Ungeachtet des Geredes vom milden Verlauf der Omikron-Variante ist die Pandemie nicht vorbei

Das neue Normal

Derzeit bestehen viele darauf, man solle zur »Normalität« der Zeit vor der Covid-19-Pandemie zurückkehren. Doch für Menschen, die sich keine chro­nische Erkrankung zuziehen wollen, ist das keine Option.
Bodycheck - Die Kolumne zu Biopolitik und Alltag Von

Krank werden, trotzdem arbeiten gehen und dabei die Kolleginnen und Kollegen anstecken – zumindest Letzteres hat Christian Lindner, der Bundesfinanzminister und FDP-Vorsitzende, nicht gemacht. Zwar hat er Covid-19-infiziert, verschwitzt und sichtlich angeschlagen seine Rede auf dem Parteitag der FDP am Wochenende gehalten. Da er aber in Washington, D.C., in Quarantäne blieb, war er nur ­online zugeschaltet und konnte hier niemanden anstecken. Das wäre bei einer Maskenquote von schätzungsweise fünf Prozent auf dem Parteitag wohl schnell gegangen.

Auf der Arbeit, in der Schule, Uni oder im Supermarkt Leute anzustecken, die dann selber wiederum krank arbeiten gehen: Das dürfte die Zukunft mit Sars-CoV-2 sein, wenn sich die Gesetzeslage hinsichtlich Masken- und Testpflicht sowie Verpflichtung zu Home­office, Luftfilteranlagen und hybriden Formaten nicht grundsätzlich ändert. Selbst wenn sich so eine Herdenimmunität herstellen ließe – was angesichts der Mutationsfreude des Virus nicht der Fall zu sein scheint –, wäre das keine gute Idee.

Auch wenn man die Warnungen des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) vor einer möglichen »Killervariante« für übertriebenen Alarmismus hält – die Hoffnung, dass das Virus mit jeder Mutation harmloser wird, ist wissenschaftlich mindestens ebenso unwahrscheinlich. Derzeit sterben hierzulande an (oder mit, wie es heißt) der vermeintlich harmloseren Omikron-Variante pro Tag über 200 Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation geht zudem davon aus, dass zehn bis 20 Prozent der Menschen, die sich mit Sars-CoV-2 infizieren, mittelfristig nicht wieder vollständig gesund werden, sondern Long Covid bekommen. Das ist kein geringes Risiko. Dennoch bestehen viele nun darauf, man solle zur »Normalität« zurückkehren: Beim Betreten eines Ladens bekommt man gesagt, dass man die Maske ruhig absetzen könne, Leute wollen sich mit ­einem in Kneipen verabreden, und die Zeit nennt junge geimpfte Menschen, denen es schwerfällt, zum status quo ante zurückzukehren, »Höhlenmenschen«.

Ich habe kürzlich eine Karte für ein Konzert wieder verkauft, auf das ich mich eigentlich gefreut hatte. Zwar schreibt die Band auf Instagram: »Kommt bitte nur, wenn ihr symptomfrei usw. seid, ihr wisst!« Aber ohne 2G-Regelung und vorgeschriebenen Schnelltest ist mir das zu heikel. Klar, ich könnte mit Maske hingehen, aber das ist Musik, die dann Spaß macht, wenn man Bier trinken und rumzappeln kann. Wenn ich da nüchtern mit Maske am Rand stehe und die anderen feiern, macht das mehr schlechte Laune als nicht hinzugehen. Das ist das neue Normal für Leute, die sich weiterhin lieber nicht anstecken möchten.

Bei der Zeit ist man aber offenbar der Meinung, dass junge geimpfte Menschen ein psychisches Problem haben, wenn sie nicht bereit dazu sind, sich an den Wochenenden in Bars und Klubs gegenseitig aus nächster Nähe ins Gesicht zu atmen. Auch das Date, das sich zum Erstkontakt in einer Kneipe treffen wollte, war schwer irritiert, als ich antwortete, dass ich das nicht mache. Erst als ich auf den kürzlich überstandenen Krebs hinwies, gab es Verständnis für mein Bedürfnis, weiterhin draußen Spaziergänge zum Kennenlernen zu machen. Und selbstverständlich sage ich den Leuten, mit denen ich vorhabe, mich gegebenenfalls auch nackt oder in Fishnet zu treffen, vorher, dass ich Brustkrebs hatte und eine Brust deswegen ab ist. Seltsame Reaktionen sind im Chat schließlich einfacher zu verkraften als bei einem tatsächlichen Treffen. Aber angenehm ist so etwas trotzdem nicht und ohnehin sollte man sich nicht für sein berechtigtes Bedürfnis, sich möglichst nicht anzustecken, rechtfertigen müssen.

Das Gerede vom milden Verlauf verdeckt, dass man immer noch zu wenig über das Virus weiß. Meine persönliche Sorge hat sich von der Angst vor der Ansteckung an sich zur Furcht vor den Langzeitfolgen verschoben. Neben der akuten Erkrankung und der nötigen Isolation wäre es sehr belastend, darauf zu warten, ob alles wieder weggeht oder nicht doch nach einiger Zeit neue Symptome da­zukommen und nicht wieder weggehen. Die möglichen Symptome von Long Covid erinnern mich an die Nachwirkungen von Krebs­erkrankung, Chemotherapie und Bestrahlung und an die möglichen Nebenwirkungen der andauernden Antihormontherapie: Erschöpfung, Müdigkeit, kognitive Beeinträchtigungen, Schmerzen.

Bislang kann Long Covid nur im Ausschlussverfahren festgestellt werden. Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie bei mir und vielen anderen Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen überhaupt festgestellt werden sollte, was von was kommt. Und selbst wenn es diagnostiziert wird: Die Behandlung ist weiterhin experimentell, Reha- und Therapieplätze sind rar. Viele Betroffene berichten zudem, dass sie nicht ernst genommen würden, dass ihnen Übertreibung oder Hypochondrie vorgeworfen werde. Die Vorstellung, dass womöglich mehr als zehn Prozent der Bevölkerung ­mittelfristig bis dauerhaft mehr oder weniger eingeschränkt sein könnten, ist schließlich unangenehm und mit der Idee, dass alles wieder möglichst wie vorher sein soll, nicht zu vereinbaren. Auftritte wie der von Lindner auf dem Parteitag und Artikel wie der in der Zeit suggerieren das Gleiche: Alles halb so wild, stellt euch nicht so an, husch, an die Arbeit und wieder fleißig konsumieren.