Lukas Hermsmeiers Lob der US-amerikanischen Linken blendet deren Antizionismus aus

Linke Werkschau

Der Journalist Lukas Hermsmeier hat ein Buch über die US-amerikanische Linke geschrieben, das als Inspiration für die hiesige politische ­Organisation dienen soll. Doch den Antizionismus sowie die Identitätspolitik beispielsweise bei den Democratic Socialists of America klammert­ der Autor aus.

Im Vorwärts, der Zeitung der deutschen Sozialdemokratie, schrieb Rosa Luxemburg 1903 zum 20. Todes­tag von Karl Marx: »Es gibt erst seit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Wörter revolutionäre Realpolitik ist.« Weiter schrieb sie: »Die Geschichte der Arbeiterbewegung von Anfang an ringt sich hindurch zwischen dem revolutionär-sozialistischen Utopismus und der bürgerlichen Realpolitik.« Marx habe also eine Politik begründet, die sich nicht in sozialistischen Träumereien verirrt, sich auch nicht an ein bürgerliches Politikverständnis anbiedert, sondern unter den gegebenen Umständen die radikalsten aller möglichen Forderungen stellte.

Auch wenn Luxemburg nicht erwähnt wird, so ist es doch ihr Begriff der revolutionären Realpolitik, der sich wie ein Leitfaden durch ­Lukas Hermsmeiers Buch »Uprising – Amerikas neue Linke« zieht. Der Autor unterzieht darin die US-amerikanische Linke der vergangenen zehn Jahre einer Art Werkschau. Unterschiedliche Bewegungen, Allianzen und Ideen, von Occupy Wall Street über Black Lives Matter bis zu den Fürsprechern eines Green New Deal, werden porträtiert und darauf untersucht, wie sie mit ihrem jeweiligen Verständnis einer postkapitalistischen Gesellschaft die gegenwärtigen ökonomischen Strukturen und Machtverhältnisse herausfordern.

Lukas Hermsmeier arbeitet seit 2014 als freier Journalist in New York und schreibt vor allem für deutsche Medien wie die Zeit, den Tagesspiegel und die Taz über die US-amerikanische Linke. Dass er diesem Thema gleich ein ganzes Buch widmet, das als Inspirationsquelle für Deutschlands Linke dienen soll, begründet er damit, hierzulande könne trotz neuer Bewegungen wie Fridays for Future oder »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« von »so etwas wie einer linken Aufbruchstimmung keine Rede sein«. Als Beleg nennt er die Bundestagswahl 2021, bei der die unter 34jährigen überwiegend die FDP und die Grünen wählten, Parteien also, die an den kapitalistischen Verhältnissen wenig bis gar nichts ändern wollen.

Die Menschen, Bewegungen und Initiativen, die Hermsmeier für seine Recherche von Oakland über St. Louis bis Brooklyn persönlich traf, zeigen vor allem eines: Radikal sind nicht immer diejenigen, die am lautesten schreien.

Anders sehe es in den USA aus, wo ein Präsidentschaftsbewerber wie Bernie Sanders, der sich selber als »demokratischen Sozialisten« bezeichnet, vor allem von den nach 1980 Geborenen extrem stark unterstützt wurde und sich trotz des rechten backlash unter der Regierung Donald Trumps in den vergangenen Jahren neue linke Kräfte etablieren konnten. Diesen Aufbruch führt Hermsmeier zum einen auf die Enttäuschung über Barack Obamas Politik zurück, die an den sozialen Missständen, unter denen seine überwiegend jungen, schwarzen und hispanoamerikanischen Wählerschaft litt und leidet, kaum etwas änderte. Und zum anderen auf Occupy Wall Street, die Protestbewegung nach der Finanz- und Wirtschaftskrise, die 2011 entstand und dafür sorgte, dass überall im Land Graswurzelbewegungen entstanden, die direkte und dezentrale Formen von Demokratie erprobten und aus denen mittlerweile erstaunliche ­politische Kräfte erwachsen sind.

