Die populistische Regierung Perus reagiert repressiv auf soziale Proteste

In schlechter Verfassung

Die Krise in Peru hat sich durch Preissteigerungen infolge des Ukraine-Kriegs verschärft. Präsident Pedro Castillo gibt sich volksnah, doch die Regierung reagiert repressiv auf soziale Proteste.

Der Präsident hatte keine Mehrheit, aber er konnte sich halten. Am 28. März scheiterte im peruanischen Kongress der Versuch von Teilen der Opposition, Pedro Castillo des Amtes zu entheben. Mit 55 Stimmen für den Antrag, 54 dagegen und 19 Enthaltungen wurde die notwendige Zweidrittelmehrheit von 87 der 130 Abgeordneten verfehlt.

Peru befindet sich in einer Dauerkrise, die mehrere Gründe hat. Die Behörden verfallen, bedingt durch Korruption und Klientelwirtschaft der Parteien. Parlament und Regierung befinden sich in einem Zustand permanenter Konfrontation. Die durch die Covid-19-Pandemie ausgelöste ökonomische Krise traf mit besonderer Härte die ärmeren Schichten und die im informellen Sektor ­arbeitenden Menschen. Deren Lage verschlechtert sich weiter durch die rapide steigenden Preise für Nahrungsmittel und Kraftstoffe, vor allem bedingt durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Prognosen zufolge könnte allein der Ausfall von Düngemittellieferungen die peruanische Agrarproduktion in den kommenden drei Monaten um 40 Prozent vermindern.

Präsident Castillo hat im Kongress keine Mehrheit hinter sich, das von rechten Fraktionen dominierte Einkammerparlament befasst sich vorwiegend mit der Obstruktion seiner Politik. Fast alle von der Regierung eingebrachten Gesetzentwürfe werden abgeschmettert, insbesondere die wenigen, die tatsächlich Verbesserungen für die ärmere Bevölkerung bewirken könnten. Allerdings entsprechen die Entwürfe der Regierung auch kaum den Versprechungen von Veränderung, mit denen Castillo angetreten war.

Viele Gruppen der Linken, die Präsident Castillo unterstützt hatten, haben sich enttäuscht abgewendet. Zurzeit finden einige Versuche statt, neue linke Bündnisse in Opposition zur Regierung zu bilden.

Innerhalb der Regierung tobt ein Kampf um Einfluss und die Besetzung gutdotierter Posten. Castillo hat du­biose Berater um sich geschart, die die Arbeit des eigentlichen Kabinetts oft konterkarieren, darunter viele aus seinem Herkunftsort Chota und Personen mit Verbindungen zum Fujimorismo, dem Lager des unter anderem wegen Korruption verurteilten ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori und seiner Familie, und anderen mafiotischen Kreisen. Das Nachsehen hat Peru Libre, die Partei, als deren Präsidentschaftskandidat Castillo an die Macht kam. Sie kämpft nun darum, wieder mehr Einfluss zu gewinnen. Überdies gibt es Gruppen und Personen aus der liberalen, rechten und rechtsextremen Opposition, die sich Vorteile von einer Zusammenarbeit mit der Regierung versprechen.

Die rechte Opposition verbindet ein machistisch-konservatives Familienbild, der Hass auf Genderpolitik, legale Abtreibung und sexuelle Selbstbestimmung. Zudem verbindet beide das Inter­esse, über Einflussnahme auf den Staat die zahlreichen anhängigen Korruptionsverfahren gegen ihre jeweiligen Unterstützer zu verhindern. Mittlerweile ist es der extremen Rechten gelungen, das Verfassungsgericht und einige Bereiche des Justizapparats zu dominieren. Die Regierung wurde ­bereits mehrmals umgebildet, wobei die wenigen moderneren Linken und qualifizierten Reformer ausschieden.

Angesichts dieser desolaten Verhältnisse ist es nicht verwunderlich, dass die in den vergangenen Jahren immer wieder genutzte Parole »que se vayan todos« (alle sollen gehen) erneut bei sozialen Protesten und Demonstrationen zu hören ist. Die Unterstützung für Castillo ist Umfragen zufolge auf 19 Prozent geschrumpft. Selbst in den marginalisierten andinen Regionen, als deren Repräsentant er antrat, ist seine Popularität auf 23 Prozent gesunken. Die Anführerin der rechtspopulistischen und extrem rechten Opposition, Parlamentspräsidentin Maricarmen Alva, erhält gerade einmal 15 Prozent Zustimmung und der Kongress bildet mit 14 Prozent das Schlusslicht.

