehaltenen Einführungsband erscheint das weitaus interessanter.

Mittelmeier stellt Horkheimers Anstrengungen dar, das Institut für Sozialforschung im US-amerikanischen Exil am Leben zu erhalten und zugleich produktiv mit Adorno am gemeinsamen Projekt zu arbeiten. Er beschreibt die Milieus, denen die bekanntesten Vertreter der Kritischen Theorie und ihr Umkreis entstammten, und welchen Einfluss Horkheimers und Adornos Denken und Erfahrungen auf ihre Zusammenarbeit und diejenige mit den übrigen Mitarbeitern des Instituts hatte. Anhand von Briefwechseln erzählt er von dem sozialen Mikrokosmos der Exilanten in Kalifornien.

Viele bekannte und weniger bekannte Anekdoten durchziehen das Buch, zum Beispiel Horkheimers Freundschaftsvertrag mit Friedrich Pollock oder wie Hannah Arendt Walter Benjamins Essay »Über den Begriff der Geschichte« Adorno überbringt. Affären und Liebesgeschichten verschiedener Institutsmitglieder verbindet Mittelmeier mit einem Bericht über Adornos Sicht auf die bürgerliche Ehe. Nacherzählungen von Zusammenkünften und Feiern im Viertel Pacific Palisades von Los Angeles werden mit den Biographien der jeweiligen Gastgeber oder des jeweiligen Besuchs verknüpft.

Das Buch beginnt mit Hannah Arendt und ihrem Verhältnis zu Walter Benjamin. Mittelmeier zufolge hatte Benjamin enormen Einfluss vor allem auf Adorno, dieser nahm das fragmentarisch gebliebene Werk Benjamins sogar als Arbeitsauftrag wahr, der in die »Dialektik der Aufklärung« münden sollte. Mittel­meier stellt sich gegen die Legende, das Institut beziehungsweise Horkheimer und Adorno hätten Benjamin, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm, im Stich gelassen. Ganz im Gegenteil legt Mittelmeier dar, wie sie nichts unversucht ließen, um Benjamin in die USA zu holen. Immer wieder verweist Mittelmeier auf den Einfluss Benjamins auf Adorno und Horkheimer. Er inspirierte die beiden Autoren dazu, »aus den konkreten Phänomenen der eigenen Gegenwart diese zur Darstellung ihrer selbst zu zwingen. Die Urgeschichte einer Gesellschaft, die den Faschismus möglich gemacht hat.«

Mittelmeier gelingt es beständig, die Schriften und Gedanken der verschiedenen Institutsmitglieder und die behandelten Phänomene und Gegenstände miteinander zu verbinden und in seine Erzählung einzuweben. Die Hilfe Adornos, derer Thomas Mann, ein weiterer Nachbar in Pacific Palisades, bei der Abfassung seines Romans »Doktor Faustus« bedurfte, dient Mittelmeier als Ausgangspunkt, um von Adornos Musikphilosophie, aber auch von dessen Verhältnis zu seinem Idol Arnold Schönberg und seinem Kompositionslehrer Alban Berg zu erzählen.

Insbesondere auf das in der »Dialektik der Aufklärung« enthaltene Kapitel über die Kulturindustrie kommt Mittelmeier immer wieder zurück und verbindet es mit den ­Erfahrungen, die Adorno und Horkheimer, aber auch Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Helene Weigel und Schönberg in den USA, zumal in Los Angeles, gemacht hatten. Auch die Darstellung der Forschungsprojekte, welche die Institutsmitglieder auf Weisung Horkheimers nicht nur aus Erkenntnisinteresse verwirklichten, sondern auch, um das Institut im US-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb zu etablieren, verknüpft ­Mittelmeier mit Anekdoten über in­stitutsinterne Querelen und wissenschaftliche Methoden. An einigen Stellen interpretiert er die Theorien eigenwillig oder zu knapp, das ­anekdotische Erzählen ist dem Nachvollzug der Theorie stellenweise ­hinderlich.

Hervorzuheben ist, dass der Autor die »Dialektik der Aufklärung« weder zum Klassiker versteinert noch versucht, sie als unmittelbar aktuell zu bewerben, wie es der Werbetext des Verlags befürchten lässt. Er nimmt die Motive der Kritischen Theorie ernst. Neben der Kritik der ­Massenkultur stellt er die Beständigkeit der Herrschaft, das beschädigte Leben in der Moderne, die bestimmte Negation und die Kulturindustrie als Massenbetrug ins Zentrum. Allerdings weiß er mit der als pessi­mistisch verkannten Theorie wohl auch nicht so viel anzufangen und charakterisiert sie als »große Sprachmusik«. Auch wenn das Werk vir­tuos »komponiert« sein mag, wäre es wünschenswert gewesen, über dieses Urteil hinauszugehen.

Das größte Ärgernis des Buchs ist allerdings die nicht mehr nur eigenwillige, sondern falsche und ver­störende Einordnung des Holocaust in eine Dialektik von Himmel und Hölle, welche Adorno angeblich vertreten habe. Hier schiebt Mittelmeier Adorno eine finstere Geschichtsphilosophie unter, für die es keinen Anhaltspunkt gibt.

Abgesehen von dieser Fehlinterpretation ist das Buch zwar unterhaltsam und Mittelmeier schafft es, mit Archivfunden die Entstehungs­geschichte der »Dialektik der Aufklärung« und ihre Zeit zum Leben zu erwecken. Doch ist die thematisierte Theorie voraussetzungsreich, während der Autor sie stark komprimiert, so dass dem interessierten Leser der Primärtext und an einem spezifischen Gegenstand entfaltete Sekundärliteratur ans Herz gelegt sei. An Adornos Musikphilosophie ­orientiert, empfiehlt auch der Autor selbst diese Auseinandersetzung mit der »Dialektik der Aufklärung«: »So wie man musikalische Werke am besten selbst nachspielt oder wenigstens mit der Partitur mitverfolgt.«

Martin Mittelmeier: Freiheit und Finsternis. Wie die »Dialektik der Aufklärung« zum Jahrhundertbuch wurde, Siedler-Verlag, München 2021, 320 Seiten, 24 Euro