So erlebt die Gewerkschaftsarbeit in den USA seit einigen Jahren eine Art Renaissance. Die Gewerkschaft Debt Collective zum Beispiel, hervorgegangen aus den Occupy-Protesten, handelt für ihre Mitglieder, die wegen eines Studiums oder aus medizinischen Gründen hochverschuldet sind, Finanzverträge neu aus oder organisiert Sammelklagen, um illegale Schuldenvereinbarungen anzufechten. Über 1,5 Milliarden US-Dollar an Schulden konnte die Organisation dadurch zwischen 2014 und 2020 streichen lassen.

2012 wurde der Einzelhandelskonzern Walmart, der größte private Arbeitgeber der USA, erstmals bestreikt. 2018 und 2019 gab es eine regelrechte Streikwelle von Lehrkräften, die in mehreren Bundesstaaten wochenlang ihre Arbeit niederlegten und so erfolgreich Gehaltserhöhungen und Personalaufstockungen erkämpften. Auch im Denken vieler US-Amerikaner haben die Arbeitskämpfe Spuren hinterlassen: »Der Wandel, der sich in den USA derzeit vollzieht, ist erstaunlich. In einer Gesellschaft, die so auf individuelle Verantwortung getrimmt ist, sind inzwischen mehr als zwei Drittel der Menschen überzeugt, dass Armut kein individuelles, sondern ein systemisches Problem ist«, so Hermsmeier.

Was Rosa Luxemburg vor fast 120 Jahren als revolutionäre Realpolitik bezeichnete – und Gewerkschaftsarbeit ist im besten Falle nichts anderes als das –, kann auch »nichtreformistische Reform« genannt werden, wie es der französische Sozialphilosoph André Gorz, den Hermsmeier als Theoretiker heranzieht, in den sechziger Jahren ausdrückte. Gorz, so Hermsmeier, »wollte über die strenge Binarität von Reform und Revolution hinaus. Nicht-reformistische Reformen, erklärte er, seien Reformen, die darauf zielten, die Kräfteverhältnisse grundsätzlich zu verschieben.« Diese Reformen sollen Gorz zufolge »Breschen im Kapitalismus sein, die ihn in seinen Grundfesten erschüttern«. Die revolutionäre Realpolitik oder die nicht­reformistische Reform sind demnach politische Methoden, die die Menschen kollektiv von unten entwickeln und die das System als solches in Frage stellen. Ein Begriff, der sich durch das gesamte Buch zieht, ist das »Community Organizing«, ein Konzept, das »Menschen auf lokaler Ebene zusammenbringt, um gemein­same Interessen zu formulieren und diese durch verschiedene Strategien zu verfolgen«, wie es Hermsmeier vereinfacht erklärt.

Der Erfolg des organizing zeigt sich unbestreitbar bei den Democratic Socialists of America (DSA), einer Organisation, die in den vergangenen Jahren mit aufwendigen Wahlkampagnen linke Demokraten in ihren Wahlkämpfen unterstützte und vor allem durch Bernie Sanders und Black Lives Matter enorm an Popularität gewann. In kürzester Zeit stieg die Zahl der Mitglieder von 10 000 auf 100 000. Durch konsequente Graswurzelarbeit der DSA gelangen immer mehr progressive Linke in die Parlamente auf kommunaler, Staats- und Bundesebene. Die prominentesten Vertreter sind wohl die erst vier, jetzt sechs als »The Squad« bezeichneten Kongressabgeordneten, darunter Alexandria Ocasio-Cortez, die 2019 als jüngste Abgeordnete in den Kongress gewählt wurde.

Die Menschen, Bewegungen und Initiativen, die Hermsmeier für seine Recherche von Oakland über St. Louis bis Brooklyn persönlich traf, zeigen vor allem eines: Radikal sind nicht immer diejenigen, die am lautesten schreien, sondern jene, die konkret an der Beseitigung sozialer Missstände arbeiten, die in den USA vor allem Arme, Schwarze und Latinos betreffen. So wurde in St. Louis als Folge der Unruhen in Ferguson und durch die Initiative einer breiten Graswurzelbewegung das als Workhouse bezeichnete Gefängnis geschlossen, das für seine fürchterlichen Haftbedingungen bekannt war und in dem fast ausschließlich Schwarze inhaftiert waren. Landesweit kämpfen Aktivisten für eine Justizreform und die Abschaffung des repressiven und rassistischen Polizeisystems, in dem viele Polizeireviere gezwungen sind, ihre eigenen Ausgaben selbst zu »erwirtschaften«. Kleinste Delikte werden dadurch mit teuren Strafzetteln geahndet, die viele nicht bezahlen können. Haftstrafen sind die Folge.