In den kommenden Tagen soll ein neues Kabinett der »nationalen Übereinkunft« gebildet werden. Im Kongress ist man sich quer durch alle elf Frak­tionen uneins über das Verhältnis zur Regierung, immer mehr Abgeordnete kooperieren offen oder verdeckt mit ihr. Um aus ihrer Zwangslage herauszukommen, hat die Regierung erhebliche Zugeständnisse an die Opposition gemacht und setzt die wirtschaftsliberale Politik ihrer Vorgängerinnen fort, garniert mit populistischen Versprechen für »das Volk« – das Lieblingswort des Präsidenten. Die Gemeinsamkeiten, was reaktionäre lebensweltliche Vorstellungen, Korruption, Gerangel um Pfründe und Vermeidung von Neuwahlen angeht, machen verständlich, warum Castillos Amtsenthebung scheiterte.

Während die Regierung und der »Congrezoo«, wie er häufiger genannt wird, zanken, spitzen sich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu. Neben den seit langem andauernden sozialen und ökologischen Konflikten in Zusammenhang mit den Bergbauaktivitäten sind nun Proteste gegen Preis­erhöhungen, Hunger, Arbeitslosigkeit und Unfähigkeit der Regierung ausgebrochen. Diese reagiert mit autoritären Mitteln auf die Konflikte. Die linke Ministerpräsidentin Mirtha Vásquez bemühte sich noch um Dialog, nun, unter ihrem Nachfolger Aníbal Torres, bestimmen populistische Propagandaveranstaltungen und der Einsatz von Armee und Polizei die Strategie.

Am 28. März begannen die ersten Streiks und Straßenblockaden im Transportsektor gegen die gestiegenen Kraftstoffpreise und Abgaben in Junín, der andinen Region, in der die Regierungspartei Peru Libre ihren Ursprung hat. Die Proteste breiteten sich in vielen Regionen aus. Die Regierung stellte daraufhin das Fernstraßennetz unter Ausnahmezustand, Castillo und Torres sprachen von bezahlten Anführern und böswilligen Blockaden, was die Wut der Protestierenden noch anheizte. Bauern und Landarbeiter schlossen sich den Protesten an, dann auch immer mehr Familien, die sich die Lebensmittel nicht oder kaum noch leisten können, und die Lehrerschaft.

Sechs Tote und viele Verletzte sind infolge der aufstandsartigen Proteste bisher zu beklagen. In der Hauptstadt Lima, in der es kaum gewalttätige Proteste gab, verhängte Castillo überraschend am 5. April kurz vor Mitternacht per Dekret den Ausnahmezustand mit vollständiger Ausgangssperre für den gesamten nächsten Tag. Anlass war das Gerücht, dass sie »heute vorhatten, Lima zu plündern, von den Hügeln herunterzukommen und die Stadt auszuplündern«, so der rechtsextreme Abgeordnete und Admiral im Ruhestand, Jorge Montoya Manrique.

Darin kam einmal mehr die Furcht der weißen Führungsschicht vor den Armen andiner Herkunft zum Ausdruck, die unter meist erbärmlichen Bedingungen in den hügeligen Gürteln um das Zentrum Limas herum leben. Von einem Präsidenten des »Volks«, der immer wieder auf seine andine Herkunft verweist, war eine andere Politik erwartet worden. Castillo wurde umgehend vor den Kongress zitiert und nahm das Dekret noch während der Sitzung zurück. Auf den Straßen hatten sich mittlerweile Tausende Menschen aus allen politischen Richtungen und sozialen Schichten zum Protest gegen die Ausgangssperre versammelt.

In den kommenden Tagen und Wochen dürften sich die Proteste gegen Parlament und Regierung ausweiten. Mehrere Streiks sind von verschiedenen Gremien und Gewerkschaften angekündigt worden. Auch die Inter­vention militanter rechtsextremer Stoßtrupps wie Resistencia und La Insurgencia wird erwartet. Diese setzten sich für eine Militärdiktatur oder eine autokratische Regierung unter Keiko Fujimori, der Tochter Alberto Fujimoris, oder dem Klerikalfaschisten Rafael ­López Aliaga ein.
Viele Gruppen der Linken, die Castillo und Peru Libre unterstützt hatten, ­haben sich enttäuscht abgewendet. Zurzeit finden einige Versuche statt, neue linke Bündnisse in Opposition zur Regierung zu bilden. Sie stehen vor dem Problem, Castillo und Peru Libre für ungeeignet zu halten, aber auch die putschistische Rechte abzulehnen.

Im Wahlkampf hatten Peru Libre, die Linke und Teile der Anhängerschaft Castillos für die Einrichtung einer verfassunggebenden Versammlung plädiert. Die derzeit gültige, wirtschaftsliberal geprägte Verfassung wurde 1993 nach der Ausschaltung des Parlaments durch Alberto Fujimori erarbeitet, eine neue Verfassung könnte dem Staat unter anderem wirtschaftliche Regulierungs- und Planungsbefugnisse zurückgeben. Eine Verfassungsreform könnte nun zum Kern linker Strategien und der Hauptforderung an Castillo werden. ­Allerdings hat das Verfassungsgericht entschieden, dass nur der Kongress eine verfassunggebende Versammlung einberufen könne, und der ist mehrheitlich dagegen.