Die Stadt Ferguson zeigt die Ausmaße dieser Praxis: »Insgesamt 16 000 offene Haftbefehle standen Ende 2014 in Ferguson aus. 96 Prozent davon galten Schwarzen Be­wohner*­innen. Selbst das US-Justizministerium kam in einer ausführlichen ­Studie zu dem Fazit, dass die Praktiken der Strafverfolgung direkt durch rassistische Vorurteile geprägt waren. Von 20 Millionen US-Dollar, die die Stadt in jenem Jahr einnahm, stammten 2,6 Millionen von Strafzetteln und Ordnungswidrigkeiten: Es war der zweitgrößte Posten im ­Finanzplan der heruntergewirtschafteten Stadt.«

Dass die US-amerikanische Linke in Deutschland bereits als Ideengeber dient, zeigt nicht nur die Berliner Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«, die ohne den Ansatz des Community Organizing wohl kaum die 180 000 nötigen Unterschriften für den Volksentscheid erreicht ­hätte. Auch die Initiative »Brand New Congress«, mit deren Hilfe Alexandria Ocasio-Cortez 2019 in den Kongress gewählt wurde, hat mittlerweile einen deutschen Ableger. »Brand New Bundestag« begreift sich als Graswurzelorganisation, die sich als Bindeglied zwischen Zivilgesellschaft und parteipolitischer Arbeit für eine junge, diverse und progressive Politik einsetzt. Auch hier spielt das Community Organizing eine nicht unwichtige Rolle. Zur Bundestagswahl 2021 unterstützten über 200 Ehrenamtliche zehn Kandidatinnen und Kandidaten, von denen drei jetzt im Bundestag sitzen.

Hermsmeiers nicht zu übersehene Sympathie für die US-amerikanische Linke lässt ihn jedoch heikle Themen ausblenden. Dadurch entsteht der Eindruck, es handele sich um eine relativ widerspruchsfreie Bewegung. Dazu trägt auch der Schwerpunkt des Buchs bei, der ausschließlich auf sozialen Themen liegt, »während explizit außenpolitische Fragen nicht behandelt werden«. Womöglich eine Anspielung auf das problematische Verhältnis vieler US-amerika­nischer Linker zu Israel. So wird mit keinem Wort erwähnt, dass nahezu alle Mitglieder der DSA die antisemitische BDS-Bewegung (»Boycott, ­Divestment and Sanctions«) unterstützen. Zu erwähnen, dass Jamaal Bowman, der »The Squad« angehört und eines der wenigen DSA-Mitglieder ist, die nicht die BDS-Bewegung unterstützen, fast aus den DSA ­rausgeworfen wurde, weil er im vergangenen Jahr nach Israel reiste und dort Regierungsvertreter traf, würde nur das Gesamtbild stören.

Es verwundert daher auch nicht, dass die akademische Linke und die Proteste an US-amerikanischen Universitäten keine Erwähnung finden. Vielleicht auch konsequent, da Konzepte wie Critical Whiteness, das Aufdecken von Mikroaggressionen oder das Checken von Privilegien bisher wenig daran geändert haben, dass die Zahl der Inhaftierten in den USA in den vergangenen 50 Jahren um 500 Prozent gestiegen ist und es heutzutage mehr Schwarze gibt, »die im Gefängnis sitzen und dort oft als billige Arbeitskräfte ausgebeutet werden, als sich Mitte des 19. Jahrhunderts in Sklaverei befanden«. Dagegen helfen womöglich nur nichtreformistische Reformen oder eine revolutionäre Realpolitik.

Lukas Hermsmeier: Uprising. Amerikas neue Linke. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2022, 320 Seiten, 22 Euro